Antonia weiß alles. Meine Freundin ist schwanger. Unser zweites gemeinsames Kind. Unser erstes, Antonia, wird sechs. Antonia weiß, dass Mama jetzt immer kotzt am Anfang. Sie kann mit Mamas Stimmungsschwankungen umgehen. Sie hat Angst, dass das Kind, wenn Mama und Papa streiten, »verloren gehen« kann (»Seid bitte leiser!«, ruft sie dann). Ein Kind ist ja schon verloren gegangen – »mit viel Blut kommt es raus und dann ist es tot«. Das soll jetzt nicht wieder passieren. Deshalb müssen wir alle lieb sein zu Mami. Das Kind ist übrigens zehn Wochen alt und 17 Millimeter groß und sieht noch aus wie eine Kaulquappe. All das ist Antonia
geläufig. Wir besitzen nämlich ein Exemplar von »Ein Kind entsteht«, dem Bildband mit den Mikroskopsonden-Fotos von Lennart Nilsson. In der Werdende-Eltern-Szene ist Nilsson Kult. Ein weltweit millionenfach verkauftes Buch. Die Fotos sind einzigartig. Wie hat er die gemacht? Heute gibt es hässliche Gerüchte, sie seien fotografiert an kurz zuvor gestorbenen Schwangeren. Aber so Erwachsenen-Ekelkram interessiert Antonia nicht. Auch nicht, wie das Baby in den Bauch gekommen ist. Das ist einfach da. Wieso auch nicht?
Max weiß sowieso alles. Er ist zwölf, aus der ersten Beziehung meiner Freundin. »Hast du die neue FHM mitgebracht?«, mault er mich an. »Nee, die gibt’s noch nicht. Was ist eigentlich so toll an der FHM? Von Fußball verstehen die doch nichts.« – »Aber das Extra! Ein Axe Clicker, verstehst du, das ist geil und das gibt es sonst nicht.« Und würde sich ohne Zweifel gut einfügen in Max’ Deo-Sammlung, all die dunkelblauen Dinger, die in Reih und Glied im Regal stehen, vor den Banzai-Bänden. In England ist das »Sex-Deo« unter Kindern so populär, dass Unterricht nur noch bei offenem Fenster möglich ist. Für Max ist die Pubertät im Moment vor allem eine Frage des Geruchsmanagements. Über allem liegt der nachhaltige Dunst von Axe. Aus diesem Dunst schält sich ein cooles Wissen über eigentlich alles, aber auch das Gefühl, dieses Alles sei ein bisschen überschätzt. In der Bravo ist eindeutig zu viel davon drin und zu wenig über Leute wie 50 Cent. Die Nacktfotos von den Bravo-Lesern findet Max peinlich. Ist definitiv uncool. Sonst sieht der Zwölfjährige die Fortpflanzungswelt nicht so viel anders als Antonia. Blättert gern in Ein Kind entsteht. Liebt es aber auch, am Eltern-Rechenschieber rumzumachen, mit dem man zum Beispiel von der Schwangerschaftswoche auf den Befruchtungstermin zurückrechnen kann. »Hätte da mal ne kleine Frage«, knarzt Max dreckig, »was habt ihr eigentlich in der Nacht vom 10. auf den 11. Februar so gemacht?« Den Aufklärungsunterricht am Gymnasium findet Max »geht so«. »Neulich hatten wir die Entjungferung«, erzählt er, als Lehrmittel ein Video. Der Inhalt: Ein Junge spielt den Penis. Zunächst in der Hocke, richtet er sich auf und wird damit zum erigierten Penis. Klar. Und wie er sich schön streckt – schwupps!, kommt ein Mädchen mit einer Art Schmetterlingsnetz und stülpt es ihm über, und der Junge, der den erigierten Penis spielt, springt ein Stückchen in die Höhe, und ratsch, durch ist das Netz! Das war sie, die Entjungferung. Max findet den Film »voll bescheuert, aber irgendwie auch gut«. Anna weiß am meisten. Sie ist 16 und hat ihren ersten Freund. Für ein Interview mit ihrem alten Vater zum Thema Aufklärung hat sie eigentlich keine Zeit. Daher gerät es auch ganz kurz: »Anna, kannst du dich eigentlich erinnern, habe ich dich aufgeklärt?« – »Was heißt aufgeklärt?« – »Über Sex und so.« – »Nee.« – »Wer hat dich aufgeklärt?« – »Keiner.« – »Keiner?« – »Vielleicht die Geschwister. Weiß ich aber nicht.« – »Wurdest du in der Schule aufgeklärt?« – »Ja, klar, Bio.« – »Und wie war das.« – »Das war cool.«
Sara ist 18, meine älteste Tochter, und auch sie habe ich nicht aufgeklärt. Weihnachten vor zwei Jahren bekam ich einen Rappel und brachte für Sara aus dem 2001-Laden ein anderes Aufklärungsbuch mit, ich dachte, damit eine ähnlich gute Investition zu tätigen wie mit dem Buch Ein Kind entsteht. Es war ein Pop-up-Buch mit allerhand 3D-Röntgen-Darstellungen über die Schwangerschaft. Sara hat es kein einziges Mal aufgeschlagen. »Das wusste ich schon alles«, erklärt sie jetzt im Nachhinein, »und ich war gekränkt, dass du dachtest, ich wüsste es nicht.« Ach herrje, ich geschiedener Vater, der die eigenen Kinder nicht kennt, ein Leben lang soll ich brutzeln in der Hölle der Schuldgefühle. »Okay, Schwangerschaft und so, das kriegt man ja in Bio mit. Aber richtig Sex, was so abgeht beim Sex, woher weißt du das? Sei ehrlich, Sara.« – »Vielleicht aus der Bravo, vielleicht aus »Gute Zeiten, Schlechte Zeiten«. Aber es hat mir jedenfalls niemand sagen müssen, so wie eine große Mitteilung. Das hätte ich auch lächerlich gefunden.«
Früher war die Welt mehr ein Ertappen. Eins nach dem anderen. Mandeln, Blinddarm, Erstkommunion, Firmung, Führerschein – irgendwann zwischen Erstkommunion und Führerschein die Aufklärung, fertig war der Bundesbürger. Die Aufklärung war eine mehr oder minder punktuelle Maßnahme, ein Einbürgerungstest ins wilde und gefährliche Land der Sexualität, das 1968 eine Zeit der Masseneinwanderung erlebte.
Sie war die perfekte Welle, die Aufklärungswelle. Die Enttabuisierung der Sexualität und die Aufklärung über Sexualität und Fortpflanzung waren prägende Themen der sechziger und siebziger Jahre. Im Kino und in den Illustrierten wurde die Sexualität gefeiert wie heute die Diäten, in den Schulen wurde Sex zum Unterrichtsgegenstand. Die Waffe der Familie in der Aufklärungsschlacht war zwanzig Jahre lang das Aufklärungsgespräch gewesen, der angestrengte Versuch, beim Thema Fortpflanzung die Sinnstiftungshoheit zu bewahren. Der Vater drückte sich meist, bei der Mutter blieb es hängen. Wenig ist über diese Gespräche überliefert. Das Aufklärungsgespräch war meist irgendwie feierlich, obwohl es genau das ja nicht sein sollte. Der Aufzuklärende war so zwölf. Doch der Wissensdurst der Kinder entpuppte sich oft als seltsam verhalten. »Und wenn dein Penis dann erigiert ist, dann kannst du ihn vorsichtig in die Scheide des Mädchens einführen…« Igitt! »Mama, ist noch ein Himbeereis da?«
So viel Brimborium um die Gespräche gemacht wurde, keiner kann sich daran erinnern, was eigentlich besprochen wurde. Auch Freunde, die inzwischen selbst Eltern sind, vergessen schnell, was sie ihren Kindern erzählt haben. Es scheint so zu sein: Das Aufklärungsgespräch war schon immer ein hohler Popanz, für irgendetwas anderes gut, aber ohne Bedeutung für den eigentlichen Zweck.
Im Internet findet man unter dem Suchbegriff »Aufklärungsgespräch« Anleitungen zum Umgang mit Krebskranken. Kindern und Jugendlichen stehen heute unendlich viele Informationsquellen zur Verfügung, wenn sie was über Sex wissen wollen. Sie haben unendlich viele Fragen, die sie übrigens am liebsten schriftlich stellen. Deshalb sind Briefe, Zettelkästen und Internet die guten Medien, der Unterricht in der Klasse ein eher schlechtes. Sie haben Fragen wie: Wie küsst man richtig? Mögen Jungen nur Supergirls? Ich habe meinen Freund nur erfunden. (Mädchen) Wie küsst man richtig? Beim Onanieren erwischt! Ich will nicht mehr ins Schwimmbad (Jungen; gesammelt an einem Hamburger Gymnasium). Und sie bekommen unendlich viele Antworten, bessere Antworten, schlechtere Antworten, wie Medien so sind. Aber es bleibt keine Frage unbeantwortet. Entsprechend entspannt gehen Zwölfjährige heute die Sache an: »Geil! Ich komme in die Pubertät«, entfuhr es unserem Max beim ersten Barthaar.
Neu ist, dass sich die verschiedenen Aufklärungsjargons angeglichen haben: die grelle Sprache einer Bravo, der gezierte Stil der Ministeriumsbroschüren, der harsche Sound der Straße. Günter Amendts einst aufrührerisch klingender Ton (Sexfront) ist dreißig Jahre später im Mainstream aufgegangen. »Die Mola (Morgenlatte) hält nur bis zum ersten Piss, dann fällt sie wieder zusammen«, heißt es in Amendts Aufklärungs-Bestseller aus dem Jahr 1970. Heute, in Angela Merkels Deutschland, nimmt die Broschüre der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung denselben Begriff mit der reflektierenden Nachfrage auf: »Wie kommt es nun zur Morgenlatte?« Tja? Hmm? Selbst dem Analverkehr, einer Jugendlichen eher fernliegenden Praxis, steht die Bundesbroschüre sympathisierend gegenüber, nur »Vorsicht und Behutsamkeit« werden angemahnt und natürlich ein »dickwandiges Kondom mit wasserlöslichen Gleitmitteln«. Alles klar!
Das ist natürlich alles irre unromantisch. Keine schweißnassen Hände, kein Mysterium, kein Skandal. Keine verbotenen Bücher. Kein Aufklärungsgespräch mehr. Anstatt dessen all die fitten Selbstaufklärer, mit ihren tausend Quellen, die sie sich selbst zusammenpuzzeln, um sie im nächsten Moment gleich wieder zu vergessen? Die Aufklärung ist überall und sie ist nirgends. Die Four-Letter-Words fliegen schon im Kindergarten rum, das Rollenverhalten wird in der Disco imitiert und im Prinzip beginnt die sexuelle Prägung im Säuglingsalter – und du kannst gar nichts machen dagegen. Es passiert, wenn du wegschaust. Der Anspruch der über mehrere Fächer verteilten Sexualpädagogik in der Schule ist daher heute ein umfassender; aus der früher sturen Aufklärung ist eine Art Lebenskunde geworden. Von »Gefühle zeigen, zulassen und unterscheiden« bis »Moden und Gruppenzwänge unterscheiden« ist an Themen alles geboten, was an der Membran zwischen dem Ich und dem Du liegt. Das Ziel dieser modernen Pädagogik ist es eigentlich, den Menschen durch eine umfassende Seelenbildung in die Lage zu versetzen, sich selbst all das zu holen, was er für sein Leben (inklusive Sexualität) braucht.
Und gelingt diese Erziehung? Mal mehr, mal weniger, man weiß es nicht. Es kursieren ganz unterschiedliche Daten. 15 Prozent der Jugendlichen verhüten beim ersten Mal nicht, beklagt eine Studie – was aber immerhin bedeutet, dass 85 Prozent es tun! Eine andere Studie belegt, dass in der Stadt Hamburg die Zahl der minderjährigen Mütter in den letzten neun Jahren um dreißig Prozent zugenommen hat. Bravo Girl veranstaltet eine große Leserbefragung zum Thema Intimrasur, in der sich herausstellt, dass sich mehr als die Hälfte der Mädchen die Schamhaare rasiert. Die Kinder werden in Gruppen nach den Kriterien »Flaum«, »Gestutzt«, »Natur«, »Glatze« eingeteilt. Jedes fünfte Mädchen wünscht sich eine Schönheits-OP. In den Schulen kursieren Porno-Videos auf den Handys der Schüler. Der androgyne und magersüchtig wirkende Bill der Teenie-Band Tokio Hotel versetzt schon achtjährige, noch mitten in der Prinzessinnen-Phase steckende Mädchen in präpubertäre Ekstasen.
Am Sex selbst verändert sich gar nichts – die Forscher sind immer frustriert, wenn die wahren Daten so gar keine Dynamik entwickeln und selbst im Jahrzehnte-Vergleich wie ein Brett daliegen. Die Spezies Mensch hat das erste Mal Sex im Alter von 15 bis 17, das ist seit Christi Geburt so. Auch die neue »Dr. Sommer«-Studie, rechtzeitig lanciert zum 50. Geburtstag der Bravo, bringt nichts Neues zutage. Aufgedeckt wurden Defizite im Wissen um Verhütung und Fortpflanzung – die »Bravo«-Macher müssen sich aber vorwerfen lassen, mit ihren Kampagnen zur Intimrasur selbst nur bunte Seifenblasen anzubieten.
Vater und Mutter sitzen beim Kaffeetisch, ihr ins Riesenhafte vergrößerte Sohn steckt seinen Penis durchs Fenster und wuppt damit den Kaffeetisch hoch (können Sie sich das vorstellen?) – Kanne und Tassen fliegen wie dereinst beim Zappelphilipp, Vater und Mutter sind geschockt. Das ist das Titelmotiv von Anne und Hans, einem berühmten Comic von 1972, der auf Deutsch im März-Verlag erschienen war. Der Künstler wollte uns damit sagen, dass die Befreiung der Sexualität (= das Hochschnellen des Phallus) eine gesellschaftliche Explosivkraft (= Kaffee kippt) entwickelt.
Mittlerweile hat die Sexualität diese Explosivkraft verloren. Ins Heute übersetzt, wären Hans’ Eltern wohl eher erleichtert, dass ihr Sohn keine Erektionsstörungen hat und sie mit ihm nicht zum Urologen müssen. Dass das Kind eine gesunde sexuelle Entwicklung nimmt, ist heute selbstverständliches Ziel der Erziehung in der Familie. Wobei »sexuell« bedeutet: eine dem Leben zugewandte Entwicklung. Am eigenen Beispiel: Die sechsjährige Antonia und der zwölfjährige Max begleiten uns zum Frauenarzt, fallen mit uns halb in Ohnmacht, wenn aus dem Rauschen des Ultraschalls, poch, poch, die ersten Herztöne zu vernehmen sind, und verlassen die Praxis stolz-geschwellt mit Ultraschallfoto in der Hand. Sie verstanden nach dem Tod meiner Mutter auch: »Papas Mama ist gestorben heute. Er ist traurig heute.« Das Leben ist ein ewiger Kreis! Das kennen die Kinder aus dem »König der Löwen«, und verglichen damit ist die Mechanik des Geschlechtsverkehrs zwar auch nicht übel, aber doch nur eine Banalität, deren Erörterung man völlig sorglos dem Dr.-Sommer-Team überlassen kann.
Hab ich, ich als Vater, alles richtig gemacht? Wie in allen Fragen der Erziehung muss man sich auch hier immer sagen: Du bist nicht Gott. Dir kann nicht alles gelingen, du kannst nicht kontrollieren, welche Informationen Kinder aus welcher Quelle aufnehmen und welche nicht. Ohnehin zählt eher das, was man ist, als das, was man sagt. Am besten ich kümmere mich um mein eigenes Liebesleben, dann haben die Kinder ein gutes Vorbild. Hehe.