Gloria hat sich in den Kopf gesetzt, mir das Singen beizubringen. Summertime, and the livin’ is easy, trällert sie, tonfest, aber mit dünnem Stimmchen. Sie war mal Opernsängerin, hat an der Met gesungen, aber das war, ehe ihr Mann sie so würgte, dass ihr Kehlkopf zerdrückt wurde.
Gloria will sich mit den Gesangsstunden dafür bedanken, dass sie in meiner Garage wohnen darf. Meiner alten, dreckigen, fensterlosen, zugigen Garage, durch deren Dach bei Gewitter der Regen plätschert. Sie heißt in Wahrheit nicht Gloria. Würde ich ihren wahren Vornamen nennen, wäre sie mithilfe des Internets leicht zu identifizieren. Sie hat mir erlaubt, mitsamt dem echten Namen über sie zu schreiben, aber ich glaube, ich muss sie vor sich selbst beschützen.
Ich stimme ein: So hush, little baby, don’t you cry.
Sommer 2016, Malibu. Immer wenn die Sonne ins Meer abtaucht, taucht Gloria auf. Ihr weißer Mini-Van, Toyota Sienna, einige Beulen, aber ansonsten tadellos in Schuss, parkt dann genau da, wo ich mit meinem Hund spazieren gehe, und ich wundere mich, ärgere mich, dass sie ausgerechnet da steht, im Halteverbot. Nie steigt sie aus, immer sitzt sie am Steuer, versunken in den Sonnenuntergang, das Gesicht durchs offene Autofenster in die Sonne gereckt. Ich halte sie für eine Nachbarin, die nach der Arbeit ans Meer fährt, um einen Moment lang allein zu sein.
Nach einigen Wochen beginnen wir, uns zu grüßen, winken, »Hallo, wie geht es dir?«
Eines Tages steht sie vor dem Auto auf der Klippe. »Sind das Haie?!«, ruft sie aufgeregt und deutet auf einen Schwarm grau glänzender Flossen, die durchs Wasser pflügten. »Delfine!«, rufe ich zurück. Sie trägt weiße Sommerjeans, die blonden Locken lose zurückgebunden, die nackten Füße in weißen Sandalen. Der Tag ist mir so gut in Erinnerung, weil es der letzte Tag ist, an dem ich sie in guter Verfassung sehe. Von diesem Tag an geht es bergab. Dem Tag, an dem sie Haie sieht.
Immer öfter finde ich sie nun weinend im Auto, die Augen rot und verquollen. »Was ist los?« – »Geht schon wieder!« Die Ablage ihres Autos füllt sich mit leeren Starbucks-Bechern und zerknitterten Heiligenbildern. Weil ich sie hier nachts nie sehe, wird mir erst langsam klar, dass dieser Van mit dem Behindertenabzeichen ihr Zuhause darstellt. Sie ist obdachlos, eine von einem halben Dutzend ständig wechselnder Gestalten, die abends ihren Wagen bei mir um die Ecke neben dem Pacific Coast Highway in Malibu parken. Jeder in Los Angeles kennt die halb verrosteten Wracks. Oft sitzen darin Frauen, meistens ältere, die von ihrer mickrigen Rente keine Miete bezahlen können. Ich schätze Gloria auf Mitte sechzig. Wenn der Wagen irgendwann nicht mehr funktionieren sollte, wäre ihre nächste Station ein Lager auf dem Beton unter der nächsten Brücke.
Eines Morgens hängt ihr Mini-Van verkehrt herum geparkt am Hang, die Schnauze ragt in den Verkehr. Sie, am Steuer zusammengesunken, sieht aus, als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen. Sie stammelt und ist so verwirrt, dass sie sich an ihren Nachnamen nicht mehr erinnert. Die Batterie ist leer, ihre und die ihres Autos auch.
Ich rufe den Pannendienst. Aber erst quetsche ich mich in ihren Wagen, ich will versuchen, den Motor zu starten. Hinter den verdunkelten Scheiben ist er bis zur Decke gefüllt mit alten T-Shirts, Speiseresten. Es stinkt nach Urin und altem Fisch. »Wo schläfst du denn?« Ich hatte angenommen, sie hätte in ihrem Van wenigstens eine Matratze. Sie deutet auf den Fahrersitz, den sie bis zum Anschlag ans Steuer gerückt hat: »Hier.« – »Aber da kannst du dich nicht mal hinlegen.« Ihre Beine sind auf doppelte Breite geschwollen und blau angelaufen.
Dem Mechaniker zeigt sie ihren Führerschein: Sie ist 78 Jahre alt. 78, und sie lebt auf der Straße! Ihr Wagen ist rollstuhlgerecht ausgestattet, mit automatischer Hebebühne. Bis vor einigen Jahren hat sie auch im Rollstuhl gesessen, Folge eines gebrochenen Rückens, wiederum Folge eines Ausrasters ihres bipolaren Ex-Mannes, der sie in einem Anfall von Eifersucht vor den Augen ihrer Kinder die Treppe hinunterwarf. »Aber ich habe meinen ganzen Willen zusammengenommen, um wieder gehen zu lernen.«
Sie hat also Kinder? Ja, zwei, aber die helfen nicht. Mir wird mulmig. Gerade erst gab es drei Tote in unserem Viertel, weil ein Rentner sein Auto in den Gegenverkehr gesteuert hatte. Wenn eine Seniorin ihren Nachnamen nicht mehr buchstabieren kann, sollte sie vermutlich auch ihren Wagen nicht auf die Freeways von Los Angeles steuern. »Ruh dich erst mal aus«, höre ich mich sagen und fahre ihren Van in meine Garage.
Während Gloria in der Garage schläft, wähle ich die Hotline der Obdachlosenhilfe. Da dudelt der Anrufbeantworter, niemand ruft zurück. Unlängst sei eine »Task Force« eingerichtet worden, habe ich in der Lokalzeitung gelesen, mit einer halben Million Dollar Spenden. Da wird man ja wohl Hilfe finden. Ich habe nun eine Oma in meiner Garage, eine reizende Seniorin, nicht irgendeine! Bei einer Schale Brokkolisuppe breitet sie am Nachmittag Puzzle-Stücke aus ihrem Leben aus: Sie stammt aus Arizona, da war sie Schönheitskönigin, später Tänzerin, Sängerin, Yogalehrerin, Managerin eines Bed & Breakfast, erzählt sie. Sie hat ihr Leben lang gearbeitet, nun bekommt sie eine Rente von 875 Dollar im Monat, zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig.
Na, sagt sie, vielleicht hätte ich doch Elvis heiraten sollen. Elvis?
Aus ihrer Aktentasche zieht sie Schwarz-Weiß-Fotos: Gloria, sechzig Jahre jünger. Eine klassische blonde, blauäugige Schönheit. So, genau so sah sie aus, als sie Elvis kennenlernte.
Aus ihrer Familie befreite sie sich, in dem sie den erstbesten attraktiven Kerl heiratete. Er arbeitete in Hollywood bei der William Morris Agency im Mailroom. Colonel Parker, Manager von Elvis Presley, wurde auf den jungen Burschen aufmerksam und schickte ihn zu Elvis, der sich allein im »Beverly Wilshire Hotel« langweilte. Der Mann nahm Gloria mit zu Elvis, es muss um 1956 gewesen sein, und da war es um Elvis geschehen. »Du hast mit diesem Mädchen einen Glücksgriff getan«, sagte Elvis zu ihm. »Ich hätte gern ein Mädchen genau wie sie.«
Als sie sich schlafen legt, recherchiere ich. Ich halte die Elvis-Story für Obdachlosengarn – aber es scheint alles zu stimmen. Ich finde ein altes Interview mit ihrem Ex-Mann, in dem er sagt: »Jedes Mädchen, mit dem Elvis anschließend eine Beziehung hatte, sah Gloria ähnlich. Priscilla war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, genau wie Ginger Alden, seine letzte Geliebte. Gloria war sein Typ.«
Bis heute sieht man, dass sie einmal wunderschön war. Die hohen Wangenknochen, das Lachen, die blonden Locken.
Ich weiß nicht, ob sie mit Elvis glücklicher geworden wäre als mit Ehemann Nummer eins, zwei, drei und vier, aber ich bin mir sicher, dass sie dann die vergangenen fünfeinhalb Jahre nicht nachts auf dem Parkplatz der örtlichen Bibliothek einen Plastikeimer als Toilette hätte benutzen müssen. Da parkte sie ihren Mini-Van neben anderen Obdachlosen, Cracksüchtigen und Gewalttätigen und beschloss, sie könne unmöglich im Rollstuhl sitzen bleiben. »Zu verletzlich«, sagt sie. Einmal ist ihr ein anderer Obdachloser in den Van nachgekrochen. Zweimal wurde sie ausgeraubt.
Ich trommle Freunde zusammen und heuere eine professionelle Putzkraft an. Am nächsten Tag fischen wir aus ihrem Auto: neun Hundebetten, zwölf Decken aus Ramschläden, Dutzende Kaffeebecher, halb volle Thunfischdosen, verschimmelte Bananen, verschmutzte Unterhosen, Klositzschützer, Taschen, Bücher, Briefe, Saftflaschen, Tausende zerknitterte Seiten Notizen und zwei kniehohe Snoopys, die auf Knopfdruck Laura Branigans »Glo-riii-aaa« singen. Danach hat sie immerhin Platz, sich auszustrecken.
Nie zuvor war mir klar, dass Obdachlose auch zu viel haben können: zu viele falsche Wimpern, halb volle Flaschen Nagellack in Trendfarben, abgeschabte Chanel-Handtaschen, die die wohlhabenden Hausfrauen von Malibu in die Spendenbox entsorgt haben. Was fehlt: Hilfe, Zuneigung, eine Wohnung.
Die Hundebetten sind übrigens nicht für Hunde da, Gloria hat keine. Sie hat die Kunst perfektioniert, sich unsichtbar zu machen. In den langen Nächten auf dem Parkplatz deckte Gloria sich so geschickt mit den umgedrehten Betten ein, dass jemand, der mit einer Lampe ins Auto leuchtete, kein Gesicht sah.
Auf den Zetteln, gelb, liniert, notiert sie Fetzen aus ihrem Leben. Das blau gestrichene Strandhaus am Pazifik, in dem sie wohnte. Die antiken, brandroten Mercedes-Cabrios, die sie in ihrer Drei-Millionen-Dollar-Villa in Beverly Hills sammelte. Die Zeit in Indien, in der sie in einem Ashram das Meditieren lernte. Sie träumt davon, dass das Geld aus ihren Memoiren für eine Villa in Malibu reichen könnte.
Nach zehn Tagen fällt mir das erste Mal auf, dass ich sie in meinem Bad nie mit Zahnbürste sehe. »Sag mal, hast du keine Zahnbürste?« Doch, irgendwo im Van. Wir nennen den weißen Van inzwischen nur »das schwarze Loch«. Unglaublich, was da drin alles verschwindet. Sie hat sich also seit Wochen die Zähne nicht geputzt, ist aber zu stolz, was zu sagen.
Wenn ich sie frage, was sie braucht, winkt sie ab. Ich kaufe ihr Windeleinlagen für Senioren, beim nächsten gemeinsamen Shoppen erwische ich sie mit Babywindeln, später mit Hundewelpen-Pads, was natürlich beides für einen Erwachsenen-Popo unnütz ist.
Gloria gewöhnt sich schnell an meine Kochkünste. Am liebsten mag sie gegrillten Lachs und Garnelen. Edles Essen. Im Supermarkt will sie die Kokos-Shrimps für zwölf Dollar das Pfund. Ihr Lächeln wäre mir das Doppelte wert.
Manchmal führt sie mir die Kleider vor, die sie in Billigläden aus der Ramschtruhe gezogen hat. Ihr Lieblings-Outfit ist ein weinrotes, eng anliegendes Cocktail-Kleid mit tiefem Ausschnitt. »Na«, scherze ich, »wenn du dich so auf die Straße stellst, findest du schon einen, der dich mitnimmt.«
Soll ich sie einziehen lassen? So richtig? Also nicht nur tagsüber meine Wohnung und mein Badezimmer mit ihr teilen, sondern auch nachts? Ihr ein Bett aufstellen, damit sie, wenn sie nachts fünf Mal aufstehen muss, endlich diesen ekligen Plastikeimer wegwerfen kann, in den sie in ihrem Van pinkelt? Würde sie jemals wieder ausziehen? Sie hat Angst vor meinem Hund und sagt, sie schaffe es nicht schnell genug ins Bad, deshalb wolle sie in ihrem geliebten Van bleiben, das nimmt mir die Entscheidung ab.
Aber andere Entscheidungen treffe ich. Entscheidungen über das Leben eines wildfremden Menschen, die eigentlich nur Angehörige treffen. Ich suche Ärzte, die ihre Medicaid-Karte akzeptieren, stelle Anträge auf Essensmarken. Selbst wenn wir nur zu einem Arztbesuch aufbrechen, besteht Gloria darauf, einen Rollkoffer mitzuziehen, mindestens zwei alternative Outfits auf Kleiderbügeln und einige Inkontinenz-Pads, die sie wie Kostbarkeiten auf ihren Händen balanciert. Ein Arzt diagnostiziert einen schlecht verheilten Hüftbruch, Läsionen in der Wirbelsäule, Demenz.
Als sie zum dritten Mal ihr Scheckbuch verliert, nehme ich ihre Schecks und ihre Post an mich. Ich bin ein Vormund, den niemand bestellt hat. Endlich ruft die Sozialarbeiterin von der Obdachlosenhilfe zurück. Sie ist nett, hat aber keine Ahnung. Außerdem kümmert sie sich mit nur einem Kollegen um 161 Obdachlose. Das macht, abzüglich der Zeit, die der Bürokratie-Wahnsinn frisst, zehn Minuten pro Kunde pro Woche. Gloria allein ist ein Halbtagsjob.
Die Obdachlosenrate steigt steil nach oben. 88 000 sind es allein in Los Angeles. Ein Drittel sind Frauen. Viele Obdachlosenhilfen kümmern sich vor allem um die jungen Arbeitswilligen, die mit etwas Unterstützung die Kurve in ein bürgerliches Leben kriegen. Frauen wie Gloria fallen durch alle Raster: zu schwach, um stundenlang für Essensmarken Schlange zu stehen; zu traumatisiert, um sich in eines der Obdachlosenheime zu wagen, in denen Vergewaltigungen, Diebstahl und Gewalt Alltag sind – und selbst wenn sie wollte: Es gibt vier Mal so viele Obdachlose wie Betten; zu schüchtern, etwas einzufordern. Und auch zu stolz. Meinen Vorschlag, für sie ein Spendenkonto einzurichten, lehnt sie entrüstet ab. Sie glaubt, keiner könnte erkennen, dass sie kein Zuhause hat, solange sie sich die grauen Locken blond färbt und ihre T-Shirts faltenfrei auf Bügeln im Van drapiert.
Statt meine Artikel zu schreiben verbringe ich Tage mit Recherchen für sie: Wie radiere ich die 900 Dollar Strafzettel aus, die Gloria angesammelt hat? Wo kann ich ihre gebrochene Hüfte röntgen lassen? Ich rufe bei Hilfsorganisationen an, spreche mit unzähligen netten Menschen, und alle schicken mich weiter an eine andere Hilfsorganisation, wo ich wieder von vorn anfange. Wenn eine Journalistin mit Rechercheerfahrung und Internetanschluss diesen Bürokratie-Wirrwarr nicht entdröseln kann, wie soll das eine 78-Jährige schaffen, die noch nie einen Computer benutzt hat?
»Sorg dich nicht so«, sagt sie. »Klarheit wird kommen.«
Zu den Höhepunkten unserer Freundschaft zählt unsere gemeinsame Leidenschaft für Musik. Ich nehme sie mit zur Vorpremiere von La La Land, dem Musical mit Emma Stone. »Ich habe ein Date mit Miss Arizona!«, verkünde ich stolz, und es ist mir nur ein bisschen peinlich, dass sie in ihren ausgelatschten Pantoffeln an meinem Arm hängt. Sie strahlt den gesamten Film über, Tränen der Glückseligkeit in den Augen.
Ich gewinne sie lieb, aber sie bringt mich an meine Grenzen. Wenn sie mir morgens, noch vor dem Frühstück, ihre frisch eingenässten Leggings unter die Nase hält, könnte ich kotzen. An den schlimmsten Tagen bittet sie mich, ihren Durchfall wegzukratzen. »Huhu, ich habe ein Booboo gemacht!«, kräht sie wie eine Dreijährige. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Menschen körperlich verletzt, aber Gloria könnte ich erwürgen. Wenn ich wieder einen ganzen Arbeitstag dafür geopfert habe, ihren Van und die Garage aufzuräumen, und sie zwei Tage später verkündet, sie habe »die ganze Nacht gearbeitet«, heißt das, dass sie den Abfall wieder aus der Tonne gezogen hat. Ich verstehe plötzlich, wie Pfleger in einem Altenheim grob werden können.
Aber es gibt ja niemanden sonst, der den Durchfall wegkratzt. An guten Tagen tanzt und singt sie auf meinem Balkon, führt mir das Echo einer Tanzroutine vor, die sie einst am Broadway perfektioniert hatte. An schlechten Tagen wimmert sie vor Schmerzen und kommt nicht aus dem Van. Der Rücken, die Beine, die Gelenke, die Hüfte. Schmerzmittel will sie keine, die verträgt sie angeblich nicht.
Für meine eigene Großmutter, meine Lieblingsoma, war ich nicht da, als sie mich in ihren letzten beiden Lebensjahren brauchte. Ich moderierte eine wöchentliche Kultursendung in Köln, 500 Kilometer von ihr entfernt, und schaffte es an den Wochenenden nicht, zu ihr ins bayerische Voralpenland zu düsen. Gloria erinnert mich an meine Oma, mit ihren Pausbäckchen und wie sie mich zart in die Wange kneift. Mit jedem Kniff zwicken mich die Schuldgefühle, meine Oma im Stich gelassen zu haben.
Meine Oma habe ich nie nackt gesehen. Nun lasse ich einer wildfremden Frau heiße Bäder ein und helfe ihr beim Waschen. Ich ziehe ihr die Unterhose herunter, damit ihr der Arzt eine Spritze ins Rückenmark stechen kann. Ich streichle beruhigend ihre nackten Beine, während sie in der Kernspinröhre liegt. Ich kenne mehr intime Details aus ihrem Leben als aus dem Leben meiner Mutter.
Zweimal wischt die Sozialarbeiterin vorbei, stellt Gloria Fragen und verschwindet wieder. »Ich brauche Hilfe!«, spreche ich ihr auf den Anrufbeantworter. Was ist mit den Essensmarken? Sie ruft selten zurück. Immer wieder lockt sie mich auf falsche Fährten, weil sie es selbst nicht besser weiß.
Mir wird klar, dass in dieser winzigen Person mehrere Persönlichkeiten stecken. Die charmante, witzige Gloria, die mich mit ihren Anekdoten zum Lachen bringt. Der Opernfan – sie lebt auf, sobald ich La Traviata aufdrehe. Die spirituelle Gloria, die wie ich lange in Indien war, Yoga und Meditation liebt und ständig ihre Mantras aufsagt. Die Straßen-Gloria, die schwuppdiwupp vor mir die Hosen runterlässt, um in ihren Plastikeimer zu pinkeln, schneller als ich den Kopf wegdrehen kann. Die Diva, die es gewohnt war, Bedienstete herumzuscheuchen, und ungehalten wird, wenn ich ihre Lieblingsbluse nicht sorgfältig bügle.
Falten sind ihr Feind. Alles muss picobello sein. Sie will auf keinen Fall wie eine Obdachlose aussehen und besteht darauf, auch an heißen Sommertagen die Skijacke anzuziehen, die ihr meine Freundin geschenkt hat. Es ist ihr einziger Mantel ohne Flecken. Ich habe nicht den Mut, ihr zu sagen, dass sie schon von Weitem als Obdachlose erkennbar ist, wenn sie in der glühenden Sonne in Pantoffeln und Skijacke daherschlurft. Richtige Schuhe tun ihr weh.
Zuletzt lebte sie 18 Jahre lang in einem mietgeschützten Apartment in Santa Monica, dritter Stock, Meerblick. Der neue Besitzer wollte die Wohnung renovieren und dann die Miete um das Zehnfache erhöhen. Ich glaube ihr, dass sie unter Androhung von Gewalt aus der Wohnung geworfen wurde. Aber ich glaube auch, dass ein professioneller Aufräumdienst engagiert werden musste, um die Wohnung zu säubern.
Von Thunfischdosen bis zu kostenlosen Anzeigenblättern sammelt sie alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Sosehr ich auch versuche, ihr verständlich zu machen, dass ich nur die Hälfte der Garage miete und ihre schmutzige Unterwäsche und die halb vollen Tassen bitte nicht in die Hälfte des Nachbarn gehören – mindestens einmal in der Woche muss ich zum Großputz anrücken und alles, was stinkt und dreckig und nutzlos ist, in die Mülltonne werfen (aus der sie es dann nachts wieder herausfischt). Wie viele Menschen, die auf der Straße leben, hat sie Angst, irgendetwas loszulassen.
Gloria ist nachtaktiv. Die Nachbarn sehen sie nachts die Mülltonnen durchkramen. Einer drückt sein Missfallen aus, indem er mit dem Schlüssel die Fahrerseite meines Autos zerkratzt. Die Nachbarin gegenüber brüstet sich damit, sie habe das Versteck eines anderen Obdachlosen entdeckt und seine Habseligkeiten weggeworfen, inklusive der Matratze. »Die habe ich verbrannt!«, ruft sie triumphierend. »Aber das war doch vermutlich alles, was der Mann zum Leben hatte!«, entgegne ich entgeistert. Seither grüßen wir uns nur noch, reden aber nicht mehr.
Ich finde die Nummer von Glorias Sohn in ihren Notizen und rufe ihn an – fassungslos, dass er nur zwanzig Minuten entfernt lebt. Kann er sich nicht bitte gefälligst um seine Mutter kümmern? Nach zwei Telefonaten wird mir klar: Kann er nicht. Er hat gerade seinen Job verloren und interessiert sich nur dafür, ob er ihr Auto haben kann.
Und die Tochter? Bitte, nicht die Tochter anrufen, bettelt Gloria, die mache alles nur schlimmer.
Zum 79. Geburtstag im November bekommt Gloria weiche Stiefel, in denen ihre schmerzenden Füße gut gepolstert sind. Wir feiern in einem Restaurant am Meer. Sie, die aus spirituellen Gründen seit Jahrzehnten keinen Alkohol anrührt, gönnt sich ein Gläschen Schampus und kichert wie ein junges Mädchen.
Der Bruder, selbst über siebzig und in Arizona im Ruhestand, bestätigt: Ja, die Mutter starb früh an Krebs und der Stiefvater hat alle drei Kinder geschlagen, im Suff, wenn sie Glück hatten mit der flachen Hand, sonst mit Gürtel, Besenstiel, Stühlen. »Gloria traf es am schlimmsten: Geschlagen hat er alle, aber sie hat er auch vergewaltigt.«
Gloria habe ihm das Leben gerettet, erzählt er. Die ältere Schwester lief mit ihm davon, bevor der Vater sie ins Krankenhaus oder ins Grab prügeln konnte. Das ist typisch, sagt die Sozialarbeiterin: Achtzig bis neunzig Prozent der Obdachlosen haben in ihrer Kindheit Gewalt und Missbrauch erfahren, von den Frauen praktisch alle.
Gloria kann sich oft schon zehn Minuten nach einer Unterhaltung an kein Wort mehr erinnern. Das ist die Gloria, die ständig ihre Schlüssel und ihren Führerschein verliert; die Gloria, die aus Albträumen aufwacht und mich nächtelang auf Trab hält, weil sie fürchtet, ihr Ex-Mann oder von ihm beauftragte Schergen könnten ihr auflauern.
Ich habe eine Frau mit Demenz in meiner Garage und keinen, der mir hilft. Nach zwei Monaten platzt mir der Kragen: Ich schicke einen langen, wütenden Hilfeschrei an den Chef der Obdachlosenhilfe, mit Kopien an die Bürgermeisterin, die Stadt, die Sozialarbeiter, einige VIPs und den Hilton-Erben, der eine halbe Million für die Obdachlosenhilfe locker machte.
Darauf schickt die Obdachlosenhilfe endlich eine Psychologin vorbei, der erste Schritt zur Aufnahme ins »System«. Dieses Interview werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Eine junge, blonde Frau namens Nora stolziert auf hohen Hacken und in kurzen Jeans-Shorts in unser Wohnzimmer, guckt Gloria kurz an, bevor sie ihre Augen wieder in das Display ihres Smartphones versenkt. Als ich sie ausfrage, stellt sich heraus, dass sie zwar gerade Psychologie studiert, aber noch keinen Abschluss hat. Sie ist die Praktikantin – die nun losgelassen wird auf eine zerbrechliche Frau. Sie bittet mich, den Raum zu verlassen, aber Gloria klammert sich an meinen Arm. So werde ich Zeuge, wie eine Psychologiestudentin ein Leben zerstückelt.
Längst kenne ich die Tiefpunkte von Glorias Biografie: Ich weiß, dass sie allein bei der Erwähnung ihres Stiefvaters oder ihres Ex-Mannes Nummer drei in Schweiß ausbricht, zittert und kaum noch sprechen kann.
Aber nun bohrt das junge Ding nach, besteht auf Daten, Uhrzeiten, Beweisen – als wären wir bei einer Gerichtsverhandlung und nicht bei einer psychologischen Evaluierung, in der es darum geht, ihre Hilfsbedürftigkeit zu analysieren. Wann war das genau, die Vergewaltigungen? »Von klein auf«, wimmert Gloria.
Für traumatisierte Menschen ist es am allerschwersten, sich an konkrete Daten zu erinnern. Solche erbarmungslosen Forderungen lassen Traumata oft neu entflammen. Selbst als Gloria schon erschöpft auf dem Sofa hängt und »Ich kann nicht mehr« schluchzt, als ich schon mehrmals eingegriffen habe – »Ist das denn wirklich nötig?« –, macht die Studentin so unbekümmert und empathielos weiter, als befrage sie eine Gebrauchtwagenhändlerin nach der Zahl der Vorbesitzer eines Autos. Gloria erzählt also noch einmal unter Tränen, wie ihr Mann sie mit dem Lauf einer Pistole auf den Kopf schlug, wie ihre Tochter das Blut aufwischte. Darauf die Studentin fröhlich: »Und, wie war bei Ihnen zu Hause die Familiendynamik?«
Ich halte Gloria umarmt, als könnte ich ein Panzer sein, an dem dieser dämliche Fragenhagel abprallt. Gloria erzählt von ihrer Hysterektomie. Darauf die Studentin: »Sind Sie schwanger?« Sie fragt eine 78-jährige Frau ohne Gebärmutter, ob sie schwanger sei.
»Wir müssen diese Fragen abarbeiten«, drängt sie. Daraufhin dränge ich auch, nämlich sie aus dem Haus. Als ich mich bei der Organisation über den Auftritt beschwere, wird mir freundlich beschieden, ich müsse froh sein, überhaupt ein Interview gekriegt zu haben.
Verliert ein Mensch seine Menschenwürde, wenn er seine Wohnung verliert? Muss sich eine gebrochene Frau immer wieder neu brechen lassen? Nachts liege ich heulend auf dem Sofa. Ich heule, weil Gloria mir leid tut. Weil ich nicht genügend für sie tue. Weil sie niemanden hat, der sich um sie kümmert. Weil diese verdammten Säcke ihr Leben zerstört haben. Weil ich nicht weiterweiß.
Gloria fühlt sich inzwischen bei mir wie zu Hause, erwartet morgens um halb neun ihren Kaffee, schwarz, samt dem viel zu süßen Süßstoff mit Crème-brûlée-Geschmack.
Nach drei Monaten kann ich nicht mehr. Schließlich besorgt die Sozialarbeiterin, der ich inzwischen täglich auf den Wecker falle, Gloria einen Gutschein für ein Motel im Inland. Dahin will Gloria nicht, sie hat Angst. Weil wir der Meinung sind, dass Gloria nicht mehr für sich alleine sorgen kann, organisiert die Sozialarbeiterin stattdessen einen Platz in einem Pflegeheim in Pasadena. Sie bringe sich lieber um, als so weit weg vom Meer in irgendeinem Heim dahinzusiechen, ruft Gloria. Ich kann das gut nachvollziehen, aber was Gloria will, gibt es nicht, jedenfalls nicht in ihrer Preisklasse: ein Haus am Meer.
»Du wirst schon sehen!«, ruft sie siegessicher, mit Blick gen Himmel. »Die Vögel helfen mir.« Sie spricht mit den Krähen, den Raben, den Möwen. Wenn die zurückquaken, vernimmt sie darin ein Zeichen von Gott.
Dann öffnet der Nachbar, ein Schönheitschirurg auf dem Weg zur Frühschicht, morgens um halb vier die Garagentür, während sie gerade über ihrem Kackeimer hockt. Und droht in einem Tobsuchtsanfall, mich beim Vermieter zu verpetzen. Gloria und ich haben unseren ersten Streit. »Wegen dir kann ich nicht meine Wohnung verlieren!«, rufe ich. »Dann gehe ich eben!«, brüllt sie. Weil der Van nicht anspringt, zieht sie mit einem Rollkoffer los, die Straße runter.
Ich rufe die Sozialarbeiterin an, die tatsächlich vorbeikommt und Gloria von der Straße aufsammelt. Also Obdachlosenheim. Von außen sieht es tipptopp aus, in bester Lage in Santa Monica, Kino, Malstunden, moderne Kunst an den Wänden, mit einer Million Dollar aus Privatspenden frisch renoviert. Ein Vorzeigeprojekt, der Bürgermeister eröffnete es persönlich. Aber Gloria schmuggelt mich in die Etage, in der die Obdachlosen leben: Männer und Frauen gemischt, ohne richtige Raumtrenner, nicht einmal ein Vorhang, jeder kann ihr beim Umziehen zusehen. Nachts stöhnen, schnarchen, schreien 85 Menschen im selben Raum. Ein Mann brüllt, er werde alle umbringen. Das ist kein Platz für eine schwer traumatisierte Frau. Aber es ist das Beste, was es in Los Angeles gibt.
Immer wieder büxt sie aus, zweimal steht sie weinend mit Koffern bei mir vor der Tür und will wieder in ihren Van ziehen. Jedes Mal koche ich ihr Lachs und fahre sie zurück ins Heim, mit schlechtem Gewissen. Jede Woche besuche ich sie und erfahre, was sie wieder angestellt hat. Einmal wirft sie eine Glasflasche nach einem Betreuer, die den Mann verfehlt und an der Wand zerschmettert. »Normalerweise würden wir sie hinauswerfen«, sagt die Sozialarbeitern, »aber Gloria …« Gloria zieht die Kindchenkarte, mogelt sich charmant lächelnd in die Herzen.
Dann, tatsächlich: Nach sechs Monaten im Heim bringen die Sozialarbeiter einen Antrag durch. Aufgrund ihres Alters, ihrer Gebrechlichkeit und der vielen Jahre in der Obdachlosigkeit wird ihr eine Sozialwohnung bezahlt.
Und nicht irgendeine: Weil kein normaler Mensch mehr die Mieten in den ungefährlichen Wohngegenden von Los Angeles bezahlen kann, müssen Bauunternehmer nun bei Großprojekten einen kleinen Teil der Wohnungen sehr günstig zur Verfügung stellen. Und wenn sie schon Obdachlose aufnehmen müssen, nehmen sie lieber die zierliche Blonde als den großen Schwarzen mit dem Crack-Problem, flüstert die Sozialarbeiterin hinter vorgehaltener Hand.
Gloria bekommt die schlechteste Wohnung in der besten Gegend: ein winziges Studio in Venice, einen Block vom Meer entfernt. In der Empfangslobby des Hauses schwingen Designer-Schaukeln, ihre Küchentheke ist aus Marmor, das Bad luxuriöser als meins. Ich kann ihr Glück kaum fassen. Sie meckert, sie wollte doch nach Malibu.
Die Sozialarbeiter versprechen, sich um alles zu kümmern. Aber als ich Gloria fünf Tage nach ihrem Einzug das erste Mal besuche, sitzt sie vor einem leeren Kühlschrank. 17 riesige Ikea-Schachteln versperren den Weg zur Spüle. Ihr Bruder reist für fünf Nächte aus Arizona an, um ihr beim Eingewöhnen zu helfen, erträgt die Begegnung aber so schlecht, dass er nach der zweiten Nacht wieder ins Auto steigt. Dass eine 79-Jährige keine Ikea-Kommoden zusammenbasteln oder eine halbe Meile zum nächsten Supermarkt laufen kann, scheint keinem aufzufallen. Sie hat sich die letzten Tage von Müsliriegeln und Energiedrinks ernährt, die ihr Bruder zurückgelassen hat.
Meine freiwillige Adoption wird so schnell nicht enden. So ist das, wenn ein Mensch im Alter nichts hat: kein Geld, keinen Menschen, kein Auffangnetz.
Aber dann fahre ich mit Gloria im Fahrstuhl auf die Dachterrasse in den 11. Stock. Wir sehen die Sonne im Meer untertauchen, und sie strahlt. »Ha!«, jubelt sie. »Ich hab dir doch gesagt, alles wird gut.«
Summertime … stimme ich an. Und sie fällt ein: … and the livin’ is easy.
Illustration: Studio Likeness