Jesus lebt. Mit diesem einfachen Satz hat Ostern damals begonnen. Gekreuzigt, aber lebendig: Die Neuigkeit verbreitete sich unter seinen verzweifelten Anhängern, sie staunten und sagten es weiter, schließlich strömten sie aus allen Teilen des Landes zusammen, um sich zu versammeln. »Ein Brausen kam vom Himmel«, heißt es in der Bibel, züngelndes Feuer leckte nach ihren Köpfen, der Geist erfüllte sie, und plötzlich verstanden alle einander, obwohl sie in verschiedenen Sprachen redeten. Jesus lebt – die babylonische Sprachverwirrung war beendet.
Wir wissen nicht, was damals wirklich passiert ist. Wir wissen nur: Eine Versammlung von Menschen hatte plötzlich eine unglaubliche Kraft entwickelt, eine Kraft, die für 2000 Jahre christliche Geschichte reichen sollte. Heute erinnern in den Kirchen brennende Kerzen an diese gewaltige Energie. Manche Gemeinden entfachen in der Osternacht das Osterfeuer, und der Pfarrer sagt: Jesus lebt. Aber es scheint, als könne das Feuer dieses Satzes niemanden mehr entzünden. Wenn der Satz geglaubt würde, müssten den Christen eigentlich Flügel wachsen, die Gemeinden müssten vor Kraft strotzen, ihre begeisterten Mitglieder müssten an Ostern durch die Straßen rennen und jedem ins Ohr brüllen: »Gott lebt! Wirklich, er lebt!« Stattdessen stehen sie mit allen anderen im Stau auf der Autobahn.
Jesus lebt – das ist heute keine Gewissheit mehr, die das Dasein der Christen beflügelt. Der Satz dient nur als Geschäftsgrundlage einer Funktionärskirche, als gemeinsame Grundannahme, an die man besser nicht rührt, denn niemand könnte heute noch verbindlich sagen, was er eigentlich bedeutet.
Als der heutige Papst noch Kardinal war, hat er einmal gesagt, am Beginn des dritten christlichen Jahrtausends befinde sich das Christentum in einer schweren Krise: Der Wahrheitsanspruch der Kirche werde angezweifelt – als Gründe dafür nannte er die Aufklärung, die Evolutionstheorie und die historisch-kritische Bibelforschung. Vergessen hatte er: Auschwitz. Dort sind mit den Juden auch die letzten noch vorhandenen Reste christlicher Glaubwürdigkeit verbrannt. Schließlich waren es Getaufte, unter deren Hieben die Juden in die Gaskammern getrieben wurden.
Die Schlussfolgerung des heutigen Papstes bleibt dennoch richtig: »Weil es so steht, muss die altmodische Frage nach der Wahrheit des Christentums neu gestellt werden.« Aber die Kirchen der beiden großen Konfessionen rennen vor dieser Frage davon. Sie begründen ihre Existenz nicht mit ihrer Wahrheit, sondern mit ihrer Nützlichkeit. Sie verweisen auf die Caritas und die Diakonie (zu deren Kosten die Kirchen gerade mal 1,8 Prozent beisteuern, der Rest kommt vom Staat und den Sozialkassen); sie betonen ihre Funktion als Hüter der Menschenwürde und Anwälte der Armen (die vom Verfassungsgericht wirksamer geschützt werden); sie fühlen sich wichtig in Ethikkommissionen und als Berater der Politik (die längst aufgehört hat, richtig zuzuhören).
Und die Menschen? Haben sich schon lange abgewandt. Das spüren die Kirchen jetzt dort, wo es sie am meisten schmerzt, in der Kasse. Die Bischöfe beider Konfessionen, erschreckt von den apokalyptischen Prognosen ihrer Kämmerer, holen sich deshalb seit einiger Zeit Rat von den Missionaren einer fremden Religion: der Unternehmensberatung McKinsey. Deren Gesandte halfen gern, wenn auch nicht für Gotteslohn. Genaue Zahlen gibt bis heute keiner der Beteiligten heraus, nur so viel ist klar: Der Rat war ausgesprochen teuer. Also muss er auch gut sein, dachten die Bischöfe, und öffneten sich dem neuen Evangelium, alles sei Markt, auch das Religionsbusiness, und zuvörderst brauche man eine »Konzentration aufs Kerngeschäft«.
Der Effekt: Die Vertreter der Kirchen kämpfen plötzlich als Sinn-Anbieter gegen andere Wettbewerber um die orientierungslose Kundschaft. »Lernen von der Weisheit der Welt« nennen sie das. Sie probieren es mit Marketing, sie glauben tatsächlich, ihre in Jahrhunderten verspielte Glaubwürdigkeit lasse sich mit Werbung, PR, Events und Imagekampagnen im Instantverfahren zurück-gewinnen. Ohne rot zu werden, behandeln sie die Botschaft des Glaubens als Produkt, das es hübsch zu verpacken und zu verkaufen gilt.
Allen Ernstes betrachten sich die Kirchen heute als Unternehmen auf dem Sinnstiftungsmarkt, bezeichnen ihre Mitglieder als »Kunden«, fragen deren Wünsche ab, trimmen ihr »Personal« auf »Kundenorientierung«, offerieren »spirituelle Angebote« und denken über ihre »Corporate Identity« nach. Aus Kirchtürmen sollen »Leuchttürme« werden (und auf deren Spitze kräht der Hahn, um mit der Bibel zu sprechen, dass der Mann am Kreuz schon wieder verraten und verkauft wird).
Der Gottesdienst mutiert zum Kundendienst. Die von Ratzinger beschworene »altmodische Frage nach der Wahrheit des Christentums« wird nicht mehr gestellt. Es geht nicht mehr um Erleuchtung, es geht bestenfalls um die richtige Beleuchtung: Welche neuen Gottesdienstformen, Liturgien, Events locken den modernen Konsumenten in die Showrooms der Kirche? Welche gefühligen Taufzeremonien, welcher professionelle Kommunions- und Konfirmations-Service, welche rauschenden Hochzeits-Events und schicken Selbstfindungspartys könnten die Kirche wieder massenkompatibel und den Kunden spendenbereit machen?
Die Kirche als Gottesdienstleistungsunternehmen. Das gilt vor allem für die Protestanten: Auf den Pfarrkonferenzen und Mitarbeitertagungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) geht es um das »unverwechselbare Profil«, die »Marke evangelisch« – übrigens eine Lieblingsfloskel des EKD-Chefs Wolfgang Huber. Als im Januar die EKD in Wittenberg über ein »Impulspapier zur Zukunft der Kirche« beriet, wunderte sich die FAZ, dass in den Ergebnisprotokollen des Kongresses »organisationstheoretische Floskeln aus der Unternehmensberatung völlig unvermittelt neben religiöser Sprache« standen, und ja, da folgte auf so was wie »quantitative Zielvereinbarungen überprüfen« tatsächlich »das Salz der Erde« und »das Licht der Welt«.
Wir erleben zurzeit, wie die einst unverkäufliche Kreuzesbotschaft von ihren Verkündern umfunktioniert wird zur stromlinienförmigen Wellness-Religion. »Bleib deinen Träumen auf der Spur«, »Finde Quellen innerer Kraft«, »Sei im Einklang mit dir selbst«, »Finde zum Grund des eigenen Lebens« – so steht es geschrieben in den Werbebroschüren zu Meditationswochenenden und für den Aufenthalt im »Kloster auf Zeit«, in kirchlichen Durchhalteblättchen und innerlichkeitstriefenden Büchlein über lässiges Seelengebaumel. Die Einladung zum Tanz ums Goldene Selbst.
Dabei war der Bund mit Gott nie eine Angelegenheit des bloß Geistigen, Innerlichen, das sich ins Jenseits hinüberspiritualisiert, vielmehr etwas, was sich in der Welt in handfesten Strukturen manifestieren muss. Der christliche Glaube war nie als individualistische Privatsache gedacht, sondern als öffentliche, stets auch politische Angelegenheit einer Gemeinschaft. Gott hatte sich sein Volk ursprünglich einmal erfunden, damit es die Not der Welt beseitige. Von einem Rückzug ins Private und einer Delegation dieser Aufgabe an den Staat war nie die Rede, auch nicht davon, dass die Kirche das Geld anderer Leute einsammle und damit die Not lindere. Ein Land, darin Milch und Honig fließen, war Abraham versprochen, nicht ein Land voller Hartz-IV-Empfänger.
Vor zehn Jahren wurde das auch noch von der Kirche gesehen. Damals reagierten die Bischöfe beider Konfessionen in Deutschland auf die wachsende Armut. In einem als »Sozialwort« bezeichneten Papier forderten sie öffentlich »eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit«. Da hatte, vielleicht zum letzten Mal, die alte Volkskirche gesprochen, die noch über eine Ahnung von ihrem ursprünglichen Auftrag verfügte. Es gab damals Widerspruch aus der Welt der Wirtschaft. Genau die Markt-Scholastiker, von deren Weisheit die Kirche heute zehrt, wandten damals gegen das Sozialwort ein, nicht Umverteilung schaffe Wohlstand, sondern wirtschaftliches Wachstum. Nicht Solidaritätsappelle seien die Rettung für Arme, sondern eine wettbewerbsfähige Wirtschaft. Soziale Sicherheit sei nur um den Preis einer gewissen Ungleichheit zu haben. Der Schwache solle daher dem Starken dessen Wohlstand nicht neiden, sondern gönnen.
Dass der Mensch nicht so funktioniert, ist offensichtlich (genau daran ist ja der Sozialismus gescheitert). Die Pointe des christlichen Glaubens aber besteht gerade darin, dass im Weinberg Gottes die Gesetzlichkeit des Egoismus ausgehebelt ist. Da wird der Tüchtige nicht deshalb unternehmerisch tätig, weil er sich einen Platz an der Sonne mit Villa, Meerblick und Porsche erkämpfen will, er möchte am Bau einer Welt mitwirken, in der auch der vom Schicksal Benachteiligte sein Plätzchen an der Sonne erhält. Aber den Starken, der sich von selbst zur Arbeit im Weinberg Gottes verpflichtet, den kann es erst geben, wenn er durch Umkehr und Buße – also: durch das Wunder des Glaubens – dazu verwandelt wird.
Von diesem Wunder ist die Kirche weiter entfernt denn je. Die New Church, die heute nach McKinsey-Blaupausen mit marktgängigen Sinnkonstruktionen dealt, ist höchstens noch Schmiermittel des immer höher drehenden Totalkapitalismus. Sie passt perfekt in die postindustriellen Brachen der Freizeit- und Spaßgesellschaft, in denen sich schon die Beautyfarmen, Badelandschaften und Ayurveda-Tempel angesiedelt haben. Unter den säkularesoterischen Zirkusnummern, die dort gespielt werden, ist ja immer auch noch Platz für ein paar kirchlich-spirituelle. Die Religion wird wieder Opium für das Volk – aber nur noch als eine von vielen Entspannungsdrogen.
Braucht die Welt eine Kirche, die der Weisheit der Welt bedarf? Wartet wirklich irgendjemand auf Rat einer von McKinsey beratenen Kirche? Mag sein, vielleicht können die Kirchen für eine Weile mit den Angeboten der Wohlfühl- und Selbstfindungsindustrie mithalten – aber das wird nicht mehr als ein Sieg auf Zeit. Denn wenn die letzten Gläubigen merken, dass statt Wahrheiten nur noch Worthülsen, statt Botschaften nur noch Bibelhäppchen verabreicht werden, was bleibt dann übrig von der Kirche? Nicht viel. Das finanzielle Überleben des multinationalen »Hochtheologiekonzerns« (eine Wortschöpfung des Moderators und studierten Theologen Gert Scobel) könnte sich so sichern lassen. Sein Volk aber wird sich der liebe Gott künftig woanders zusammenklauben müssen. Frohe Ostern!