Manchmal will ich springen. Von der Besucherplattform der Dresdner Frauenkirche zum Beispiel. Ich stand vornüber gebeugt am Geländer, die Finger um das warme Metall gekrallt, und ich starrte in die Tiefe. Es war August. Wolkenlos, sonnenheiß. Kein Wetter für dunkle Gefühle. Mich drückte kein Unglück. Ich litt nicht unter Depressionen. Ich spürte nur einfach den Drang, meine Finger von dem Metall zu lösen, auf das Geländer zu steigen und jenen Schritt ins Leere zu tun. Das war’s.
Ich habe keine Erklärung für dieses Gefühl und die Regelmäßigkeit, mit der es mich befällt. Stehe ich auf Türmen, Brücken, Klippen, will ich mich, ziemlich oft, hinunterstürzen. Nein, nicht ich. Etwas in mir will sich hinunterstürzen. Ich greife es in letzter Sekunde und reiße es zurück. So fühlt es sich an. Und ich fürchte, es kommt der Tag, an dem ich es nicht mehr rechtzeitig erwische. Von Türmen, Brücken und Klippen in eine metertiefe Leere starrend, empfinde ich mich als Gefahr.
Das Gefühl hat Verwandte. Mal ist es die Lust, meine Geldbörse mit den letzten 200 Euro und der Kreditkarte von der Brücke zu werfen. Mal presse ich die Lippen zusammen, damit ich zu dem netten Bankangestellten oder Geschäftspartner nicht »Du Wichser!« sage. Mein Gegenüber und ich, wir könnten das beide nicht verstehen. Die Konsequenzen wären furchtbar. Fast so, als fiele ich aus siebzig Meter Höhe.
Eine Psychologie-Site im Netz bot den Begriff »Zwangsimpuls« an: »Eine besonders belastende Form der Zwangsneurose.« »Pah!«, dachte ich. In den Foren schlugen solche, die prahlten, das Gefühl sei ihnen unbekannt, auf diejenigen ein, die nach Hilfe suchten: »Du bist ein Fall für die Couch!« Ich sprach eine Freundin auf das Gefühl an. Sie ließ einen kleinen Schrei, vor Wiedererkennenslust. Wir fühlten uns beide erleichtert. »Was ist das?«, rief ich. Sie wusste es nicht. Einmal habe sie eine Psychologin gefragt. Aus Sorge. Die Psychologin habe sie beruhigt. »Ein verbreitetes Phänomen. Vollkommen ungefährlich. Wer den Drang fühlt, zu springen, tut es nicht.« Ein Jahr später war die Freundin tot. Sie war von einem Dachbalken in eine lachhafte Tiefe gesprungen. Mit einem Strick um den Hals. Ich dachte: »Den Psychologen ist nicht zu trauen.«
Ich überlegte, ob sich mein Drang durch Fallschirmspringen besänftigen ließe. Durch einen dosierten Ersatzwahnsinn, sozusagen. Nein, das wäre nicht das Gleiche. Höchstens, wenn ich dem während des Falls zu erwartenden, logischen Folgeimpuls nachgäbe und nicht die Reißleine zöge. Dass ich mich davor fürchte, schließt den Fallschirmsprung aus. Und natürlich meine Angst vor einem solchen Sprung überhaupt. Ich bin keine Draufgängerin. Ich liefere mich ungern Gefahr aus. Wenn ich reite, habe ich Angst zu fallen. Ich spürte nie Lust, mich vom Rücken des Pferdes zu stürzen. Nur von der Golden-Gate-Brücke, beispielsweise.
Am ersten Januar 2004 stellte der amerikanische Dokumentarfilmer Eric Steel zwei Kameras an San Franciscos Wahrzeichen auf. Eine auf Brückenhöhe, eine am Wasser darunter. Steels Team filmte über 365 Tage, 24 Stunden an jedem Tag. Die Brücke ist Traum- und oft Endziel für Selbstmordwillige weltweit. An keinem Ort auf der Welt nehmen sich mehr Menschen das Leben. Seit der Brückenfertigstellung 1937 wurden über 1200 Menschen bei ihrem Sprung in den Tod gesehen oder im Wasser unter der Brücke gefunden. Im Durchschnitt springt alle vierzehn Tage ein Mensch.
Mit einer Höhe von 1,20 Meter ist das Geländer der Brücke »so niedrig, dass selbst ein Siebenjähriger darüber klettern könnte«, so Steel. Wie viele Selbstmörder einem plötzlichen Impuls über die rote Reling folgen, ist nicht zu erfassen. Verteidiger der Suizidprävention sind überzeugt, dass der Selbstmord durch Sprung von einer Brücke weit häufiger im Affekt geschieht als jeder andere Suizid. Vielleicht verleitet das Wasser den einen oder anderen zur Idee, dass der Sprung ein gewinnbares Glücksspiel ist. Auch ich will ja nie sterben. Nur springen.
Wer das Spiel aus knapp siebzig Meter Höhe von der Golden-Gate-Brücke wagt, schlägt nach vier Sekunden Fall mit rund 120 Stundenkilometern auf dem Wasser auf. Der Aufprall gleicht dem auf Beton. Steel wollte diese letzten Momente eines Menschenlebens dokumentieren. Er filmte 23 Sprünge in den Tod. Gegenüber Kritikern verteidigte er das Projekt, sein Team habe, wenn möglich, die Springer von ihrem letzten Schritt abgehalten. Sie konnten vier retten. Die Mehrzahl sprang unerwartet.
Ich sah den Film in einer Februarnacht, allein, mit knapp vierzig Grad Fieber auf dem Wohnzimmersofa schwitzend. Alles zusammen eine schlechte Kombination. Zwei von Steels Springern fraßen sich in mir fest. Der eine, er war der erste Selbstmörder, den die Teleobjektive erfassten, joggte in T-Shirt und kurzen Sporthosen auf die Brücke. Handy am Ohr. Er sprach, lachte, legte aus dem Lauf heraus das Handy auf die Brüstung, seine Sonnenbrille daneben, stieg über das Geländer. Und sprang.
Der andere, ein langhaariger, nicht mehr ganz junger Rocker-Typ in schwarzem Leder, ging auf der Brücke auf und ab. Lehnte sich an das Geländer. Blickte über die Bucht. Strich sich das Haar aus dem Gesicht. Ging ein Stück weiter. 93 Minuten wanderte er hin und her. Dann schwang er sich rücklings auf das Geländer, saß für ein paar Sekunden, stellte sich auf. Und kippte rücklings aus dem Stand in die Tiefe. Wer von den beiden war ich?
Ich dachte an meinen eigenen Gang über die Brücke, zwanzig Jahre war das her. Er war für mich nicht mehr als ein San-Francisco-Muss gewesen. Ich hegte keine Absicht, zu springen. Und doch erinnere ich mich, wie ich, mich über die Reling lehnend, erst über die Bucht nach Alcatraz sah und dann hinab in die Tiefe. Und ich spüre noch dieses Loch, das sich in meiner Magengegend auftat. Eine Beklemmung. Ein Druck. Ein Gefühl, als hätte ich schon den Boden unter den Füssen verloren. Ich löste mich vom Geländer und eilte weiter. Ich fühlte, ich konnte mir auf der Brücke nicht trauen.
Was war in dem Jogger und in dem Rocker vorgegangen? Hatten sie den Sprung geplant? Oder waren beide jenem plötzlichen Drang erlegen? Möglich. Einer der vielen, die über die Jahre sprangen, hatte zum Abschied notiert: »Absolut kein Grund. Abgesehen davon, dass ich Zahnschmerzen habe.« Hatte die Brücke, das Wasser, die Bucht, oder alles zusammen, etwas in ihnen ausgelöst, das in seiner letzten Instanz nicht mehr beherrschbar war? Nicht nur für sie. Für uns alle. Davor hatte ich Angst.
Ken Baldwin ist einer von 26 Menschen, die den Sprung von der Golden-Gate-Brücke überlebten. Im August 1989 kletterte er, 28, schwer depressiv, über die Reling, mit der Absicht, »zu verschwinden«. Jenseits des Geländers verharrte Baldwin, wie nahezu alle Golden-Gate-Springer, auf dem achtzig Zentimeter breiten Stahlvorsprung, der »Saite«. Er zählte bis zehn und stand starr. Er zählte noch einmal bis zehn. Und sprang. Der Augenblick, als seine Hände sich vom Geländer lösten, hat sich ihm ins Gedächtnis gebrannt. Noch während er sich von der Saite stürzte, wurde ihm »schlagartig klar, dass alles in meinem Leben, was ich für unreparierbar gehalten hatte, ganz und gar reparierbar war. Mit Ausnahme dieses Sprungs.« Das, so stelle ich es mir vor, müsste auch ich fühlen: eine hektische Reue. Die verzweifelte, tränentreibende Not, jenen Schritt schnell-schnell, bitte-bitte rückgängig zu machen. Und es nicht zu können. Es ist die Vorstellung dieser letzten, panischen Sekunden, die mich vom Springen abhält. Sie schreckt mich mehr als der Tod.
Im vergangenen Jahr fanden Wissenschaftler in Florida für den bedrohlichen Drang einen Namen: high place phenomenon (HPP). Höhenphänomen. Die Psychologiedoktorandin Jennifer L. Hames hatte mit Kollegen die eigenen Erfahrungen mit dem Gefühl diskutiert. Sie hofften, Sigmund Freuds Theorie erhellen zu können, dass manche Menschen einen starken Todeswunsch hegen. Und dass manche Selbstmorde im Affekt geschehen. Ohne jede Vorwarnung, ohne Anzeichen von Depression.
Die Forscher fragten 431 Psychologiestudenten: »Wie oft erleben Sie das Phänomen? Wie sensibel sind Sie gegenüber Ihren Ängsten, genauer: gegenüber deren Begleiterscheinungen? Wie Zittern. Herzrasen. Atemnot.« Denn schon sie können von dem, der sie erfährt, als Gefahr gedeutet werden. Ein Drittel der Befragten gab an, wenigstens einmal den Sog in die Tiefe gespürt zu haben. Zwar bekannten sich Teilnehmer, die schon einmal an Selbstmord gedacht hatten, häufiger dazu. Doch kannte auch über die Hälfte derjenigen, die nie mit dem Gedanken gespielt hatten, sich das Leben zu nehmen, den Sog. Das Höhenphänomen war in beiden Gruppen gleich weit verbreitet.
Die Forscher fanden einen Zusammenhang zwischen HPP und der Sensibilität der Befragten gegenüber ihren Ängsten. Die nahm bei akutem Selbstmordwunsch ab. Tatsächlich war die Verbindung zwischen HPP und dem eigenen Angstbewusstein am stärksten bei denjenigen Teilnehmern, die nie oder kaum je mit dem Gedanken spielten, sich selbst zu töten. Es sah aus, als habe die Psychologin damals doch recht gehabt: Wer Angst hat, er könne springen, tut es nicht. Jedenfalls nicht in Florida.
Zur Erklärung entwarfen die Forscher ein Szenario: Eine Person mit starker Verbindung zu ihren Ängsten lehnt sich über den Rand des Grand Canyon. In einer extrem schnellen Reaktion auf die körperlichen Anzeichen ihrer Furcht zwingt ihr Überlebenstrieb sie, vom Canyon-Rand zurückzuweichen. Wenn sie sich aus sicherer Distanz die Kante anschaut, erkennt sie sie als stabil. Sie war nie in Gefahr. Ihr Gehirn sucht nach einer Antwort auf die Frage: »Warum bin ich zurückgewichen, wenn es doch sicher war?« Ihre logische Schlussfolgerung ist: »Ich muss versucht gewesen sein, zu springen.« Jennifer L. Hames veröffentlichte ihre Studie unter dem Titel: »Der Drang zu springen, ist der Beweis für den Drang zu leben.«
Ich las das und verstand: »Ich bin für mich keine Gefahr. Im Gegenteil.« Mein vermeintlicher Drang zu springen ist ein Missverständnis. Ich habe das instinktive Bedürfnis, mich in Sicherheit zu bringen, als einen Sog in die Tiefe missdeutet. Ich will nicht springen. Werde nicht springen. Ich, und alle, die mit mir fühlen, sind nicht unbedingt »ein Fall für die Couch«. Tatsächlich spiegelt unser Misstrauen gegenüber uns selbst eine innige Verbindung zu unseren Gefühlen wider. Unseren extrem ausgeprägten Willen zu leben. Ich dachte: »Touché, ihr Foren-Idioten! Ihr braucht den Therapeuten!«
Nach Ablauf des Filmjahres sprach Eric Steel mit Freunden und Angehörigen der Gesprungenen. Der Mann in Leder war Eugene »Gene« Sprague. Sohn einer Mutter, die ihn nicht wollte. Sprague, zeit seines Lebens ziellos und depressiv, hatte oft von Selbstmord gesprochen. So oft, dass ein Freund, als Gene ihn von der Brücke aus anrief und ankündigte, jetzt zu springen, entnervt sagte: »Mensch, hör doch auf!« Dann legte der Freund auf. Er weinte, als er es erzählte. Die Motive des Joggers, der Handy, Sonnenbrille und sein Leben scheinbar so nonchalant beiseitelegte, sind unbekannt. Möglicherweise tat ihm sein Sprung für vier lange Sekunden leid. Ich will es nicht erfahren.
Wenn Sie von Suizidgedanken betroffen sind, kontaktieren Sie die Telefonseelsorge (telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.
Foto: Getty Images / Lamarr Golding