Wann habe ich eigentlich zuletzt etwas richtig Schönes fotografiert? Einen Sonnenuntergang? Eine Morgenstimmung? Einen besonderen Augenblick in den Bergen? Moment, das muss doch hier … hab’s gleich … oh. Finde gerade nichts. Mein Smartphone ist zum Bersten voll mit Bildern, aber ich sehe da nur:
– einen Haufen Fotos von mehr oder weniger wichtigen Dokumenten, aktuell Steuerunterlagen: Kassenzettel, Rechnungen;
– zehn Fotos aus Möbelhäusern, aber nicht von den Möbeln, sondern von den Etiketten mit den Maßen drauf, weil ich sie vielleicht kaufen will;
– endlos viele Screenshots von Fahrplänen und Bahnverbindungen für verschiedene Ausflüge und Urlaube;
– ein paar unsortierte Fotos von Werksbezeichnungen, also den Zetteln, die im Museum neben den Exponaten hängen, weil ich dazu später in Ruhe was nachlesen wollte (was ich dann natürlich nie gemacht habe);
– Fotos von Kosmetika: das Duschgel aus dem Hotel in England, das so gut roch, die eine Seife, die ich mir unbedingt nachkaufen wollte … ;
– lauter Fotos von Visitenkarten, weil ich keinen Platz dafür im Geldbeutel habe, aber auch zu faul bin, die Daten ordentlich im Handy zu speichern;
– ein Foto von der wichtigsten Seite aus der Gebrauchsanweisung meiner Mikrowelle (damit ich die nicht immer extra heraussuchen muss);
– sehr, sehr viele Fotos von Kochbuchrezepten, dazu Bilder der Zutaten;
– diverse Fotos von Preisschildern und Kuchenvitrinen in Cafés und Restaurants, damit meine Begleitung nicht auch noch zum Bestellen an den Tresen muss;
– bergeweise Fotos von Kleidung, die …
Ich glaube, Sie verstehen mich.
Was mache ich da eigentlich? Als die ersten Smartphones mit guten Kameras auf den Markt kamen, war die Verheißung doch: Jetzt kannst du jederzeit und überall richtig großartige Fotos machen. Du wirst dein Leben in den schönsten Farben festhalten. Vorbei die Zeiten, in denen man einen schweren Fotoapparat mitschleppen musste, schlimmstenfalls noch mit Wechselobjektiven und Blitz. Fotografie auf Profi-Niveau war plötzlich Alltag. Jeder konnte – oder konnte es zumindest versuchen. Die Werbung führt es einem auch vor. Ständig neue Smartphones, noch farbenreicher, noch tiefenschärfer, noch professioneller. Die Anzeigenkampagnen voll mit schönen Menschen, die in schöner Umgebung schöne Dinge tun. Die Botschaft ist klar: Dank diesem Gerät wird auch dein Leben so aussehen, du musst nur auf den Auslöser drücken.
Mein Leben sieht aber nicht so aus (höchstens ab und zu), die allermeiste Zeit besteht es aus Alltag. Aus Rechnungen und Online-Einkäufen. Aus Fahrkarten und Merkzetteln. Aus Waschetiketten und Preisschildern und Schaufenstern, und aus Kleinkram, den ich mir für die Arbeit beim SZ-Magazin merken muss. Also fotografiere ich genau das. Ich benutze meine Foto-App als digitalen Notizzettelblock.
Aber soll ich das jetzt traurig finden? Ach, nein. Im Gegenteil. Im Grunde archivieren die vielen banalen Fotos das Leben sogar besser, als es die Fotos unserer Eltern und Großeltern getan haben. Früher fotografierte man ausschließlich die besonderen Momente. Fotos wurden gemacht auf der Geburtstagsfeier. An Weihnachten. Beim Familienausflug. Auf der Besichtigungstour im Urlaub. Denn Filme waren teuer, Abzüge waren teuer. Und vor allem waren sie begrenzt. Wenn ein Film verknipst war, dann war Schluss. Also kam es auf jedes einzelne Foto an. Blättert man heute alte Fotoalben durch, sieht man Menschen, die stillhalten und gekünstelt lächeln. Ein Foto, jetzt gilt’s, das muss hinhauen! Was die Menschen zum Zeitpunkt des Fotos wirklich beschäftigt hat, wovon sie geträumt haben, was ihnen durch den Kopf ging, wie ihr normales Leben aussah: auf den Bildern nicht zu erkennen.
Wenn ich mir dagegen in zehn oder zwanzig Jahren meine Fotos von heute anschaue, werde ich sehen: Ach ja, Frühjahr 2025, da hast du gerade überlegt, welcher von diesen Duschvorhängen wohl am besten ins Bad passen könnte. Und sieh an, im Herbst 2023 bist du immer zu dieser Yogastunde gegangen, dafür hast du im Vorbeigehen den Stundenplan fotografiert. Und genau, 2028, das war der Sommer, in dem du so gern in dieser einen Pizzeria warst, du hast sogar die Speisekarte fotografiert, damit du immer schon zu Hause überlegen kannst, auf welche Pizza du diesmal Lust hast.
Ist es nicht am Ende viel eher das Banale, das unseren Alltag, unser Leben ausmacht? Die unvergesslichen Höhepunkte sind sowieso genau das: unvergesslich. Der riesige Rest verblasst mit den Jahren. Wie Fotoabzüge, die zu lange auf dem Fensterbrett liegen. Aber ein Handyfoto kostet im Vergleich zu einem Kodak-Abzug nichts. Also halten wir einfach alles fest, das Große und das Kleine, das Besondere und das Banale. Und was am Ende bleibt, zeigt viel mehr vom Leben, das wir wirklich hatten.