Nach dem ersten Sommer im Gefängnis schrieb Raymund seiner Freundin einen Brief: »Ich verbringe viel Zeit mit Gefängniswärtern. Aber ich werde nicht selbst zu einem. Du kannst gehen. Ich gebe dich frei.« Shella aber blieb.
Sie kam auch im folgenden Sommer wieder. In den Monaten, in denen sie nicht Hunderte Kilometer entfernt zur Uni ging, verbrachte sie täglich zehn Stunden im berüchtigsten Knast der Philippinen, von acht bis 18 Uhr, Besuchszeit. Für 800 Insassen wurde das Gefängnis gebaut, mehr als 4000 leben dort manchmal. Sie schlafen auf Treppenstufen, auf Tischen, auf den Füßen ihrer Mitgefangenen, übereinandergestapelt. Hier saß Raymund Narag unschuldig wegen Mordes und wartete auf seinen Freispruch. Als Shella Durana ihn zum ersten Mal besuchte, war sie 17 Jahre alt. Er war zwanzig.
Wenn sie heute, 23 Jahre später, Fotos von diesem Ort sieht, kann sie kaum glauben, dass sie hier jeden Tag gute Miene gemacht, Raymund umarmt, ihm zugeredet hat. »Ich habe da drin immer nur ihn gesehen. Er hat alles überstrahlt, den Gestank, das Elend«, sagt sie. Raymund sagt: »Shella hat mich am Leben gehalten.« Wenn seine Mutter zu Besuch kam, sah er sie schon am Parkplatz weinen. Wenn Shella kam, sah er schon von Weitem ihr Lachen.
Am Telefon erzählen die beiden heute ihre Geschichte in heiterem Ton, sie antworten häufiger lachend als ernst, fallen sich gegenseitig ins Wort, widersprechen sich neckisch in Details, nennen sich in einem fort »Liebe meines Lebens«. So etwas sagt sich leichter, wenn man das Schlimmste hinter sich hat. Es sagt sich leichter, wenn man 15 Jahre verheiratet ist und drei gemeinsame Töchter hat. Aber wie schaffte es eine junge Liebe, die Willkür der philippinischen Justiz zu überstehen, den Mordprozess, der mehr als sechs Jahre dauerte und an dessen Ende die Anklage fallen gelassen wurde? Raymund neigt zum Pathos, er spricht von Seelenverwandschaft und Bestimmung. Shella sagt: »Er war mein erster Freund. Ich wollte ihm treu bleiben.«
Als die beiden sich kennenlernten, war sie an der Highschool, er an der Uni, sie wurden erst Freunde, dann ein Paar. Nach einem knappen Jahr Fernbeziehung, Shellas Schule liegt weit weg von Manila, brach an Raymunds Uni eine Prügelei zwischen Burschenschaften aus. Ein Student wurde erschlagen. Raymund galt als Hauptverdächtiger, obwohl er nicht am Ort des Geschehens gewesen war. Raymund beschwor Shella, sie müsse sich vorstellen, er sei ein Hochseekapitän und segle in einen Sturm. »Aber ich komme wieder zurück. Bitte warte am Ufer auf mich.« Shella versprach es. »Bleib brav«, sagte sie, als er eingesperrt wurde. Raymund erzählt heute, dass ihm dieser Satz die ganzen sechs Jahre, neun Monate und vier Tage im Kopf nachhallte. All die Zeit im Gefängnis.
In den ersten Jahren schrieb er Shella jeden Tag einen Brief. Wann immer sie ihn besuchen kam, trank sie zehn Stunden lang keinen Schluck. Nicht nur, weil das Wasser schmutzig ist – jeden Monat sterben Häftlinge an Infektionen. Shella trank auch kein mitgebrachtes Wasser. Sie wollte nicht riskieren, zur Toilette zu müssen. 130 Menschen teilten sich im Gefängnis eine Kloschüssel.
Raymunds Prozess zog sich, er bezweifelte, jemals wieder freizukommen. Manche Prozesse dauern auf den Philippinen Jahrzehnte. Nach zwei Jahren Haft bat er sie erneut, ihn zu verlassen. Sie lehnte wieder ab. Dann kam jener Tag, an dem sie ihn besuchen wollte, doch ein schlecht gelaunter Wärter ließ sie nicht zu ihm. Sie küssten sich durch Gitterstäbe. Zwei Freundinnen, die sie begleiteten, schauten voller Entsetzen und Mitleid zu. »Ich hatte das Gefühl, ich kann nicht noch tiefer sinken«, sagt sie heute. Sie gab nach, die beiden trennten sich. Aber sie blieben in Kontakt.
Als Raymund nicht mehr täglich Briefe an Shella schrieb, begann er, mitten im Chaos aus Brutalität, Drogen und Langeweile mit dem zu arbeiten, was er hatte: Er konnte, anders als viele der Insassen dort, lesen und schreiben, also verfasste er Briefe für die Gefangenen, an ihre Familien, ihre Anwälte. In einem Brief erklärte er einem Richter, dass ein Mithäftling schon länger auf seinen Prozess wartete, als die Höchststrafe für sein Vergehen beträgt. Der Mann kam frei. Das sprach sich herum. Raymund bekam mehr Arbeit, er ließ sich Gesetzbücher und juristische Literatur bringen, er wurde zum Rechtsberater der Häftlinge. Daneben half er in der Gefängnisbürokratie, stellte ein Alphabetisierungsprogramm auf die Beine, organisierte Seelsorge, Freizeitbeschäftigungen, Musikveranstaltungen, band die Capos der Gangs ein und wurde schließlich offiziell zum Anführer der Häftlinge ernannt, der Titel: Mayor de Mayores. Er durfte fortan ein Handy benutzen und Ausgänge machen.
Mit dem Telefon rief er Shella an. Bei seinen Ausgängen wollte er sie treffen. Sie hatte mittlerweile einen Freund, der vor Eifersucht fast verging. »Er hat natürlich gemerkt, wen ich eigentlich liebe«, sagt sie.
Im Jahr 2002 wurde die Anklage gegen Raymund fallen gelassen. Er begann ein Jurastudium und schrieb ein Buch über die Missstände des philippinischen Justizsystems. Der Oberste Gerichtshof hat es verlegt, der Justizminister schrieb das Vorwort und versprach Reformen nach Raymunds Vorschlägen. Seinen Doktor machte er in den USA, heute arbeitet er am Strafrechts-Lehrstuhl der Universität Illinois und gilt als Experte für die philippinische Justiz.
Doch das Erste, was Raymund als freier Mann getan hat, war Shella anzurufen. Er fragte sie: »Wartest du noch am Ufer auf mich?«
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Fotos: AFP/Getty Images; privat