Da ist doch was faul!

Mit dem Gemüse-Abwiegen fing es an. Inzwischen dürfen wir Kunden als Reisekaufleute, Banker, Paketboten und Kellner malochen. Natürlich ohne einen Cent Lohn.

In der schönen neuen Restaurantwelt gibt es nicht viel, was so wäre wie in herkömmlichen Gaststätten. Es beginnt damit, dass wir am Eingang, ganz nach amerikanischem Vorbild, an einer Theke empfangen werden. Doch dort steht niemand, der uns einen Platz zuweist, im Gegenteil. Dort steht jemand, der uns, recht lakonisch, eine Chipkarte in die Hand drückt. Die ist von nun an unser ständiger Begleiter. Dann geht es los: Die Speisen holen wir uns selbst an Kochinseln mitten im Restaurant, an denen alles frisch zubereitet wird. Der Mann am Wok zieht die Karte durch ein Lesegerät, der Betrag ist gespeichert. Getränke gibt es an der Bar: Karte durchziehen, Bier mitnehmen, fertig. Wenn wir nach draußen auf die Terrasse wollen, brauchen wir keine Bedienung zu fragen. Es gibt nämlich keine. Und wenn wir am Ende oft genug an allen Theken gewesen sind und rundum gesättigt, dann nimmt uns die Karte auch noch die letzte Sorge ab: das Trinkgeld. Wir zahlen keines, wem auch und wofür? Einfach die Karte am Ausgang abgegeben und durch einen Schlitz gezogen – schon ist die Rechnung da. Übrigens wäre es jetzt komisch, bar zu bezahlen. Also mit Kreditkarte. Wie lange es wohl dauert, bis einem auch noch dieser letzte Schritt abgenommen wird und der Automat alles selbsttätig abbucht, nachdem er uns am Fingerabdruck oder an der Iris erkannt hat? Wolfgang Thiers Restaurant heißt »Gast«, doch das ist eher als Wortspiel mit dem Namen des Baukomplexes zu verstehen, in dem es liegt: dem Münchner Kulturzentrum Gasteig. Gast im gewohnten Sinne ist man hier jedenfalls nicht, sofern das Wort auf herkömmliche Art verstanden wird: hingehen, sich hinsetzen, sich bedienen lassen, dafür bezahlen, kurzum: passiv sein. Im »Gast« ist das alles anders. Wer sich hier nur hinsetzt, der bekommt niemals etwas zu essen. Geschäftsführer Thier hat folgerichtig überhaupt keine Scheu davor, das Kind beim Namen zu nennen: »Ein Konzept wie das unsere ist nur dadurch zu verwirklichen, dass der Gast mitarbeitet.« »Mitarbeiten«, das ist nun ein Wort, das nicht so recht nach Entspannung und Freizeitspaß klingt. Eher schon nach Küchendienst, Abwasch, innerfamiliärem Gezerre um den gerechten Grad der Lastenverteilung. Vielleicht auch deswegen fällt uns in einem Restaurant wie dem »Gast« so deutlich auf, was sich langsam, aber gewiss verändert hat. An vielen anderen Stellen des Alltagslebens haben wir das Ausmaß oft noch gar nicht richtig bemerkt, in dem kleine Firmen, große Konzerne und nicht zuletzt der Staat inzwischen auf unsere »Mitarbeit« setzen. Die Packstation, an der wir Pakete abholen. Der Tresen, an dem wir den Cappuccino in Empfang nehmen. Das Bahnticket, das wir online kaufen und selbst ausdrucken. Die Geldscheine, die wir aus dem Bankautomaten ziehen, die Haare, die wir selbst föhnen, das eigenhändig abgewogene Obst, die Songs, die wir uns aus einem Mp3-Shop im Internet herunterladen. Und dann auch noch die Steuererklärung, die wir – unser kleiner Service ans Finanzamt – schon zu Hause in eine digitale Form bringen und der Behörde online in ihre Computer schicken, damit man sich dort nicht mehr die mühselige Schreibarbeit machen muss: Wer erst einmal anfängt, sich darüber Gedanken zu machen, wo und bei wem er mittlerweile überall mithilft, der findet so schnell kein Ende. Vielleicht also fängt man besser gar nicht erst damit an und lauscht lieber den säuselnden Tönen, in denen die PR-Strategen unsere neue Eigenständigkeit schildern. Die nimmt, wenn man nur richtig zuhört, geradezu emanzipatorische Ausmaße an und ist letztlich nur mit Epoche machenden Begriffen wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf eine Stufe zu stellen. »Unser Rezept ist: Selbstbestimmung für den Gast«, so formuliert das Restaurantmanager Thier. »Damit sind Sie jederzeit flexibel«, so wirbt die Bahn für ihr Onlineticket. »Rund um die Uhr« problemlose Zimmerbuchung verspricht die Hotelkette »Formule 1«, die praktisch den kompletten Hotelbetrieb, so weit es nur irgend geht, auf automatisierte Verfahren umgestellt hat, darunter auch den Nachtportier: »Durch die Vorauszahlung an unserem Check-In Point erhalten Sie – auch außerhalb der Öffnungszeiten der Rezeption – einen Zugangscode zu Ihrem Zimmer.« Und welches Kreditinstitut nutzt nicht die großartige Gelegenheit, für seine Onlinebanking-Angebote mit dem hohen Gut der »Unabhängigkeit« zu werben? Und wenn man von all der neu gewonnenen Freiheit und Selbstbestimmung, die einen nun als Kunde im 21. Jahrhundert umschmeichelt, die Überdosis Pathos und PR wegschneidet, dann bleibt ja durchaus einiges übrig. Unter den Millionen, die ihre Bankgeschäfte inzwischen online erledigen, gibt es vermutlich kaum jemanden, der es nicht dann und wann als befreiend empfunden hätte, nicht mehr im engen Korsett von Bankschalter-Öffnungszeiten zu stecken. Auch wer seine Flüge online bucht und mittlerweile sogar im Internet eincheckt, der wird es als Vorteil sehen, wenn er sich nicht zuerst von einer schlecht informierten Reisebürofachkraft abfertigen lassen muss, um später in der langen Schlange am Check-in-Schalter den Kampf um Gang-, Mittel- und Fensterplätze aufzunehmen. Andererseits ist es auch wahr, dass gerade die privatisierten Staatsbetriebe wie Post, Bahn und Telekom lange Jahre dadurch aufgefallen sind, dass ihr Service immer schlechter wurde. Durch neue Methoden und unsere – wohlgemerkt kostenlose – Hilfe stellen sie überhaupt erst wieder einen Zustand her, der das Etikett Service verdient. Hinter all diesen Beispielen und den neuen Formen unserer Mitarbeit steckt dasselbe Prinzip: Die Grenzen zwischen Unternehmen hier und Kunde dort haben sich verlagert, die Schnittstelle, an der beide aufeinander treffen, hat sich verschoben, und zwar in den Betrieb hinein. Das klingt abstrakt, ist aber leicht zu verstehen: Wir als Kunden übernehmen von Firmen bestimmte Unternehmensaufgaben, die diese bisher selbst erledigt haben.

Wir verbinden uns beim Anruf selbst (»wünschen Sie nähere Informationen zu xyz, dann drücken Sie bitte die Taste 3«). Wir durchforsten beim CD- oder Bücherkauf selbst den Katalog der lieferbaren Werke bei Onlinehändlern wie amazon.com. Wir stellen uns sogar bei Herstellern wie Dell oder Apple unseren neuen Computer im Internet aus einzelnen Bauteilen zusammen. Mal ärgern wir uns, zum Beispiel über kafkaesk anmutende Callcenter. Manchmal freuen wir uns, wenn wir ein Buch finden, an das wir im normalen Geschäft nie gekommen wären. Immer aber arbeiten wir mit. Und meistens auch noch gern, ohne es überhaupt zu merken. Ohne das Internet wäre das niemals so schnell passiert. So wie das Netz die Wissens- und Informationsübermittlung revolutionierte, hat es auch die Beziehung zwischen Erzeuger und Verbraucher grundlegend verändert. Durch das Internet hängen wir, die Kunden, praktisch direkt an den Datenverarbeitungssystemen der Konzerne, mit so nahem Zugriff, wie es das Unternehmen eben will. Letztlich macht uns das mittlerweile alle zu Außendienstmitarbeitern an Telearbeitsplätzen. Das mag vielleicht übertrieben klingen, ist es aber nicht. Von einem »Outsourcing auf den Kunden« spricht der Arbeitssoziologe G. Günter Voß und davon, dass das alte Prinzip der Selbstbedienung durch die neuen Techniken »eine völlig neue Qualität bekommen hat«. Denn neu ist es ja in der Tat eigentlich nicht, dass in manchen Bereichen des Wirtschaftslebens darauf gesetzt wird, dass der Kunde sich selbst bedient. Seit der »Piggly Wiggly Store« im amerikanischen Memphis im Jahr 1916 das Prinzip der Selbstbedienung in den Lebensmittelhandel einführte, sind die zentralen Elemente des Supermarkts bekannt: ein Drehkreuz am Eingang, Regale mit direktem Kundenzugriff, eine Kasse am Ausgang. Es war, darauf weist Voß hin, auch damals eine technische Neuerung, die den neuen Ladentypus entstehen ließ: der Umstieg von offener auf fertig abgepackte Ware. Ohne Letzteres wären Supermärkte nicht denkbar. In den USA verlief deren Siegeszug rasch, in Deutschland dagegen zog er sich bis weit in die Nachkriegszeit hin, unter heftigen Geburtswehen. Die Aufrufe, Tante Emma und ihren Laden zu retten, weckten viele Emotionen und blieben doch vergebens. Seitdem hat sich die Mithilfe von Kunden im Wirtschaftsleben zwar in manchen Bereichen nahezu vollständig durchgesetzt, etwa an Tankstellen. Auch der Triumph von Ikea mit seinen Möbeln zum Selbstaufbauen oder des Burger-Restaurants McDonald’s mit der Selbstbedienungstheke verlief fulminant – und doch: Noch heute gelten Ikea und McDonald’s, obwohl sie als Industriegiganten seit Jahrzehnten fest etabliert sind, als irgendwie »anders«, als etwas skurrile und zugleich billige Alternative zu dem Auftritt, den ein Möbelhaus oder ein Restaurant üblicherweise zu haben pflegen. Während beide Unternehmen mit viel Einsatz und Aufwand versuchen, sich diesen exotischen Status zu erhalten, der sie von der Konkurrenz abhebt, gehen andere Unternehmen beim Einspannen der Kunden schon wesentlich weiter. Große Internetkonzerne wie der Buchhändler Amazon oder das Auktionshaus Ebay machen die Konsumenten mittlerweile auch ganz offiziell zu Mitarbeitern, lassen sie auf ihren Plattformen eigene Shops errichten, setzen sie für interne Controlling- und Marketingaktionen mit ein, etwa durch ihre Bewertungssysteme, und veranstalten sogar Aktionen zur, fast hätte man gesagt: innerbetrieblichen, Weiterbildung. In der »Ebay University« beispielsweise werden den Kunden des Unternehmens in Seminaren Verkaufsstrategien, Instrumente der Kundenbindung und der Aufbau einer Corporate Identity beigebracht. Fast schon logisch, dass man auf diesem Weg als Kunde inzwischen auch hierarchische Stufen nehmen darf und »Geprüftes Mitglied« werden kann oder »Powerseller«. Sogar einem unternehmensinternen Ethikkodex unterwirft man sich als Ebay-Mitglied – hat man Vergleichbares je von Tante Emma gehört? Ebay ist vielleicht das am weitesten fortgeschrittene Unternehmen, was die Aufhebung der Grenzen zwischen Mitarbeiter und Kunde betrifft. Aber es gibt, bis weit hinein in den Mittelstand, kaum noch einen Wirtschaftszweig, in dem nicht ähnlich gedacht und gearbeitet wird. Aus den Kunden ans Unternehmen gebundene »Communities« zu machen, die sich als Teil von etwas Größerem fühlen, Privilegien besitzen und eigene Kundenkarten – von denen ist es nicht mehr weit bis zu »Mitarbeiterausweisen« –, Feedback geben, Vorschläge machen, Ideen liefern so wie beim etwas angestaubten innerbetrieblichen Vorschlagswesen herkömmlicher Natur – diesem Ziel dienen all die Onlineforen, Mailingaktionen und Spezialeinladungen, mit denen wir bis an die Grenze des Erträglichen überhäuft werden. Was unterscheidet einen dann eigentlich noch von einem herkömmlichen Unternehmensmitarbeiter? Eine Kleinigkeit: die fehlende Gehaltsabrechnung. Und selbst die wird vielleicht noch irgendwann kommen. Finanzielle Vergünstigungen kann der mitarbeitende Kunde bereits heute an vielen Stellen erhalten und es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis die Finanzämter erkennen, was sie hier an geldwerten Vorteilen abschöpfen können.

Wer sich in dem Restaurant »Gast«, dem Unternehmenskonzept folgend, den Teller Spaghetti selbst holt, erhält ihn um 12,5 Prozent, also 57 Cent, billiger, als wenn er ihn sich per Sonderservice an den Tisch bringen lassen würde (die Möglichkeit dazu bietet Geschäftsführer Thier für SB-Verweigerer weiterhin an). Sind diese 12,5 Prozent nicht vielleicht als honorarähnliche Zahlung zu bewerten, für die ich ja eine Leistung erbringe, als eine Art freier Mitarbeiter? Bin ich am Ende vielleicht heute schon verpflichtet, die 57 Cent in meiner Einkommensteuererklärung aufscheinen zu lassen? Und zwar in der Anlage GSE für Einkünfte aus gewerblicher und selbstständiger Arbeit? Sicher jedenfalls ist, dass der mitarbeitende Kunde nicht nur sich selbst und seinem Geldbeutel Gutes tut. Sondern auch seinem, sagen wir einmal, Arbeit-Geber. Bei Restaurantmanager Wolfgang Thier macht sich das so bemerkbar, dass der Anteil der Personalkosten an den Gesamtausgaben bis zu einem Zehntel unter den in den Gastronomie üblichen 35 bis 40 Prozent liegt. Das Konzept zahlt sich aus. Vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade in Deutschland, dem Land mit der ewigen Personalkostendiskussion, die Unternehmerschaft besonders aufgeschlossen gegenüber solchen Modellen ist. Wohin das künftig führt, weiß niemand so genau – klar ist nur, dass allein das Tempo, in dem sich das Gefüge zwischen Verbraucher und Hersteller in den letzten zehn Jahren verändert hat, einiges erahnen lässt. »Der Konsument ist viel mächtiger geworden«, sagt Tobias Kollmann, der vor Jahren die Kfz-Verkaufsplattform autoscout24.de gegründet hat und nun Professor für E-Business ist. Denn als De-facto-Mitarbeiter entscheidet der Kunde natürlich ganz anders im Unternehmen mit, bestimmt mit, was, wie und vielleicht auch wo zu welchem Preis produziert wird. Schon heute ist es üblich geworden, dass Softwareanwender die Neuentwicklungen maßgeblich mitprägen – dadurch, dass sie als so genannte Beta-Tester Vorabver-sionen begutachten und Änderungsvorschläge machen. Es gibt ganze Software-pakete, die von ihren Anwendern geschrieben werden (»Open Source« heißt dieses Prinzip), und nicht zuletzt gibt es die von ihren Nutzern selbst verfasste Online-Enzyklopädie Wikipedia. Kein Wunder, dass sich auch bei Tante Emmas Nachfahren einiges tut: Die Branche experimentiert mit RFID-Chips (Radio Frequency Identification), kleinen Sendern, die künftig an jedem Joghurtbecher kleben. Die funken ihre Daten beim Ausgang in den Kassencomputer: schlechte Zeiten für den Berufsstand der Kassiererin, Zeitgewinn für uns – und ungeahnte Kontrollmöglichkeiten für den Ladenbesitzer. Schon heute kann man im unscheinbaren Münchner Stadtteil Laim einen Vorgeschmack bekommen: Dort gibt es einen Supermarkt, in dem die Einkaufswagen einen Strichcodescanner eingebaut haben, so wie sonst die Registrierkassen. Der Kunde arbeitet wieder einmal mit: Er zieht die Waren an dem Scannerlichtstrahl vorbei, die Elektronik im Wagen merkt sich alles und an der Kasse nennt er nur noch seine Codenummer und bekommt sofort die Rechnung. Entlohnt wird er für die Zusatzarbeit übrigens nicht. Vielleicht kommt einmal die Zeit, in der wir Mitarbeiter uns unser Geld erkämpfen. Und sei es durch einen Streik.