Bei Tante Helga gab es Werther’s-Echte-Bonbons. Helga war eine Nachbarin, keine echte Tante, aber sie versorgte uns, als wäre sie mit unseren Müttern verwandt genug, um ihnen eins auszuwischen. Ich habe nie leckerere Bonbons gegessen. Aber ich habe mir nie selbst welche gekauft.
Es gibt eine ganze Reihe solcher Lebensmittel. Ich mag Fleischsalat, aber ich kaufe ihn nicht. Genau wie After Eight, Trinkjoghurt mit Erdbeergeschmack und Datteln im Speckmantel. Mag ich alles, sogar sehr. Aber jedes Mal, wenn ich den Wagen durch die Supermarktregale schiebe, kaufe ich die gleichen Dinge aus einem sehr begrenzten Kreis möglicher Produkte, so als hätte ich eine innere Whitelist dessen, was überhaupt möglich ist. Und After Eight stehen halt nicht drauf. Ich meine, wer mag sie nicht? Aber ich kenne niemanden, der sie kauft.
Gleichzeitig könnte ich anhand dessen, was auf dem Esstisch steht, die meisten meiner engeren Freunde und Familienmitglieder erkennen. Es gibt Fleischwurstfamilien und Krabbensalatfamilien und solche mit mehreren Sorten Käse, alle sind sie Gewohnheitstiere, und das ist nicht überraschend, aber in diesem Ausmaß doch: Wahrscheinlich könnte jede Familie für jedes einzelne Produkt auf dem Tisch ein anderes nennen, das mindestens genauso lecker ist – aber sie kaufen es nicht. Sein Essen wechselt man im Leben wahrscheinlich nur, wenn man zu Hause auszieht, wenn man mit einem Partner zusammenzieht und wenn man Kinder kriegt. Vielleicht noch mal nach der Scheidung. Alles andere ist Gewohnheit.
Das ist eines der Probleme der Nahrungsmittelindustrie und gleichzeitig das finanzielle Rückgrat von vielen Werbeagenturen: Neue Produkte haben es unendlich schwer und verschwinden schneller wieder vom Markt als unabgeschlossene Fahrräder vom Bahnhofsplatz. Gleichzeitig müssen auch Lebensmittelkonzerne wachsen, so funktioniert Kapitalismus, und weil wir nicht ständig immer mehr essen, sind ihre Produkte wie Autos: Jedes Jahr haben sie ein paar mehr Funktionen. Sie aktivieren Abwehrkräfte oder sind probiotisch oder irgendwas mit vital und natürlich teurer als das alte Modell. Sie machen schön oder stark oder glücklich, je nachdem was man glauben möchte, und sie haben regelmäßig gemeinsam, dass wir sie alle nicht kaufen. Weil wir ja unseren Schinken haben und diese eine Nussmischung, und für die Abwechslung ist gerade schon Spargelsaison. Und ja, ich habe damals die neue Würzauflage des Schlemmerfilets à la Bordelaise probiert, aber ich bin weiter für classic. Neue Rezepte sind etwas für Waschmittel. Die Konzerne müssen hart arbeiten, bis tatsächlich mal ein neues Produkt verfängt – was gleichzeitig den Vorteil hat, dass erfolgreiche nicht verschwinden. Es gibt Helgas Bonbons noch, und es wird sie lange geben, da bin ich sicher. Der einzige echte Schlag, den ich in meinem Esser-Leben hinnehmen musste, war der Fall von Brauner Bär. Dieses Langnese-Eis schmeckte bei keinem Revival mehr wie früher. Und Afri-Cola hat zwischendurch mal sein Rezept geändert, aber das ist was für Nerds. Trotzdem, und schon deshalb würde ich nie etwas wirklich Neues ausprobieren: Was, wenn mein Stammprodukt in dem Moment, in dem ich ihm untreu werde, vom Markt verschwindet, weil ich dann der eine Kunde zu wenig bin?
Das Irrwitzige ist auch, dass die meisten Gewohnheiten beim Essen unsinnig sind. Und willkürlich. Wir könnten einigermaßen gesunde und maßvolle Gewohnheiten haben, aber alles weist darauf hin, dass wir sie nicht haben, vor allem die Supermarktregale, in denen das Foto auf der Vorderseite und die Zutatenliste auf der Rückseite einer Verpackung ungefähr so viel miteinander zu tun haben wie Surimi mit Shrimps – man kann etwas daraus herstellen, was an das angebliche Produkt erinnert, aber wenn Nahrung ein Partner wäre, würde man sich ungern ein Leben lang so belügen lassen. Trotzdem bleibt man dabei.
Dabei kann man natürlich jederzeit seine Gewohnheiten ändern, da sind wir wieder beim Zusammenziehen mit dem Partner. Die Geschwindigkeit, mit der man da neue Gewohnheiten entwickelt, ist bemerkenswert: »Unser« Prosecco, »unsere« Frühstücksauswahl und »unser« tolles Brathähnchen – selbst wenn man es vorher nie gegessen hat. Es sind heute angeblich bis zu achtzig Prozent der behandelten Krankheiten in Industrieländern lebensstilbedingt, und ich bin sicher, man könnte die Hälfte davon ausrotten, wenn man frisch Zusammengezogene aus Supermärkten ausschließen und sie stattdessen auf den Wochenmarkt schicken würde, auf dass sich ihre Gewohnheiten dort herausbilden mögen. So einfach, zack. Stattdessen hat plötzlich jeder »sein« weißmehliges Sonntagsbrötchen, das er in Wahrheit haargenau so gern mag wie praktisch jedes andere, das aber nun für immer seins ist, weil er es beim ersten Sonntagsfrühstück willkürlich ausgesucht hat. Das bleibt so. Weil es in Wahrheit nicht die Liebe ist, die durch den Magen geht, sondern das Gefühl von Zuhause. Und im besten Fall schmeckt es classic.
Illustration: Eugenia Loli