Gleich am Eingang sitzt auf einer Bank ein Verbrecher. Ervin, 67. Jahrelang war er im Gefängnis, weil er auch mal ausrastet und zuschlägt und weil er seinen Bruder, einen Ausbrecherkönig, vor der Polizei versteckte. Ervin blinzelt in der Sonne und blickt hinab ins Tal, wo sich der Ort Brixen erstreckt. »Mein Stammplatz«, sagt er und steckt sich eine Zigarette an. Der Stumpf seines linken Beins liegt wie immer ausgestreckt auf einem Kissen auf der Bank. Der Fuß musste als Spätfolge eines Motorradunfalls vor einem Jahr amputiert werden, da war Ervin noch im Gefängnis. Als er kurze Zeit später entlassen wurde, kam er hierher, ins »Haus der Solidarität« in Südtirol – woanders wollte ihn niemand mehr haben. Mit Gewalt hat er nichts mehr zu tun, aber ein anderes Problem ist geblieben: der Alkohol. Sitzt Ervin auf der Bank vor dem Haus, ist er für die Bewohner des Hauses ein beruhigender Anblick. Schließt er sich aber in seinem Zimmer ein, machen sie sich Sorgen. Dann fängt er wieder an zu trinken, aus dem ersten Schluck werden schnell fünf, sechs Bier. Um nichts anzurichten, zieht er sich zurück, legt sich ins Bett.
Vierzig, fünfzig Menschen leben in dem Haus. Diebe und Mörder, Obdachlose und Arbeitslose, Suchtkranke und Flüchtlinge. Unbeaufsichtigt, nur am Tag betreut von drei Mitarbeitern, einer Sozialarbeiterin und zwei Quereinsteigern ohne soziale Ausbildung. Das kann nicht gut gehen, sagten viele Anwohner, als die ersten Menschen einzogen, und waren froh, dass das Haus außerhalb liegt. Sie irrten. In Brixen ist ein erstaunliches soziales Experiment gelungen.
Einige Entwicklungshelfer haben das Haus vor 13 Jahren gegründet. Das Haus stellte ihnen ein Missionarsorden zur Verfügung, früher war es ein Internat. Anfangs siedelten sich soziale Initiativen an: Projekte für Entwicklungshilfe, Fair-Trade-Gesellschaften, Altenpfleger, ein Straßenmagazin, viele haben ihre Büros bis heute im Haus. Weil noch Platz war, beschlossen sie, Menschen unterzubringen, die nirgendwo hinkonnten, Bedürftige und frühere Kriminelle. Luzi Lintner, die Hauptgründerin, gestand diesen mehr Verantwortung zu, als jede Behörde es gewagt hätte. Ihre Tür war nie abgeschlossen. Wenn Geld fehlte, war das für sie kein Diebstahl, sondern ein Zeichen, dass die Bewohner etwas brauchten. 2008 ertrank sie, als sie in Bolivien einem Jungen half, über eine Seilbrücke das andere Ufer zu erreichen. Ihr Projekt lebte fort, in Form einer Stiftung.
Es ist ein kühnes Projekt. Für viele Bewohner würden Psychologen eine Einzelbetreuung und Polizisten eine Sicherungsverwahrung empfehlen. Und doch ist es nie zur Katastrophe gekommen. Die Ausgestoßenen leben friedlich zusammen.
Die Bewohner derzeit: zwei Libyer, die nach Monaten im Krieg halb verdurstet in Lampedusa gestrandet sind. Eine Syrerin, die nach den Erfahrungen in ihrer Heimat in Panik ausbricht, sobald sie allein mit einem Mann im Zimmer ist. Eine Italienerin, deren Drogensucht sie ruiniert hat. Ein Schäfer aus der Gegend, der wegen seiner Panikstörung nicht mehr allein leben kann. Und knapp drei Dutzend weiterer schwerer Fälle. Manche bleiben Tage, andere Jahre – je nachdem, wie lange sie brauchen.
Im Inneren des vierstöckigen Hauses, direkt hinter dem Eingang, empfängt den Besucher zuerst der schwarze, nächtliche Sternenhimmel über der afrikanischen Wüste. Ein riesiges Wandgemälde von mehreren Metern Durchmesser, das ein paar afrikanische Flüchtlinge gemalt haben. In den sich schnell verzweigenden Gängen und Treppen dahinter ist alles behängt und tapeziert, Putzpläne neben Graffitikunst, ein Poster von Aretha Franklin neben einem von den Kastelruther Spatzen. Aus der »Oase« im ersten Stock, dem größten Wohnzimmer des Hauses, tönen Gesprächsfetzen, eine Südtirolerin und zwei Syrerinnen versuchen, sich zu verständigen. Sofas und Sessel in allen Farben stehen da, alte, oft beschädigte Möbel, die man geschenkt bekommen hat. Zwischen alledem die 33 Zimmer der Bewohner.
Anklopfen im vierten Stock. Ein Mann im Trainingsanzug öffnet die Tür. Hans, 56, lebt hier mit seiner Frau. Auf der Couch liegt eine Wohndecke, Schrank, Bett, Regale, alles da. Als die beiden vor ein paar Monaten einzogen, war Hans am Ende. Er litt unter Panikstörungen. Im Haus betraute man ihn mit einer einfachen Aufgabe: der Überwachung der Mülltrennung. Um die scherten sich die meisten Flüchtlinge wenig. Immer wieder erklärte Hans es ihnen, sie nickten und warfen weiter alles in einen Sack. Als Hans sich mal wieder aufregte, brach er zusammen, Herzinfarkt. Einer der Afrikaner fand ihn. Sofort begann er mit einem Südtiroler aus dem Haus die Wiederbelebung, 100-mal drücken, zehnmal beatmen. Sie hörten erst auf, als der Krankenwagen eintraf. Ohne ihre Hilfe wäre Hans wohl tot.
Alle kamen Hans im Krankenhaus besuchen: seine Frau, die Flüchtlinge, die sich immer wieder bei ihm entschuldigten, die anderen Bewohner. Als Hans nach Hause kam, wartete Ervin vor der Tür mit seinem Akkordeon und spielte ein Ständchen.
Hans sitzt mit seiner Frau auf dem Sofa, als er die Geschichte erzählt, er hält sie in seinem Arm. Seine Panikattacken sind seltener geworden. »Mir ist klar, dass ich Teil einer Gemeinschaft geworden bin, die es mir manchmal zwar arg schwer macht, aber mich eben auch auffängt.« Und die Mülltrennung? Er grinst. »Die funktioniert jetzt viel besser.«
Karl Pizzinini, 74, schlank, wache Augen, graue Haare, kam Hans besonders oft besuchen. Der ehemalige Pastor arbeitet als Seelsorger in der Klinik. Sein Raum im ersten Stock ist kleiner als der von Hans, an der Wand hängen ein großes Jesuskreuz und Bilder seiner Frau. Seit 13 Jahren ist das Zimmerchen sein Zuhause. Pizzinini lebt am längsten hier, seit dem ersten Tag. Seine Frau hatte das Haus mitgegründet, aber sie starb, noch bevor es eröffnet wurde, an Krebs. Erst wollte Karl Pizzinini in Gedenken an sie nur für ein paar Monate einziehen, dann blieb er und blieb. Gegen die Einsamkeit gibt es für ihn keinen besseren Ort. Er hat alle der mittlerweile 1500 Mitbewohner miterlebt. »Die meisten Menschen sind bei ihrer Ankunft ganz unten.«
Die Soziologin Julia Hahmann von der Universität Vechta hat sich mit dem Projekt befasst und meint, Länder, Kulturen, Sprachen, Alter, Probleme, all das könne unterschiedlicher kaum sein. »Aber sie sind alle in einer Notsituation, sie haben eine gemeinsame Erfahrung der Andersartigkeit«, sagt sie. Ihnen fehle es an Anerkennung und Geborgenheit. »Diese Wertschätzung braucht der Mensch aber, um seine Identität zu bewahren.« Das »Haus der Solidarität« gibt ihnen zurück, was sie verloren haben, es ist ein geschützter Raum, in der sie Anerkennung erfahren.
Das fängt mit dem Einzug an: Die Bewohner werden aufgenommen, nicht obwohl, sondern weil sie Probleme haben. »Die Bedürftigkeit ist das wichtigste Auswahlkriterium. Nur wenn es niemanden gibt, der dem Menschen auf die Beine helfen kann, nehmen wir ihn auf«, sagt Alexander Nitz, einer der drei Mitarbeiter im Haus, ein Quereinsteiger, vorher war er in der PR-Branche. Außerdem, sagt er, müsse die Mischung stimmen. Wenn bereits vier, fünf Alkoholkranke da seien, weise man weitere zugunsten anderer Bedürftiger ab. Das Haus kann nicht alle aufnehmen: Zwei von drei Menschen werden abgelehnt.
Wer es hinein schafft, muss sich zwei Regeln unterwerfen. Nummer eins: Jeder muss etwas tun. Man hat eine Währung eingeführt, die »Solidarios«. Eine Stunde Arbeit wie putzen, kochen oder einkaufen bringt einen Solidario. Hier zu wohnen kostet normalerweise zehn Solidarios plus rund 200 Euro Miete pro Monat, auf die man nur in Härtefällen verzichtet.
Regel Nummer zwei: keine Gewalt.
Die Bewohner lernen durch die Verpflichtungen, ihren Alltag zu strukturieren. Sie müssen beim Zusammenarbeiten auf andere eingehen. Gerade Kriminelle, sagen Sozialarbeiter, erlangen so verlorenes Mitgefühl zurück. Dazu bekommen sie Werte vermittelt, Solidarität, Altruismus. Das Leben im Haus ist ein Crashkurs für das in der Gesellschaft.
Regel Nummer zwei: keine Gewalt. Vergangenes Jahr gab es eine Auseinandersetzung, zwei Bewohner warfen sich gegenseitig vor, zu wenig zu arbeiten. Der eine biss dem anderen in den Finger und landete nach dessen Rache im Krankenhaus. Beide mussten ausziehen. Nur vier solcher Vorfälle gab es seit Bestehen des Hauses, nie war es lebensbedrohlich.
Das Büro der Hausleitung liegt im ersten Stock. Am Schreibtisch sitzt Petra Erlacher, sie ist Ärztin und hat mit ihrem Mann einige Jahre im Haus gelebt, um den Menschen zu helfen. Heute ist sie ehrenamtliche Vorsitzende der Sozialgenossenschaft, unterstützt die drei Angestellten Alexander Nitz, Karl Leiter und Miriam Zenorini, die einzige Sozialarbeiterin. An der Wand hinter Petra Erlacher hängt eine Weltkarte mit Hunderten Nadeln, die Herkunftsorte aller, die im Haus gelebt haben. »Die Probleme der Welt sind bei uns zu Gast«, sagt sie.
Natürlich gibt es in anderen Städten auch Projekte, bei denen Menschen mit Problemen zusammenleben, aber dort geht es immer um bestimmte Gruppen, kriminelle Jugendliche etwa. Im »Haus der Solidarität« dagegen ist das Spektrum breit. Das macht es komplizierter.
Nachts und am Wochenende sind die Bewohner sich selbst überlassen. »Für manche, die sich ihr halbes Leben lang nicht an Regeln gehalten haben, wäre das die Chance, rückfällig zu werden«, sagt Erlacher. Doch das passiere selten.
Wenn die Polizei ins Haus der Solidarität kommt, dann nicht, um jemanden abzuholen, sondern um jemanden loszuwerden: »Es klingt absurd, aber dieses Haus mit all den Menschen am Abgrund hat offenbar eine positive Wirkung auf diejenigen, die kriminell waren oder kurz davor stehen, es zu werden«, sagt Egon Bernabè von der Gemeindepolizei.
Woran das liegt? Petra Erlacher denkt einige Sekunden nach. »Wichtig ist,
dass wir versuchen, unseren Bewohnern Arbeitsplätze zu vermitteln. Am Anfang war das schwierig, inzwischen wissen Firmen in der Region, dass sie hier zu-verlässige und engagierte Menschen bekommen können. Viele, die ausziehen, haben eine Perspektive auf einen Platz in der Gesellschaft.«
Die Mitarbeiter kennen viele Unternehmer persönlich, wer jeman-den sucht, meldet sich. Überhaupt ist man im Haus ziemlich unbürokratisch, was sich schon daran zeigt, dass jeder so lange bleiben kann, wie es seine Situation verlangt. Möglich ist das, weil das Haus, um unabhängig zu bleiben, von privaten Spenden lebt und keine Fördergelder von der Stadt, dem Staat oder der EU angenommen hat. »Wir haben keinen Erfolgsdruck, den wir an unsere Bewohner weiterreichen müssten«, sagt Alexander Nitz.
Das stärkt die Eigenverantwortung. »Solche Menschen bekommen das Gefühl, nicht auf Almosen angewiesen zu sein, sondern selbst etwas zu leisten«, sagt Stefan Selke, Soziologe an der Hochschule für Angewandte Gesundheitswissenschaften in Furtwangen. Auch das lässt sich kaum kopieren: »Selbst eine Hilfsorganisation hat Eigeninteresse, es würde Bürokratie und Standardisierung geben, was die zum Erfolg notwendige Autonomie der Bewohner einschränkt.« In Brixen sucht sich jeder seinen eigenen Weg.
Samuel, der neben Hans im Dachgeschoss wohnt, ist sich sicher, nächstes Jahr einen Job zu bekommen. Der 29-jährige Ghanaer hat vor anderthalb Jahren seine Heimat verlassen und ist über Burkina Faso, Niger, Tschad, Libyen und Lampedusa ins »Haus der Solidarität« gekommen. Er kümmert sich um den Garten, erntet Tomaten, Kohl und Salat, eine Referenz, um einmal bei einem Bauern in der Region auf Probe arbeiten zu dürfen. Samuel lebt in einem Raum mit Ibrahim von der Elfenbeinküste, der bei einer Waldarbeiterfirma angestellt ist. »Ich sehe an Ibrahim, ich kann eine Arbeit finden«, sagt Samuel. Wer schon länger im Haus ist, lebt den Neuen vor, dass man auf die Beine kommen kann. Vermeintliche Versager begreifen, dass sie nicht endgültig versagt haben.
Mittagessen im Speisesaal, der mit seinen langen Tischen an eine Kantine erinnert. Fahin aus dem Irak hat gekocht, für mehr als dreißig Leute, es gibt Kaschki, Getreidebrei mit Fleisch. Wer zwei Wochen lang jeden Tag hier isst, macht eine kulinarische Weltreise: Acht bis zehn Bewohner im Haus sind für das Essen verantwortlich. In das Geschirrklappern mischen sich Gesprächsfetzen, es geht um Brixen, das Wetter, den Putzplan, Probleme und Hoffnungen.
Der Alkohol, sagt Ervin, der Mann vom Eingang, habe sein Leben zerstört. Erst seit er hier ist, hat er ein Gefühl wiedergefunden, das ihm Kraft gibt: Er hat etwas zu verlieren. Er ist eine Säule der Gemeinschaft geworden. Wenn Ibrahim morgens zu seinem Job als Waldarbeiter aufbricht, winkt Ervin ihm hinterher, wenn er nachmittags zurückkehrt, begrüßen sich die beiden mit Handschlag. Im Grunde ist das mehr, als einer wie Ervin sich erhoffen konnte. Er will das Haus gar nicht mehr verlassen.
Andere gehen in die Gesellschaft zurück, ein paar Tage nach unserem Besuch sind Hans und seine Frau in ein eigenes Haus gezogen, Panikstörungen hat er fast keine mehr. Und wiederum andere gehen und kommen zurück.
Sarshin, eine 28 Jahre alte irakische Kurdin mit langen schwarzen Haaren sitzt an einem Computer in einem Aufent-haltsraum im zweiten Stock. Sie hat einige Monate hier gewohnt, nun ist sie für ein Praktikum wieder hier, um die Internetseite des Hauses weiterzuentwickeln. Wie Samuel, der Afrikaner, überquerte auch Sarshin das Mittelmeer in einem Seelenverkäufer. Zwei Jahre ist es her, da schaffte sie es mit ihrem Mann im türkischen Izmir an Bord eines Flüchtlingskahns, 1000 Kilometer weiter, in Süditalien, stiegen sie wieder aus. Als die beiden europäischen Boden betraten, hatten sie keine Kraft mehr zum Jubeln. Sie sahen sich nur an und teilten stumme Hoffnung. Als politisch Verfolgte im Irak hatte man Sarshins Mann gefoltert und ihr mit dem Tode gedroht, nun hatten sie es endlich ins Land der Menschenrechte und Gerechtigkeit geschafft.
Man verschob sie von einem Flüchtlingslager ins andere, bald hatten sie genug davon und reisten eigenmächtig nach Paris, wo man sie aufgriff und mehrere Tage ins Gefängnis sperrte. Das »Haus der Solidarität« über Brixen war das Ende ihrer Odyssee.
Im Irak hatte Sarshin für das Radio gearbeitet, in Südtirol fing sie in einer Wurstfabrik an. Nebenher hat sie sich beigebracht, Webseiten zu gestalten. Als sie sich um Praktikumsstellen bewarb, war Alexander Nitz der Einzige, der ihr eine positive Antwort schickte.
Bald aber wird hier alles anders. Der Missionarsorden braucht das Haus wieder, und so ziehen die Bewohner im nächsten Jahr in ein Gebäude am Stadtrand. »Statt sie endlich loszuwerden, holt man die Aussätzigen in den Ort«, schimpft ein Brixener auf der Straße. Aber es scheint, als hätten sich die meisten Menschen in der Region mit dem Projekt angefreundet. 400 000 Euro haben sie für den Umzug gespendet. Für Umzug und Renovierung hat die Stiftung eine Million Euro veranschlagt, das fehlende Geld muss eben durch helfende Hände und Sachspenden ausgeglichen werden. »Alle Bewohner helfen mit, auch zahlreiche Handwerker und Betriebe haben uns ihre kostenlose Unterstützung zugesagt«, sagt Alexander Nitz.
Ervin hat bereits verlautbaren lassen, dass er auch nach dem Umzug in der Gemeinschaft bleiben will. Und Karl Pizzinini, der Witwer vom ersten Stock, wollte eigentlich nach seinem 70. Geburtstag vor vier Jahren ausziehen, neun Jahre war er da schon im Haus. Dann hat ein iranischer Flüchtling bei der Feier eine Rede auf ihn gehalten: »Meinen eigenen Vater werde ich wohl nie wiedersehen. Aber ich habe in Karl einen neuen gefunden.« Da ist Pizzinini geblieben.
Fotos: Daniel Delang