Kennen Sie diesen Mann?

Vor acht Jahren wurde er bewusstlos hinter einem Fast-Food-Restaurant in den USA gefunden - und kann sich weder an seinen Namen noch an seine Vergangenheit erinnern. Niemand scheint ihn zu vermissen. Gespräch mit einem Mann, der auf der Suche nach sich selbst ist.

Das Restaurant »Crazy Fish« liegt zwischen Meer und Autobahn am Ortsrand von Jacksonville, Florida. Über dem Tresen hängen Dollarscheine, auf die Besucher ihre Namen geschrieben haben. »Das soll bedeuten, dass sie eines Tages wiederkommen«, sagt Benjaman Kyle, der hier als Hausmeister arbeitet, »wenn sie sich an den Laden überhaupt noch erinnern.« Dann lacht er so laut, dass die anderen Gäste sich umdrehen. Obwohl Kyle an einer besonders rätselhaften Form von Gedächtnisverlust leidet, kann er Witze über seine Lage machen. »Was bleibt mir anderes übrig?«

SZ-Magazin: Sie wurden vor acht Jahren nackt und bewusstlos neben der Mülltonne einer »Burger King«-Filiale gefunden. Wie sind Sie da hingekommen?
Die Polizei vermutet, ich wurde überfallen, zusammengeschlagen und liegen gelassen.

Wie lange haben Sie dort gelegen?
Mehrere Stunden. Ich hatte am ganzen Körper Ameisenbisse und einen üblen Sonnenbrand. Eine Putzfrau hat mich entdeckt und gedacht, ich sei ein betrunkener Obdachloser. Als ich im Krankenhaus aufgewacht bin, wusste ich weder wer ich bin noch wo ich herkomme.

Sicher nichts getrunken?

In meinem Blut wurden weder Drogen noch Medikamente oder Alkohol gefunden. Nach ein paar Tagen haben auch die Ärzte geahnt: Der Typ hier ist kein Obdachloser. Der hat sein Gedächtnis verloren.

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Wann ist Ihnen das selbst klargeworden?
Als ich mich im Krankenhaus im Spiegel gesehen habe und vor Schreck fast ohnmächtig geworden bin.

Warum?
Ich habe mich nicht erkannt. Als würde einem jemand Fremdes entgegenschauen. Ich habe nur gedacht: Wer ist dieser alte Typ?

Was hatten Sie erwartet?
Ich weiß es nicht genau. Aber in Gedanken habe ich mich viel jünger gefühlt, höchstens vierzig. Und plötzlich sehe ich in ein Gesicht mit tiefen Falten und grauem Bart.

Kam Ihnen nichts an sich bekannt vor?
Nur Bruchstücke. Ich glaube, ich bin im Bundesstaat Indiana geboren, am 29. August 1948 – zehn Jahre vor Michael Jackson, das habe ich mir irgendwie gemerkt.

Haben Sie gehofft, es würde jemand ins Krankenhaus kommen, um Sie abzuholen?
Nein, ich war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Ich musste ja schnell raus aus der Klinik, einen Platz zum Schlafen finden, ein bisschen Geld verdienen, um mir etwas zu Essen zu kaufen. Im Obdachlosenheim durfte ich nicht bleiben, weil ich keinen Ausweis hatte. Und zu Verwandten konnte ich nicht – ich erinnere mich ja nicht daran, ob ich überhaupt irgendwo eine Familie habe.

Sie sind nirgends als vermisst gemeldet.

Wahrscheinlich vermisst mich einfach niemand.

Macht Sie das traurig?
Ja, natürlich. Wenn jemand sein Gedächtnis verliert, gibt es normalerweise ja ein Umfeld, das einem sagt: Hier ist dein Zuhause, schau mal, der Typ da auf dem Passbild bist du. Ich bin allein, niemand kann mein altes Leben bezeugen. Aber ich versuche nicht so viel darüber nachzudenken.

Geht das denn?

Mal besser, mal schlechter. Wenn ich sehe, wie andere Leute mit ihren Kindern spielen oder ihre Frau umarmen, macht mich das melancholisch. So eine Nähe fehlt mir natürlich. Ich glaube nicht, dass ich je verheiratet war. Wenn mein Geburtsdatum stimmt, bin ich 64 Jahre alt – meine Eltern sind vermutlich schon tot.

Warum nennen Sie sich Benjaman Kyle?

Den Nachnamen habe ich mir ausgedacht, weil die Leute im Krankenhaus irgendwas in ihre Formulare eintragen mussten. Weil ich hinter einem »Burger King« gefunden wurde, haben die Krankenschwestern auf meine Akten die Initialen BK geschrieben. Also habe ich mir den Nachnamen Kyle gegeben, damit wenigstens die Anfangsbuchstaben stimmen. Aber ohne Namen kann ich meine Sozialversicherungsnummer nicht herausfinden …

… die Nummer, die in Amerika wichtiger ist als der Personalausweis. Wie lebt es sich ohne?
Ich kann keinen Pass beantragen, kein Konto eröffnen, nichts. Man sagt ja immer: In unserer modernen Welt ist man als Mensch nur eine Zahl in einem System. Wenn man sich an diese Zahl aber nicht erinnern kann, steht man mit leeren Händen da. Im Dezember habe ich eine Petition gestartet und Unterschriften gesammelt, um eine neue Nummer zu bekommen. Leider haben nicht genug Menschen unterschrieben. Aber ich probiere es noch mal.

Wie verdienen Sie Ihr Geld?
Momentan arbeite ich schwarz hier im Restaurant, als Küchenhilfe und Hausmeister. Der Besitzer hat von meinem Fall gehört und mir einen Job angeboten. Die 220 Kilometer von meinem Fundort bis nach Florida bin ich gelaufen. Ein Bekannter lässt mich umsonst in einem Schuppen wohnen.

Wie sieht Ihr Alltag aus?
Ich arbeite viel, das lenkt mich ab. Ansonsten suche ich nach Spuren – schaue in Melderegistern, aber die sind meist nur nach Nachnamen geordnet. Oder man bekommt ohne Ausweis keine Auskunft. Völlig paradox: Um herauszufinden, wie ich heiße und wo ich geboren wurde, muss ich Namen und Geburtsort angeben. Eine Frau bei der Behörde sagte mal: Auch wenn Sie vor mir stehen, rein rechtlich gesehen gibt es Sie gar nicht.

Ein kleiner Schnipsel kann eine Welle der Erinnerung in Gang setzen


Im Zentrum von Jacksonville gibt es kostenloses Internet - dort sitzt Kyle stundenlang und sicht nach Spuren seiner Vergangenheit.

Was haben Sie schon alles unternommen, um herauszufinden, wer Sie sind?
Ich habe mehrere DNA-Proben abgegeben und mit der größten Gen-Datenbank Amerikas abgleichen lassen. Ich war bei einer Linguistin, die aus meinem Akzent heraushören konnte, dass ich aus dem Mittleren Westen der USA stamme. Eine Ahnenforscherin, die schon verschollene Passagiere der Titanic identifiziert hat, hat sich meinem Fall angenommen. Sogar Hypnose habe ich ausprobiert.

Und?
Hat alles nichts gebracht. Aber ich bin mir sicher, dass ich früher ein ganz normales Leben geführt habe. Ich glaube, ich war Manager in einem Restaurant.

Woher wissen Sie das?
Weil mir immer wieder Dinge einfallen, die mit Großküchen zu tun haben. Als in dem Restaurant, in dem ich heute arbeite, der Ofen kaputt war, wusste ich sofort, wie man ihn repariert.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Ihnen der Bauplan eines Ofens einfällt, Sie aber sonst alles vergessen haben?
Ich war bei mehreren Psychologen und Ärzten, sie haben eine retrograde Amnesie festgestellt. Das heißt: Ich kann mir zwar neue Dinge merken, habe aber keine Erinnerung mehr an meine Vergangenheit. Das kann zwei Ursachen haben: entweder Schläge auf den Kopf bei dem Überfall. Oder mir ist etwas so Schlimmes passiert, dass ich meine Vergangenheit komplett verdrängt habe. Opfern von Folter oder Soldaten nach dem Krieg passiert so was. Und natürlich haben sie überprüft, ob ich die ganze Geschichte nur erfunden habe.

Was antworten Sie, wenn jemand Ihre Geschichte für ein Lügenmärchen hält?
Mit einer Gegenfrage: Warum sollte ich mir so etwas ausdenken? Ich lebe seit acht Jahren ohne Pass und ohne Versicherung, war obdachlos, habe kein Geld und keinen Anspruch auf Rente. Und wenn ich etwas zu verbergen hätte, würde ich Ihnen ja wohl kein Interview geben. Aber ich will ja, dass Zeitungen mein Foto drucken, vielleicht erkennt mich dadurch jemand. Vor ein paar Jahren war ich in der Fernsehshow Dr. Phil zu Gast, die schauen hier zehn Millionen Menschen. Es ist schmerzhaft für mich, öffentlich um Hilfe zu bitten.

Haben Ihre Auftritte denn etwas gebracht?
Es melden sich immer wieder Leute bei mir, die mich angeblich kennen. Aber wenn ich mich näher mit ihnen befasse, kommen fast immer irgendwelche Verschwörungstheorien: Ich wurde von Außerirdischen entführt oder bin ein ausrangierter Geheimagent, dem man so Hollywood-mäßig das Gehirn gelöscht hat.

Vielleicht haben Sie ja ein Verbrechen begangen und wollen sich ein neues Leben aufbauen?
Noch so ein Klassiker. Das hat das FBI auch gedacht – und meine Fingerabdrücke mit ihren Datenbanken verglichen. Aber ich tauche nirgends auf. Ein FBI-Agent hat gesagt: Entweder Sie haben sich nie etwas zuschulden kommen lassen oder Sie waren so genial, dass Sie nie erwischt wurden. Auch beim Militär war ich nie, sonst hätten die meine Fingerabdrücke.

Was glauben Sie, was Sie früher für ein Mensch waren?
Ich hoffe, ich habe keinen allzu großen Schaden angerichtet. Es wäre schlimm, wenn sich jemand an mich erinnert, aber sich mit Absicht nicht meldet, weil er nichts mehr mit mir zu tun haben will. Normalerweise hat man ja die Chance, sich für seine Fehler zu entschuldigen. Ich habe diese Möglichkeit leider nicht.

Haben Sie noch Hoffnung, dass Ihnen alles irgendwann wieder einfällt?
Ja, denn die Ärzte sagen: Ein kleiner Schnipsel kann eine Welle der Erinnerung in Gang setzen. Also suche ich nach Dingen, die mir bekannt vorkommen. Ich erinnere mich an alte Kinosäle, ich glaube, ich war früher oft in verschiedenen Kinos. Also schaue ich im Internet, ob mir ein Kino bekannt vorkommt.

Weil Sie glauben, dass so Ihre Erinnerungen wiederkommen?
Ja – aber es geht mir noch um mehr. Ich habe eine vage Erinnerung an die Stadt Denver, ich glaube, dort habe ich früher mal gelebt. Aber ohne Ausweis und Geld kann ich dort nicht hinfliegen – also laufe ich nachts vorm Computer die Straßen mit Google Street View ab. Ich will mir selbst beweisen, dass es diese und jene Straßenkreuzung wirklich gibt. Damit kann ich ganze Nächte verbringen.

Wie schwer ist es für Sie, sich im Alltag zurechtzufinden?
Eingeübte Bewegungen wie Rasieren vergisst man nicht mehr. Ich könnte auch noch Auto fahren, glaube ich. Aber als ich zum ersten Mal einen Computer gesehen habe, musste mir erst jemand zeigen, wie man ihn anschaltet. Jetzt kenne ich mich ganz gut aus. Mein Laptop ist mein wertvollster Besitz.

Wie fühlt es sich an, wenn man Dinge zum ersten Mal sieht, die für alle anderen eine Selbstverständlichkeit sind?
Sehr merkwürdig. Die Terroranschläge vom 11. September habe ich neulich zum ersten Mal im Fernsehen gesehen. Das war ein Schock, in mehrerer Hinsicht. Erstens natürlich, weil es unglaubliche Bilder sind. Und zweitens, weil ich mich frage: Wie kann es sein, dass ich das noch nie zuvor gesehen habe?

Hat es auch Vorteile, wenn man sein Leben noch mal von vorne beginnen kann?
Es ist weniger romantisch, als manche Leute glauben. Klar, meine Fehler sind vergessen, auch Dinge, vor denen ich früher vielleicht Angst hatte, Trauerfälle oder Schulden, alles ist weg. Aber ich weiß nicht, warum mein Körper so ist, wie er ist. Mir tut mein Knie weh – liegt das daran, dass ich früher viel gejoggt habe? Oder ist es eine normale Alterserscheinung?

Was fehlt Ihnen am meisten?
Die Erinnerung an Menschen natürlich. Aber auch die Bücher, die ich gelesen habe. Manchmal liege ich im Bett und denke: Vielleicht habe ich irgendwo ein Konto mit viel Geld und kann mich nur nicht daran erinnern.

Macht Sie das unglücklich?

Nein, denn eins habe ich gelernt: Geld ist nicht so wichtig. Es kann plötzlich weg sein. Viel wichtiger ist ein Umfeld, dem man vertrauen kann. Ich versuche irgendwie, mir ein neues Leben aufzubauen. Ich habe den Großteil meines Lebens verloren – aber mir bleiben noch ein paar Jahre, in denen ich Dinge tun kann, die mir im Gedächtnis bleiben.

Wäre Ihr Leben ein guter Film?
Ein junger Regisseur, John Wikstrom, hat eine Dokumentation über mich gedreht. Vielleicht wird ja ein Blockbuster daraus. Aber ich bin skeptisch. Denn meiner Geschichte fehlt etwas sehr Wichtiges: ein Happy End.

Fotos: Raimund Koch