Der tut nur so entspannt: Kassaei in seinem Büro an der Madison Avenue - wo sonst? -, umgeben von Werberpreisen.
SZ-Magazin: Herr Kassaei, können Sie immer noch eine Kalaschnikow mit verbundenen Augen auseinandernehmen und wieder zusammensetzen?
Amir Kassaei: Ja.
Wie wurden Sie Kindersoldat?
Als die Mullahs die Macht im Iran übernahmen, wurde aus dem Sportunterricht auf einmal Waffenlehre. Man saß in der Turnhalle, und dann kamen ein paar Revolutionsgardisten mit Sturmgewehren rein und haben einem erklärt, wie man eine AK-47 bedient. Als Saddam Husseins Elitetruppen den Iran angriffen, hielten die Mullahs mit Menschenmassen dagegen. Hunderttausende wurden an die Front geschmissen. Einer davon war ich.
Wie alt waren Sie?
14. Wir waren eine Gruppe von 20 Jungs. Mit Bussen wurden wir zweieinhalb Tage lang in den Süden transportiert, um gegen die irakischen Panzer anzutreten. Wir waren Kanonenfutter, deswegen musste man uns auch nicht ausbilden. Unsere Mission war klar: Ihr seid dafür da, im heiligen Krieg zu sterben, denn mit eurem Tod schont ihr unsere richtigen Soldaten, die hinter der Kampflinie warten. Eines Tages sollten wir vorrücken, obwohl wir genau wussten, dass wir auf ein Minenfeld zulaufen. Normalerweise müsste man komplett ausrasten und nach der Mama schreien. Das war aber überhaupt nicht der Fall. Es war eine ruhige Stimmung, fast eine Totenstille. Man wusste, okay, das war es dann. Mein bester Freund ist vor meinen Augen zerfetzt worden. Er war 13.
Sie begingen dann Fahnenflucht.
Nach achteinhalb Monaten an der Front bekam ich ein paar Tage Urlaub. Meine Eltern waren westlich orientiert und ließen mich von einem Schleuser über die türkische Grenze bringen. Ich kam bei einem entfernten Verwandten in Wien unter, ohne Geld und ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Als ich in die Schule kam, stellte die Lehrerin mich der Klasse mit den Worten vor: »Das ist der Amir. Der kommt aus dem Iran.« Diese Blicke habe ich nie vergessen. Man gab mir zu verstehen, dass ich keine Sekunde dazugehören werde. Die Zurückweisung kompensierte ich mit dem Ehrgeiz, die anderen in allem zu übertreffen. Aber das Gefühl, ein Misfit zu sein, verlässt Sie nie.
Nach Ihrem BWL-Studium arbeiteten Sie bei L’Oréal, dann gingen Sie in die Werbung. Über die sagen Sie nach 20 Berufsjahren: »Aus einem kranken Arsch kommt kein gesunder Furz – Werbung wird sich ändern müssen.«
Bis Anfang der Neunziger waren Werber coole Stars. Wenn Sie heute sagen, ich mache Werbung, gucken die Leute Sie mitleidig an und sagen: Herzliches Beileid! Dass unser Ansehen am Boden ist, liegt an uns selbst. Wir haben uns darauf verlassen, dass die Reise mit den Helmut-Lang-Anzügen, den weißen Porsches und den Kokslinien immer so weitergeht. Wir sind faul geworden. Statt Trends zu setzen, laufen wir ihnen hinterher. Während die ganze Welt über Nachhaltigkeit nachdenkt, sind Werber die Letzten, die lauthals Propaganda für hemmungslose Konsumgier machen. Wir verdienen es, dass Werbung auf eine Mauer aus Desinteresse und Abwehr stößt, denn sie ist so langweilig und irrelevant wie eh und je.
Und was hilft dagegen?
Wir müssen uns bewusst machen, was die Linken in den Sechzigern gesagt haben: Wir sind die Frontschweine eines kapitalistischen Systems, das auf quantitativem Wachstum aufgebaut ist. Wir versuchen, Menschen Waren zu verkaufen, die sie nicht brauchen, und erziehen sie dazu, sich durch Konsum zu definieren. Spätestens seit der Finanzkrise glaube ich nicht mehr an quantitatives Wachstum. Man muss das Rückgrat haben, Kunden zu sagen: Produziert keine heiße Luft, sondern Produkte, die Substanz und Relevanz haben. Nur qualitatives Wachstum weist in die Zukunft.
Und das verstehen Ihre Kollegen nicht?
Nein. Viele, die nie was gerissen haben, sind irgendwie in der Werbung gelandet und haben dort einigermaßen Karriere gemacht. Entsprechend gering ist die intellektuelle Substanz in den Agenturen. Smarte Figuren wie Jean-Remy von Matt sind die Ausnahme. Mit dem großen Rest würden Sie nie im Leben freiwillig eine halbe Stunde ein Bier trinken wollen. Da gähnt Sie ein Vakuum an. Die richtig hellen Köpfe gehen heute nicht mehr in die Werbung.
»Es gibt wenige, die den Willen haben, so weit über die Schmerzgrenze zu gehen wie ich.«
Amir Kassaei über Don Draper (»Mad Men«): »Sein Irrtum ist, dass er seine Werbewelt für die reale Welt hält.«
Was, glauben Sie, zeichnet Sie aus?
Es gibt wenige, die den Willen haben, so weit über die Schmerzgrenze zu gehen wie ich. Es ist nicht besonders schwer, eine sehr gute Idee zu haben. Dieses kleine Pflänzchen dann durch alle Instanzen zu bringen, ist die viel, viel schwierigere Leistung. Nehmen Sie einen Diamanten wie den Horst-Schlämmer-Spot für Volkswagen. Er wurde mir eineinhalb Jahre lang immer wieder von allen möglichen Leuten bei VW abgeschossen. Da müssen Sie Schmerz genießen können. Ohne den Wahnsinn, von einer Idee komplett besessen zu sein, wird man höchstens Zweiter.
Wie zeigt sich Ihr Wahnsinn?
Als junger Texter bei Springer & Jacoby habe ich eine Mercedes-Kampagne entwickelt, die meine Chefs nicht gut fanden. Daraufhin kaufte ich auf eigene Kosten ein Flugticket nach Stuttgart und setzte mich mit meinen Pappen ins Vorzimmer des Marketing-Chefs von Mercedes. Nach sechs Stunden Warten hatte der Mann zehn Minuten Zeit. Ich sagte: »Meine Agentur weiß nicht, dass ich hier bin. Schauen Sie sich trotzdem diese Pappen an. Ich finde, Ihre Marke hätte meine Kampagne verdient.« Er war derselben Meinung. 2002 hätte ich Chef von Springer & Jacoby werden können. Das war damals der nominell beste Job in der deutschen Werbung. Und was mache ich? Ich gehe zu DDB nach Berlin, damals ein Scheißhaufen. Ich will sehen, ob man Sachen drehen kann, von denen alle sagen, sie seien nicht zu drehen.
Vor zwei Jahren wurden Sie in New York globaler Kreativchef von DDB, dem zweitgrößten Agenturnetzwerk der Welt. Was macht ein Kreativchef den ganzen Tag?
DDB hat 14 000 Mitarbeiter in 96 Ländern. Laut Jobbeschreibung bin ich endverantwortlich für die Qualität unserer Kampagnen. Ich gebe wie ein Fußballtrainer ein System und eine Philosophie vor. Wenn Not am Mann ist, fliege ich ein und mache die Kampagne selbst.
Stimmt es, dass Sie von infernalischem Ehrgeiz besessen sind?
Ich hatte schon mit sieben, acht Jahren die deutschen Kampftugenden auf dem Fußballplatz. Und aus der Psychologie weiß man, dass Menschen, die in ihrer Kindheit dem Tod nahe waren, ohne Rücksicht auf Verluste alles auf eine Karte setzen, in dem Wissen, dass es die allergrößte Sünde ist, sein Leben zu vergeuden.
Es heißt, Sie seien ein Totalegozentriker und ein jähzorniger Schreihals, der sich in Abwandlung seines Titels »Chief Creative Officer« gern »Chief Ass Officer« nennt.
I like to kick ass. Ich habe eine ziemlich klare Meinung und halte den Leuten den Spiegel vor. Wenn ich das Gefühl habe, dass einer nicht auch noch seine letzten fünf Prozent gibt, werde ich jähzornig und schreie Sätze wie: »Echte Kämpfer essen keinen Honig – sie kauen Bienen.« Den Friedensnobelpreis kriegt man damit nicht. Es ist aber nicht so, dass ich Leute persönlich beleidige oder kaltmache.
Gefallen Sie sich darin, Menschen gegen sich aufzubringen?
Es motiviert mich, wenn Leute mir Böses wollen. Dass ich es vom kloputzenden Asylanten zum Kreativchef von DDB gebracht habe, zeigt vielen in der Branche, wie wenig sie zustande gebracht haben. Vielleicht brauche ich die Misfit-Position, um kämpfen zu können. Obwohl ich längst zu den Arrivierten gehöre, kann ich nicht anders, als mir jeden Morgen Scheuklappen aufzusetzen und mich anzupeitschen: »Du musst kämpfen, sonst gehst du unter!« Sobald ich mich entspannt zurücklehnen könnte, suche ich die Provokation. Das mag krank sein, aber es macht Spaß.
Ist es ein Märchen, dass Sie um die 16 Stunden am Tag arbeiten?
Nein. Ich stehe um 4.30 Uhr auf, trinke Kaffee, rauche eine, und dann fange ich an, mit Asien zu telefonieren. Um sechs wecke ich meine Frau und mein Kind und sage Tschüss. Dann fahre ich mit der U-Bahn von Brooklyn zur Madison Avenue und sitze um 7.15 Uhr am Schreibtisch, als Allererster. Abends um neun bin ich wieder zu Hause. Ich esse mit meiner Frau, wir reden ein bisschen, und dann muss ich noch arbeiten.
Ein Albtraum.
Ich sehe es komischerweise nicht als Arbeit. Man genießt es doch.
Wie oft sitzen Sie in einem Flugzeug?
An ungefähr 200 Tagen im Jahr.
»Alles kommt aus dem Unterbewusstsein. Das bereinigt Dinge.«
»Eine alte Apple-Kampagne, von Steve Jobs selbst geschrieben: ›Think big‹. Diesen Satz sollte man als Mahnmal immer in der Nähe haben.«
Wie muss man sich eine Frau vorstellen, die einen Mann wie Sie heiratet?
Meine Frau hat selber in der Werbung gearbeitet. Sie erträgt mich als Menschen, und das bewundere ich an ihr. Und sie erträgt auch, was ich mache. Das ist der eklatante Unterschied zu meiner Ex-Frau, die modernes Tanztheater gemacht hat. Die hat das gar nicht verstanden. Die hat immer kopfschüttelnd dagesessen, wie ein Mensch seine ganze Energie und die wichtigste Zeit seines Lebens für so was Schwachsinniges wie Reklame aufbraucht.
Machen Sie Beruhigendes wie Yoga?
Nein. Ich spiele Blitzschach. Das ist für mich die ultimative Erholung. Bei drei Minuten pro Spiel denken Sie nicht mehr. Alles kommt aus dem Unterbewusstsein. Das bereinigt Dinge.
Spielen Sie in einem Club?
Nein. Auf meinem Handy, wenn ich auf Flughäfen warten muss. Das ist super.
Ihr Idol ist der 1982 gestorbene Werber Bill Bernbach. Warum?
Er ist der Erfinder und Gottvater der kreativen Werbung, die auf Esprit statt Verkaufe setzt. Kurz nach der Mondlandung sollte er für den US-Markt eine Kampagne für den VW Käfer entwerfen. Er nahm ein Schwarzweißfoto der hässlichen Mondlandefähre, darunter setzte er den Satz »It’s ugly, but it gets you there« und das VW-Logo. Die Anzeige sagt intelligent die Wahrheit über das Produkt, statt die Leute für dumm zu verkaufen. Das war sein Anspruch. Als er die Kampagne den VW-Chefs vorstellte, überschrieb er seine Präsentation mit dem Satz: »How to sell a Nazi car in Jewish Manhattan«.
Welchen Einfall hätten Sie gern selbst gehabt?
Als Jung von Matt noch eine junge Agentur war, bekamen sie die Chance, bei Porsche zu pitchen. Die großen Agenturen kamen mit 20, 30 Mann zur Präsentation nach Zuffenhausen und stellten Pappen und Beamer auf. Holger Jung und Jean-Remy von Matt reisten in einem Porsche an, stellten sich vor die Vorstände und sagten: »Wir sind zu zweit hier, weil in einen Porsche nur zwei Leute reinpassen.« Mit diesem Satz hatten die beiden den Etat gewonnen. Sie hatten die Essenz des Unternehmens verstanden
Bei welchem Einfall sind Sie froh, ihn nicht gehabt zu haben?
Mit Brad Pitt für Chanel N° 5 zu werben. Eine Katastrophe, komplett unglaubwürdig.
Wie hat das Internet die Werbung verändert?
Digital ist die Elektrizität des 21. Jahrhunderts. Ein neuer Spot kann heute in drei Minuten die Welt umrunden. Dass Youtube nicht von Werbern erfunden wurde, zeigt, wie hinterher unsere Branche ist. Der große Vorteil für Konsumenten ist, dass Sie heute niemanden mehr verarschen können. Wenn ich heute ein falsches Versprechen gebe, kommt das dank der digitalen Infrastruktur in Sekunden raus, und ich bin erledigt. Die beste Werbung verspricht nur das, was ein Produkt auch halten kann.
Kennen Sie jemanden, der Werbung auf Facebook anklickt?
Nein. Menschen unter 30 nehmen Werbung auf ihren Community-Seiten als Hausfriedensbruch wahr. Für das Fernsehen gilt das Gleiche. Niemand bleibt freiwillig sitzen, wenn ein Werbeblock kommt. Bei Jung von Matt gab es mal die Direktive: »Ich will Menschen vor Freude weinen sehen, wenn ein Spot ihren Lieblingsfilm unterbricht.« Das ist bis heute Theorie geblieben.
Die Cracks unter den Werbern sind in der Regel Männer. Wie erklären Sie das?
Agenturen sind immer noch extreme Macho-Buden mit viel Testosteron. Der andere Grund ist, dass es Frauen zu doof ist, diese ganze Reklamescheiße zu machen.
Wie deformiert Werbung den Werber?
Sie kriegen ein sehr, sehr aufgeblähtes Ego. Als Kreativer müssen Sie eine gewisse Art von Überheblichkeit und Narzissmus an den Tag legen, auch wenn sie als Mensch gar nicht so sind. Wenn Sie selbst nicht von sich und Ihrer Idee überzeugt scheinen, wie wollen Sie dann andere überzeugen?
Ein Klischee besagt, dass Werber nach ein paar Jahren abgefuckte Zyniker werden, die von ihrem Job angeödet sind.
Werber verpassen es, ein reales Leben aufzubauen. Sie führen ein Pseudoleben in einer Blase und irgendwann kommen sie aus ihr nicht mehr raus, weil sie sie für die Welt halten. Ich habe vier Kinder von drei Frauen. Das bedeutet, ich muss für einen Fünfjährigen eine Schule finden, mit einer 13-Jährigen über Pubertät und Liebe reden und mit einer 19-Jährigen über ihr Studium. In solchen Momenten platzt die Blase.
Sie sind 44. Haben Sie eine zweite Idee für Ihr Berufsleben?
Werber schaffen den Absprung nicht. Sie enden wie alternde Boxer. Man liegt demoliert im Ring und ist lächerlich. Ich werde trotzdem in ein paar Jahren mit der Werbung aufhören, denn mir wird langweilig, wenn alles funktioniert. Ich möchte auf der anderen Seite des Tisches sitzen und als Inhaber einer Firma ein intelligentes Produkt verkaufen. Selber ins Risiko gehen statt nur Dienstleister sein, das wird mein Kick sein.
Was wäre ohne den Krieg im Iran aus Ihnen geworden?
Ein Frauenarzt in Teheran.
Fotos: Action press; Reuters
Foto: Tim Barber