Wände können sprechen. Man muss ihnen nur zuhören. Spät abends geht das gut, wenn man gerade den Fernseher ausgeschaltet hat, um ins Bett zu gehen, aber kurz auf dem Sofa sitzen bleibt. In der Stille hört man es: Gesprächsfetzen, jemand weint, jemand stöhnt, einer schnarcht, Musik. Natürlich können Wände nicht sprechen, aber es scheint so, weil man nur den Beton sieht, nicht die Menschen dahinter. Seine »eigenen vier Wände« besitzt man bloß zur Hälfte, die andere Seite gehört den Nachbarn. Doch die Illusion ist so gut, dass man sich allein im Zimmer einsam fühlen kann, dabei lehnt der Nachbar seinen Hinterkopf in dem Moment vielleicht an dieselbe Wand. Wenn abends die Lichter angehen im Wohnblock gegenüber, sieht man diese Nähe durch die erleuchteten Fenster: wie zwei Menschen direkt übereinanderstehen.
Man muss seine Nachbarn nicht persönlich kennen, um sie erstaunlich gut zu kennen. Weil Wände nicht dichthalten, obwohl wir unser Leben darin für uns behalten wollen. Die Wand ist wie ein falscher Freund, der sagt: »Bleibt unser Geheimnis, versprochen« – und dann doch vieles weiterplaudert. Was man von den Menschen drüber und drunter und links und rechts hört, ist unangenehm: deren Sex (man fühlt sich wie ein Voyeur), deren Ehekrise (wie der sie wieder anschreit), deren Tränen (ist jemand gestorben? Wurde jemand verlassen?), ein neues Hobby (ausgerechnet Geige!). Selbst schweigende Wände können gemein sein. Einmal hatte der Nachbar fröhlich einen Zettel ins Treppenhaus geklebt: »Ich feier ein Fest, es kann lauter werden« – und dann war den ganzen Abend nichts zu hören.
Doch, Moment, es gibt auch schöne Geräusche von nebenan. Ein Lied an einem grauen Februarmorgen: »Viel Glück und viel Segen …«, Kinderlachen. Kurz darauf klopfte ich an die Tür, mit einem kleinen Geschenk in der Hand. »Du hast dir ihren Geburtstag gemerkt? Toll!« Die Wand, da war sie mal nett, hat mich nicht verraten.
(Illustration: Yann Kebbi/Heart Agency)
Illustration: Yann Kebbi