Vor Kurzem«, erzählt die Hebamme, »kam wieder eine Listen-Frau.« Sie erkenne die Listen-Frauen mittlerweile gleich, sagt sie, die würden schon skeptisch gucken, wenn sie zu Beginn bloß die Herztöne des Kindes messen will. Acht Listen-Frauen hat sie bisher bei der Geburt begleitet. Sechs dieser Geburten endeten mit einem ungeplanten Kaiserschnitt. Es kam ganz anders, als die Listen-Frauen es auf ihren Geburtswunschlisten notiert hatten. »Eigentlich«, sagt die Hebamme, jung, motiviert, beliebt, die in einer großen Münchner Klinik arbeitet, »will ich keiner Gebärenden mit Vorurteilen begegnen!« Aber, so leid es ihr tue: Es hätten sich bei ihr und ihren Kolleginnen einige Vorurteile gebildet gegen die Schwangeren, die sie Listen-Frauen nennt. Heikel, das alles. Deswegen will sie selbst hier nur »die Hebamme« heißen.
Der Muttermund der letzten Listen-Frau war keine drei Zentimeter geöffnet, als sie mit ihrem Mann im Kreißsaal ankam, sagt die Hebamme. Sie erklärte der Listen-Frau, dass sie noch spazieren oder etwas essen gehen könne, erst bei etwa acht Zentimeter Muttermundöffnung beginnt die entscheidende Phase der Geburt. Aber da wurde die Listen-Frau unfreundlich und sagte, sie wolle solche Zentimeterstände nicht hören, das störe. Außerdem, sagte die Listen-Frau, spreche sie nicht von »Wehen«. Aber das dachte sich die Hebamme bereits. Sie musste nicht auf die Liste schauen, die ihr die Listen-Frau gab. Es war die Liste mit den verbotenen Wörtern.
Statt »Wehe« soll man »Welle« sagen. Statt »Schmerz« »Spannung«. Statt »Komplikationen« »spezielle Umstände«. Statt »Schleimpropf«, und das wenigstens gefällt der Hebamme, »Gebärmuttersiegel«.
Der Mann der Listen-Frau legte eine dieser Mantra-CDs in das kleine Abspielgerät im Geburtszimmer. Vierzehn Stunden und eine Periduralanästhesie später wurde die Listen-Frau in den OP geschoben. Kaiserschnitt. Bevor die Listen-Frau vor Glück weinte, weil sie ihr Kind in den Händen hielt, weinte sie, weil sie glaubte, versagt zu haben. »Mal ehrlich«, sagt die Hebamme, »mir reicht’s langsam mit diesem Hypnobirthing!«
Dabei ist jenes Mentaltraining namens Hypnobirthing, das in den USA seit gut zwanzig Jahren angewandt wird, in Deutschland recht neu: Schätzungsweise 6000 Kinder wurden hierzulande unter Hypnose der Mütter geboren, aber die Tendenz ist laut Geburtshäusern und Kliniken steigend. Bekannt wurde Hypnobirthing durch die britische Prinzessin Kate, die beide Kinder nach dieser Methode zur Welt gebracht haben soll. Aus Großbritannien stammt auch das Standardwerk, auf dem alle modernen Ratgeber basieren: Der Londoner Gynäkologe Dr. Grantly Dick-Read veröffentlichte 1933 das Buch Mutterwerden ohne Schmerz. Die natürliche Geburt, eine Art Bibel der Bewegung. In Deutschland gibt es heute 138 ausgebildete Hypnobirthing-Kursleiterinnen. Sie verlangen bis zu 500 Euro für einen Geburtsvorbereitungskurs, in dem Frauen lernen, sich mit Hilfe von Entspannungsübungen, Atemtechniken und des Partners in eine Trance zu versetzen, die eine »schmerzfreie« Geburt ermöglichen soll.
Aber da widerspricht Angela Morin. Sie lehrt das Hypnobirthing in München. Morin sagt: »Ich distanziere mich von diesem Schmerzfrei-Versprechen. Schmerz ist etwas ganz individuell Empfundenes. Ich verspreche eine angstfreie Geburt!« Die Frauen, sagt Morin, lernten bei ihr, zuversichtlich in die Geburt zu gehen. Der Körper einer Frau sei optimal für das Gebären eines Kindes gebaut, eine Geburt sei der normalste Vorgang der Welt, sagt Morin. Schmerzen entstünden erst, wenn der Gebärmuttermuskel sich aufgrund der Erwartung von Schmerz nicht entspannen könne. Deswegen übten die Frauen bei ihr, ihre Endorphine zu aktivieren, in einen Tunnel zu kommen. »Hypnobirthing ist Gehirnwäsche«, sagt Morin, »wir blenden alle negativen Gedanken aus!« Die Ungewissheit. Die Aufregung. Die Horrorgeschichten, die Mütter und Freundinnen erzählen. Alles Störende. Deswegen die Liste: Der Körper reagiert auch auf Wörter. Sie sei keine Esoterikerin, sagt Morin, sie gebe den Frauen ein Werkzeug an die Hand.
Es gibt US-amerikanische Studien, die besagen, dass es durch Hypnobirthing seltener zu Kaiserschnitten oder dem Einsatz von Schmerzmitteln kommt. Morin sagt, dass alle Kundinnen, egal wie die Geburt verlaufen sei, zufrieden seien. Aber sie gibt zu, dass die am zufriedensten waren, die zu Hause oder in einem Geburtshaus geboren haben, in einem verständnisvollen Umfeld. In der Klinik sei es schwieriger, abzuschalten. Viele Frauen fühlten sich dort bevormundet. »Manch- mal habe ich das Gefühl, die Hebammen sind genervt davon, dass die Geburt nicht nach ihren Vorstellungen ablaufen soll.«
»Manchmal habe ich das Gefühl, in den Hypnobirthing-Kursen wird vor uns gewarnt. Die Frauen kommen oft in einer Abwehrhaltung hier an«, sagt Jana Friedrich, Klinik-Hebamme in Berlin, die den hebammenblog.de betreibt. Auch sie hat schon einige Hypnobirthing-Geburten begleitet und auch sie wunderte sich mit der Zeit, warum fast alle dieser Geburten ausgerechnet mit einem Kaiserschnitt endeten. Ihre Erfahrungen widersprechen den positiven Studien. Friedrich sagt: »Ich habe das Gefühl, dass die Frauen ein so festes Bild davon im Kopf haben, wie ihre Geburt verlaufen soll, dass sie auf Veränderungen nicht reagieren können. Sie haben keinen Plan B.« Friedrich sagt auch: »Eigentlich sind Hypnobirthing-Patientinnen ja ein Traum: Frauen, die sich gut vorbereitet haben, die sich eine schöne Geburt wünschen – das wollen wir doch auch.« Trotzdem hätten viele Hebammen grundsätzlich eine andere Sicht auf die Geburt: »Wir sagen, dass Ängste dazugehören.«
Das Thema ließ Friedrich keine Ruhe. Sie machte eine Umfrage unter Frauen, die nach Hypnobirthing entbunden haben. Oft hörte sie, da sei zwar ein Schmerz gewesen, aber ein erträglicher, sie hörte viel Zufriedenheit – aber wieder: nur unter den Frauen, die nicht in ein Krankenhaus gegangen waren. Die Klinik-Patientinnen unter den Hypnobirtherinnen sagten: Da war kaum Vertrauen, nur Routine, ich konnte mich nicht entspannen. »Wir Hebammen«, sagt Friedrich, »sollten bei aller Skepsis überlegen, woran es liegt, dass das Hypnobirthing im Klinik-Umfeld nicht funktioniert.« Friedrich sagt, alle Hebammen wollten in den Kreißsälen eine angenehme Atmosphäre schaffen. Aber vielleicht gelingt das nicht immer?
Die Hypnobirthing-Lehrerin Angela Morin sagt, sie treffe immer mehr Hebammen, die sich zu Hypnobirthing-Lehrerinnen ausbilden lassen – aber nicht nur aus Überzeugung, sondern weil es lukrativ ist. Es sind freiberufliche Hebammen, für die sich durch die gestiegenen Haftpflichtversicherungsbeiträge die außerklinische Geburtshilfe nicht mehr lohnt. Möglich, dass vielerorts bald Hebammen für Hausgeburten fehlen. Dann werden noch mehr Hypnobirthing-Frauen in die Kliniken kommen. Deswegen denkt Morin jetzt an Infokurse für Krankenhaus-Hebammen, die Idee gefällt auch Jana Friedrich: »Wir müssen aufeinander zugehen«, sagt sie.
Friedrich stellt dann eine grundsätzliche Frage: »Warum haben viele Frauen eigentlich den Wunsch, eine andere Geburt zu erleben?« Der Gynäkologe Dr. Dick-Read schrieb dazu: »Die Geburt an sich ist ein ganz normaler und natürlicher Vorgang, der nur im Zeitalter der Angst und der Neurosen zu einem schmerzhaften Operationsakt degenerierte.« Heute werden Schwangere vom ersten Tag der Schwangerschaft an medizinisch so intensiv betreut wie noch nie. Dadurch werden Probleme schnell entdeckt. Aber dadurch wächst auch die Verunsicherung. Deutschland hat eine Kaiserschnittrate von 32 Prozent, der Anteil hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren annähernd verdoppelt. Die Weltgesundheitsorganisation hält nur eine Rate von 15 Prozent für medizinisch begründet. »Womit die Hypnobirthing-Lehre total recht hat«, sagt Jana Friedrich, »ist, dass eine Schwangerschaft keine Krankheit ist und eine Geburt nichts Pathologisches.« Das Hypnobirthing mag noch ein Randphänomen sein, beliebt vor allem bei Eltern, die viele Sorgen und noch mehr Geld haben und der Schulmedizin misstrauen, aber in einer Gesellschaft, in der ein Markt ist für Kurse gegen die Angst vor der Geburt, da herrscht zu viel Angst, findet Jana Friedrich.
Angela Morin sagt: »Es ist schon schizophren, dass wir den Frauen heute so aufwendig erklären müssen, was eigentlich intuitiv klappen sollte.« Denn eine Liste, das weiß auch Morin, gehört sicher nicht zu einer natürlichen Geburt dazu, was auch immer das sein soll.
Illustration: Dennis Busch