SZ-Magazin: Monsieur Lacroix, Sie haben sich mit dem Küssen so intensiv auseinandergesetzt, weil Ihre Frau sich beklagt hat: Sie haben sie zu selten geküsst. Was ist denn in Ihrer Ehe los?
Alexandre Lacroix: Ich habe nicht so viel Wert auf das Küssen gelegt. Meine Frau schon. Sie warf mir vor, gefühllos zu sein. Aber das war es nicht. Für sie schien das Küssen eine Art Liebesbarometer zu sein. Da habe ich mich gefragt, warum ich das Küssen nicht so wichtig fand.
Und?
Ich habe einsehen müssen, dass es der Anfang vom Ende einer Beziehung ist, wenn man das Küssen vergisst.
Hat Sie das überrascht?
Ein bisschen schon. Noch mehr allerdings hat mich etwas anderes überrascht: Ich dachte, wie vielleicht die meisten Menschen, dass Küssen etwas Zeitloses und Universelles sei. Und dass die Menschen, die sich lieben, sich seit jeher auf den Mund küssen. Aber der Kuss als Zeichen der Liebe ist erst mit den großen Liebesfilmen wie Vom Winde verweht um die Welt gegangen, also ungefähr vor siebzig Jahren. Er hat sich ähnlich schnell verbreitet wie die Pizza, die heute auch auf der ganzen Welt gegessen wird.
Wie war es vorher?
Da gab es große regionale Unterschiede. In den meisten afrikanischen Staaten waren die Menschen schockiert und angeekelt, wenn sie Weiße sahen, die sich auf den Mund küssten. In den großen Städten kann man sich dort mittlerweile küssen, aber auf dem Land kommt es so gut wie überhaupt nicht vor. In der Geschichte Asiens lässt sich das Küssen sehr weit zurückverfolgen, aber es war keine Geste der Zuneigung. Man küsste sich nicht, wenn man heiratete, sondern im Bett. Es war eine Sexualpraktik, die manche anwandten, andere nicht.
Ist das heute anders?
Eigentlich nicht. Sie küssen sich dort auch nicht innerhalb von Familien. In den nördlichen Ländern wie Sibirien und Lappland wieder hat man sich mit dem Riechkuss begrüßt: Man legt seine Nase auf die Wange des anderen und atmet tief ein.
Und überprüft, ob man sich gut riechen kann?
Das ist Ihre Interpretation! Ich wäre da vorsichtig. Wir haben die Tendenz, die Sitten anderer nach unserem Weltverständnis auszulegen.
Bleiben wir also bei den Fakten. Die Franzosen sollen Weltrekordler sein im Küssen. Korrekt?
Wenn man den Studien glaubt, küsst sich ein Paar in Frankreich und in Italien ungefähr siebenmal am Tag, in China und Japan nur einmal alle zwei Tage. Darunter fallen bei uns natürlich auch der Gutenmorgenkuss und der Gutenachtkuss. Also wieder die Küsse, die Zuneigung bedeuten.
Woher kommt diese Koppelung vom Kuss an die Zuneigung bei uns?
Der Kuss war in allen monotheistischen Zivilisationen die Geste, die Gefühle am stärksten ausdrückte. Bei den Römern gab es noch drei Worte für den Kuss: Der Kuss innerhalb von Familien, der die Verbundenheit ausdrückte, hieß Basium. Das Osculum ist ein ähnlich unschuldiger Kuss: ein Zeichen der Anerkennung unter Gleichgesinnten. Das Suavium war der Kuss der Liebenden. Aber im alten Rom spielten vor allem das Osculum und das Basium eine große Rolle.
Warum nicht das Suavium?
Es ging um Respekt: Der andere ist mein Alter Ego, er befindet sich mit mir auf Augenhöhe, denn er ist Teil meiner Familie oder meiner sozialen Klasse. Es wäre also niemals vorgekommen, dass ein römischer Bürger eine Prostituierte oder einen Sklaven auf den Mund geküsst hätte. Und ich glaube, dass uns davon einiges geblieben ist.
Heute verweigern die Prostituierten ihren Kunden den Kuss.
Das ist die typische Gegenreaktion. So wie die schwarzen Rapper sich selbst Nigger nennen. Ich meinte, uns ist geblieben, dass man den, den man küsst, achten muss. Die Katholiken haben sich bis ins 13. Jahrhundert hinein auf den Mund geküsst, die orthodoxen Christen tun das bis heute.
Warum haben die Katholiken damit aufgehört?
Man geht davon aus, dass da Einiges aus dem Ruder lief und Papst Innozenz III. den Kuss verboten hat. Auch wenn die Christen nicht mehr küssen durften, hatten sie dem Kuss bereits eine weitere Dimension hinzugefügt: Man ist nicht nur auf Augenhöhe, sondern auch durch etwas Höheres, den Glauben, verbunden. Bei einem Paar ist es ähnlich: Die Liebe zwischen zwei Menschen ist größer als sie selbst.
Finden wir es darum schwieriger, jemanden zu küssen, den wir nicht lieben, als mit ihm oder ihr Sex zu haben?
Natürlich. Wir sagen, dass der Kuss intimer ist als Sex. Das ist ja absoluter Blödsinn. Sex ist viel intimer. Aber beim Geschlechtsakt geht es nicht darum, einander ebenbürtig zu sein, eher im Gegenteil. Und niemand kommt dabei auf die Idee, dass einen etwas Höheres, Göttliches verbindet.
Wenn man einmal aufgehört hat, jemanden zu lieben, fühlt es sich besonders falsch an, ihn zu küssen.
Vielleicht, weil man sich wie ein Verräter vorkommt. Übrigens: Beim Kuss – und das ist fast modern – dominiert keiner den anderen. Nicht der Mann die Frau oder umgekehrt.
Kommt das nicht ein bisschen darauf an? Im Film Vom Winde verweht zwingt Clark Gable Vivien Leigh in seine starken Arme und küsst sie. Dann mag sie es, natürlich.
Clark Gable bemächtigt sich ihrer, stimmt. Aber denken Sie an Burt Lancaster und Deborah Kerr in Verdammt in alle Ewigkeit: Sie verführt ihn. Oder Greta Garbo in Die Kameliendame: Sie bedeckt das Gesicht ihres Partners mit Küssen.
Wie erklären Sie sich eigentlich die bahnbrechende Wirkung des Filmkusses?
Der Kuss war im Hollywoodfilm der Vierziger- und Fünfzigerjahre gleichbedeutend mit der Liebe in all ihren Dimensionen, denn mehr Erotik durften amerikanische Regisseure nach dem Hays Code, einer Art Selbstzensur der großen Studios, nicht zeigen. Es hatte viel Ärger gegeben um Orgien, Affären und die Freizügigkeit in der Ära des Stummfilms. Der Hays Code verbot, den Ehebruch positiv darzustellen, außerdem zweideutige Tänze, sich entkleidende Schauspieler, Bett- und Schlafzimmerszenen. Es gab nur noch den Kuss – und auch der war ja nicht echt. Allerdings sah er sagenhaft gut aus. Viel besser als die späteren Filmküsse, in denen sich die Schauspieler echt mit der Zunge küssten. Unvergesslich, wie Ingrid Bergman Humphrey Bogart in Casablanca bittet, sie zu küssen: als wäre es das letzte Mal.
Welche Bedeutung hat der Filmkuss jetzt?
An James Bond kann man die Entwicklung gut erkennen: In Dr. No von 1962 zittern die Lider und die Lippen der Frau, als Sean Connery sie küsst. Musik, starke Szene, Schnitt, den Sex muss man sich denken. In Stirb an einem anderen Tag aus dem Jahr 2002 schlafen Halle Berry und Pierce Brosnan miteinander, dabei küssen sie sich von Zeit und Zeit. Der Kuss hat kaum mehr Bedeutung, die Szene dient eher dazu, dass alle mal Pause machen können, bevor die Action weitergeht, die viel wichtiger ist als die Erotik. Man kann eigentlich mittlerweile aufs Klo gehen, wenn zwei sich im Film küssen.
Ist der Kuss banal geworden?
Ich hoffe nicht. Aber jeder kann Pornos auf seinem Handy gucken. In der Pornografie geht es immer um Härte, Aggression, Tempo, in der Erotik um Langsamkeit, um das Auskosten, dafür ist vielleicht gerade keine Zeit. Im letzten James Bond, Skyfall, gibt es jedenfalls keine romantische Kussszene mehr. Das hat mich schon bestürzt.
Für Jugendliche geht das Liebesleben aber nach wie vor mit dem Küssen los, oder?
Zumindest tauschen sie sich rege im Internet über Kusstechniken aus. In diesen »How to kiss«-Videos bin ich auf vier Kussarten aufmerksam geworden. Und auf die absoluten No-Gos natürlich auch.
Was geht gar nicht?
Sabbern. Und die Zähne dürfen nicht aufeinanderschlagen.
Und die vier Techniken?
Die meisten jungen Leute empfehlen sich gegenseitig das, was ich die Waschmaschinentrommel-Technik nenne: Die Zungen kreisen ständig und mechanisch umeinander. Etwas elaborierter ist die Pinsel-Technik, bei der die Zungen sich weniger erwartbar verhalten, sondern herumtanzen, hier und da aufeinandertreffen. Bei der Endoskop-Technik untersucht der eine den Mund des anderen richtiggehend. Und die vierte Technik ist schon fast Sex: Der eine penetriert den Mund des anderen mit der Zunge. Weil es keine Bücher gibt darüber, keine Anleitungen, suchen sich die Jugendlichen im Netz Rat.
Haben Sie denn auch herausgefunden, warum Männer eigentlich das Küssen unwichtiger finden als Frauen?
Ich mag diese Beschwörungen der Unterschiede zwischen Männern und Frauen nicht. Ich glaube vor allem, dass der Kuss dann wichtig wird, wenn er einem verweigert wird – was sehr kränkend sein kann. Und vielleicht ist was dran, dass Männer den Kuss peinlicher oder schwieriger finden als Frauen. Weil sie ihn als etwas Feminines betrachten. So jedenfalls sieht es Freud.
Sie wirken aber skeptisch.
Ich denke, dass es eine größere Bandbreite im Verhalten von Männern und Frauen gibt als in Freuds Vorstellung. Für ihn geht ja jedes orale Bedürfnis auf die Erfahrung des Säuglings zurück, der an der Mutterbrust genährt wird. Danach sucht man sich Ersatz, erst den Daumen, dann den Mund des anderen. Und für die Frau ist es nicht weiter problematisch, sich über das Küssen einen Ersatz für die Mutterbrust zu suchen, für den Mann allerdings sehr, denn ihm ist die Verbindung zum Körper der Mutter verboten. Und so kommt er in seiner Lust oder Begierde vollkommen durcheinander. Das kostet ihn, im Extremfall, seine Männlichkeit.
Helen Fisher, eine amerikanische Evolutionsbiologin, sagt: Männer möchten mit dem Kuss die Lust der Frau entfachen, Frauen die Männer auf ihre Tauglichkeit testen.
Ich glaube nicht, dass es für den Kuss verhaltensbiologische Erklärungen gibt. Dann würde ja die ganze Menschheit küssen. Tut sie aber nicht. Bis 1950 hat nur der Okzident geküsst. Ich halte meine kulturgeschichtlichen Erklärungen für viel einleuchtender als den Austausch von Pheromonen.
Es ist unmöglich zu sprechen, wenn man küsst. Könnte das nicht ein Grund für die Männer sein, dem Küssen mehr abzugewinnen?
Wieder so ein Klischee. Und wieder finde ich einen anderen Aspekt interessant daran: Im Unterschied zum Geschlechtsakt, wo man ja stöhnt und spricht und schreit, ist der Moment, in dem man sich küsst, still. Viele schließen die Augen, konzentrieren sich. Und so wenig, wie man während des Küssens redet, redet man auch darüber. Als gäbe es ein vereinbartes Stillschweigen über das Küssen. Man findet regalweise Bücher über Sexualpraktiken, Pornografie, Fetischismus, Sadomasochismus – und fast nichts über das Küssen. Als wäre das Küssen das letzte Geheimnis zwischen den Menschen.
Gibt es, neben Papst Innozenz III., berühmte Kussgegner oder Kussskeptiker?
Voltaire! Er hielt das Küssen für eine theatralische, gekünstelte, verlogene Geste der Aristokraten. Das hat ihn abgestoßen. Aber Voltaire war auch, wenn ich das mal so sagen darf, quasi asexuell. Sein Liebesleben nicht existent. Rousseau hingegen sah im Kuss eine romantische, authentische Geste – und sein Kuss-Verständnis hat uns, zumindest die Franzosen, nachhaltig geprägt. Sein Briefroman Julie oder die neue Héloïse, ein Plädoyer für die Liebesehe, war der Bestseller des 18. Jahrhunderts in ganz Europa.
Auch in Deutschland?
Absolut. Goethe hat ihn natürlich gelesen und verinnerlicht. 13 Jahre später bezieht er sich in Die Leiden des jungen Werthers ganz offensichtlich auf Rousseaus Héloïse. Die wichtigste Szene darin ist eine Kussszene in der Natur, mitten im Wald. Heute finden wir das vielleicht kitschig, aber das hat es vorher noch nicht gegeben. Diese Szene hat den romantischen Kuss, so wie wir ihn verstehen, erfunden: die Manifestation eines durch und durch ehrlichen Gefühls.
Haben Sie sich auf die französische Literatur konzentriert, weil Sie Franzose sind?
Nein. In der französischen Literatur spielt der Kuss nur zum ersten Mal eine solch wichtige Rolle. Im Werther gibt es noch keine Kussszene, und auch in Kierkegaards Tagebuch des Verführers wird die Beschreibung des Kusses vermieden. Aber bei Stendhal wird geküsst, bei Rousseau, Flaubert. In Frankreich hat der Kuss die Kunst angeregt, von Rodin bis hin zum berühmten Kussbild von Robert Doisneau.
Und heute?
Ist es nicht mehr so. Jede Kunstform hat sich nur phasenweise dem Kuss gewidmet, die italienische Dichtung in der Renaissance zum Beispiel, um das 16. Jahrhundert herum, und der französische Roman im 18. Jahrhundert. Um 1900 herum malte Gustav Klimt sein fast berühmtestes Bild, Der Kuss, um dieselbe Zeit entstand auch Edvard Munchs Der Kuss. In den Zwangziger- und Dreißigerjahren machte der Kuss im Kino Karriere. Der Kuss ist ja eine Geste von ganz eigener Schönheit und Ästhetik.
Welche ist Ihre Lieblingskussszene in der Literatur?
Vielleicht die von Martin Amis in Das Rachel-Tagebuch. Der ganz junge Martin Amis beschreibt, wie sich Jugendliche ausgiebig küssen – und all ihre Ängste dabei. Und ich bin ein großer Fan der Gedichte von Johannes Secundus, einem unglaublich gut aussehenden, unglaublich begabten und viel zu unbekannten Flamen, der im 16. Jahrhundert lebte und in lateinischer Sprache Oden an den Kuss schrieb. Die Frau, die er anhimmelte, war ihm eher überlegen als unterlegen, sie war kapriziös, stark, temperamentvoll. Das war und ist sehr modern. Er ist nur 24 Jahre alt geworden. Aber er hat viele französische Dichter der Klassik und Romantik stark beeinflusst.
Würden Sie sich jetzt, nach so eingehender Beschäftigung mit dem Thema, als Sympathisant des Kusses bezeichnen?
Ich habe tatsächlich eine andere Perspektive auf das Küssen gewonnen. Weil es zutiefst freiwillig ist, der reine Liebesbeweis. Es gibt für den Kuss überhaupt keine biologische Notwendigkeit. Äußerlich würde sich am Leben eines Paares nichts ändern, wenn es sich nicht küssen würde. Aber der Kuss ist das Erste, was wegfällt, wenn die Beziehung den Bach runtergeht. Als das Buch erschien, wurde ich zu einem Sexologen-Kongress eingeladen und habe erfahren: Wenn ein Paar mit Problemen zu einem Sexologen kommt, fragt er als Erstes, wie oft und wie innig sie sich küssen. Es gibt zwar keine Studie oder Erhebung darüber, dennoch sind sich die Therapeuten einig, dass das Kussverhalten eines Paares widerspiegelt, in welchem Zustand sich die Beziehung befindet.
War das Buch eine Therapie für Sie selbst?
Natürlich. Auch weil ich festgestellt habe, dass es die ersten Küsse der eigenen Liebesgeschichten sind, an die man sich ein Leben lang erinnert. In der Jugend ist der Kuss oft ein Hinhaltemanöver, um alles weitere hinauszuzögern. Später ist es genau umgekehrt: Wenn man es schafft, eine Frau zu küssen, und zwar richtig zu küssen, weiß man: Jetzt wirds ernst.
ALEXANDRE LACROIX Philosoph Geboren 1975. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften und Philosophie arbeitete er kurze Zeit für eine Werbeagentur in Paris. Dann machte er einen radikalen Schnitt, zog in ein Dorf im Burgund und schrieb ununterbrochen: Romane, Essays und andere Zeitungstexte. 2006 gründete er das »Philosophie Magazine«, das er seitdem als Chefredakteur leitet. Dafür kehrte er nach Paris zurück. Lacroix ist mit einer Italienerin verheiratet und hat drei Kinder. Sein Buch »Kleiner Versuch über das Küssen« erschien 2011 in Frankreich und jetzt bei Matthes & Seitz auch auf Deutsch.
(Foto: Arnaud Février/Éditions Flammarion)
Foto: Nico Krinjo