Zurzeit liegen in meinem Postfach 35 330 Mails. Ich lösche Nachrichten nur, wenn der Speicher voll ist. Voll ist er bei 5,29 Gigabyte. Ich pendle seit Jahren zwischen 5,28 und 5,29. Der Systemadministrator lacht über mich, aber ich kann nur Vorteile erkennen: Wenn mir langweilig ist, muss ich keine Youtube-Videos schauen, sondern kann mich träumend durch mein Leben scrollen. Zurück ins Jahr 2005, rein in die schüchternen Mails meines ersten Arbeitstags, und wieder vor ins Jahr 2009, als auf einmal diese neue Kollegin vor mir stand, die mich nervös machte und heute längst verheiratet, weggezogen und aus meinem Leben verschwunden ist.
Neulich landete ich im Jahr 2006 und erschrak. Am 7. Juni 2006 hatte mir Christoph Schlingensief eine Mail geschrieben: »hallo herr haberl, ich bin ab übernächste woche in bayreuth. Herzlichen gruß, ihr christoph schlingensief«. Ich las die zwei Zeilen, dann las ich sie noch einmal. In meinem Bauch zog sich was zusammen. Dieser Name, Christoph Schlingensief; diese Beiläufigkeit, »bin ab übernächste woche in bayreuth«. Er, der Künstler, ich, der Journalist, der wieder irgendwas wollte. Bayreuth, schon klar, es ging um die Wagner-Festspiele, sein Parsifal, ich war damals dort gewesen, hatte mitangesehen, wie er auf der Bühne stand und ausgebuht wurde, wie er gelächelt hat, nicht arrogant, eher bescheiden und ein bisschen trotzig. Und jetzt war er tot. Gestorben an Krebs. Ich las diese zwei Zeilen, und obwohl ich ihn nie kennengelernt, nur aus der Distanz faszinierend gefunden hatte, war es, als hätte mich eine Nachricht aus dem Paradies erreicht. Und als wäre das Paradies gar nicht so weit weg, auf jeden Fall viel näher an München als Bayreuth.
Ich scrollte weiter und fand die Mail einer Kollegin vom 22. Oktober 2007: »hast du die nummer von carolin wegen kinderheft? find sie gerade nicht. danke, sabine«. Auf ihrer Beerdigung drei Jahre danach lief Heroes von David Bowie. Eigentlich mag ich keine Popmusik, wenn es ums Sterben geht, aber bei ihr hat es gepasst. Und jetzt war es für einen Moment so, als säße sie mit einem Automaten-Cappuccino im Zimmer nebenan oder ränge vorne am Drucker mit einem Papierstau. Ich mochte sie, weil sie echt und geheimnisvoll wirkte, als würde sie neben der Arbeit ein aufregendes und tragisches Leben führen, von dem ich nicht die geringste Ahnung hatte.
Die dritte Mail war von Roger Willemsen. »Danke, mein Lieber. Für deine guten Worte.« August 2015. Wenige Tage zuvor hatte er seine Krebsdiagnose bekommen. Wir waren keine Freunde, aber ich glaube, wir hätten welche werden können. Nach seinem Tod stand ein Text in der Zeit, in dem sein Verleger aus einem Brief zitierte, den Willemsen – schon um seine Krankheit zum Tode wissend – ihm aus Oslo geschrieben hatte: »eine große Erlösung, schlicht überwältigend, (…) Wie dankbar ist man in diesem Zustand für ein solches Leben, diese Zugewandtheit und Bejahung von allem Sinnlichen.« Genau dieser Text fiel mir jetzt ein, und auf einmal stand er vor mir, war alles wieder da, sein langer Körper, sein schnelles Reden, seine unzynische Art, seine liebevoll blitzenden Augen, und ich nahm mir wieder mal vor, ein besserer, ein tapferer Mensch zu werden.
Komisch, dass mich ausgerechnet das flüchtige Medium E-Mail diese Menschen so heftig hat spüren lassen wie lange nicht. Die Nachrichten ploppten so plötzlich auf dem Bildschirm auf, ich konnte mich nicht wappnen und war gerade deswegen: offen und verwundbar. Hätte ich einen Brief gefunden, verstaut in einer Kiste mit Erinnerungen, ich wäre emotional präpariert und längst nicht so angefasst gewesen. Einem Brief ist die Tatsache, dass etwas vorüber ist, eingeschrieben. Erst die lieblose und flüchtig hingeworfene digitale Variante, die sonst so viel Sehnsucht kaputt macht und so viel Tiefe zuschüttet, ermöglichte eine Unmittelbarkeit, einen Sprung in der Matrix, eine Art Wiedersehen. Das Wiedersehen war nicht bedeutend, und es dauerte nur ein paar Sekunden, aber es hat stattgefunden. Ich muss an einen Film denken, der Titel fällt mir gerade nicht ein: Auf dem Dachboden findet eine Frau einen Luftballon, den ihr Sohn, der ein paar Wochen zuvor gestorben war, aufgeblasen hatte. Sie öffnet den Knoten und lässt die Luft, lässt seinen Atem in ihr Gesicht und ins Freie strömen. Ungefähr so war es, diese Mails zu lesen.