Vor mehr als zehn Jahren saß ich in drückender Hitze nackt auf dem Rand eines Bettes in einem billigen Hotel, irgendwo mitten in einer vom Krieg zerrissenen Region Kolumbiens, und hörte einer Frau zu. Ich hatte gerade mit ihr geschlafen. Jetzt erzählte sie mir ein Geheimnis.
Ich war nach Kolumbien gekommen, weil ich Fotojournalist werden wollte und damals fand, das ginge nur, indem ich mich mitten in einen Konflikt stürzte. Seit Jahrzehnten befand sich der kolumbianische Staat im Krieg mit Rebellengruppen, die ihre Truppen durch Entführungen und Drogenhandel finanzierten. Als Reaktion auf die Entführungen reicher Landbesitzer formierten sich Todesschwadronen, die einen schmutzigen Krieg gegen die Guerilla führten. Innerhalb von zwanzig Jahren waren in diesem Konflikt mehr als 70 000 Menschen ums Leben gekommen, zwischen drei und vier Millionen wurden aus ihrer Heimat vertrieben.
Ich begann, alle am Konflikt beteiligten Gruppen zu fotografieren, zunächst die Rebellen. Ich verbrachte einige Zeit in einem ihrer Lager, dann begab ich mich auf die Suche nach der anderen Seite. Der Süden Kolumbiens war eines der Zentren des Drogenhandels; eine Gegend, in der es immer wieder zu Gefechten zwischen Guerillas und »Paras« kam, den Paramilitärs. Ich machte mich auf dorthin, nach Putumayo.
Auf der Reise, mehrere Tage in einem alten Bus, lernte ich eine junge Frau kennen, eine wunderschöne Kolumbianerin namens Marylin. Wir unterhielten uns lange, ich fühlte mich schnell zu ihr hingezogen. Als ich ihr von meinem Vorhaben erzählte, sagte sie, sie habe Freunde bei den Paras und könne mir helfen. Sie lud mich ein, bei ihrer Familie zu wohnen, am Rand einer größeren Siedlung.
Ich blieb ein paar Wochen, fotografierte Coca-Felder und traf mich mit Paramilitärs. Marylin und ich verbrachten viele Nachmittage gemeinsam in einer Hängematte. Wir küssten uns, weiter gingen wir nicht. Als ich nach England abreiste, sagte sie mir, ich sei nun »Teil der Familie«. Ich versprach, so bald wie möglich wiederzukommen.
Als ich sechs Monate später zurückkehrte, sagte mir Marylin, sie habe vor Kurzem gekämpft, in einem Feuergefecht. Sie hatte sich den Paras angeschlossen. In dem Gefecht waren 25 Paramilitärs und mindestens 15 Rebellen ums Leben gekommen, eine Freundin Marylins war an ihrer Seite erschossen worden. Nach den Kämpfen war die gesamte Bevölkerung des betroffenen Dorfes geflohen. Ich war nicht sonderlich geschockt. Immerhin war ich hier in einem Land, das von jeder Form von Gewalt zerrissen wurde. Lediglich Glück – oder der Mangel daran – bestimmte, auf welcher Seite man stand. Ich blieb bei ihr. Dann bekam ich den Auftrag, den Krieg im Irak zu fotografieren. Also verließ ich das Land wieder.
Bei meinem nächsten Besuch in Kolumbien bot mir ihr Vater ein kaltes Bier an, während ich auf Marylin wartete. Er sagte, sie sei auf einem Botengang. Später gingen Marylin und ich Hand in Hand zu einem Bach im Regenwald hinter dem Haus. Wir wateten gemeinsam hinaus in das kalte Wasser. Ich hatte das Gefühl, irgendetwas sei anders zwischen uns. Ich fragte sie, ob es besser wäre, wenn ich nicht bei ihrer Familie wohnte, sondern in einem Hotel. Sie sagte, ja, das würde es einfacher machen. An diesem Abend kam sie, wir aßen auf dem Balkon und tranken Wein. Sie blieb über Nacht.
Mein Hotelzimmer war winzig und heiß, eines mit Klimaanlage konnte ich mir nicht leisten. Von draußen drangen die Rufe der Straßenverkäufer und das Lärmen des Verkehrs herein. Als der Morgen dämmerte, erklärte Marylin, sie müsse mir etwas sagen.
In jeder neuen Beziehung kommt der Punkt, an dem deine Freundin ein Geheimnis teilen will. Gewöhnlich hat es mit Sex zu tun – wie viele andere Partner sie hatte, solche Sachen. Oft verändert dieses Geheimnis die Basis der Beziehung, Ehrlichkeit hat Konsequenzen. Marylins Geständnis aber verwirrte mich völlig. Sie erklärte mir, dass ihre Aufgabe bei den Paras jetzt eine andere sei. Sie sei eine Killerin geworden. Ihr Job sei es, Informanten und Verräter umzubringen. Bis jetzt habe sie zehn Menschen getötet. Sie sah mich an und wartete auf eine Antwort.
Ich fühlte keine Abscheu. Die Monate, die ich in Kolumbien und im Irak verbracht hatte, inmitten all der Gewalt, hatten mich verändert. Ich war nicht mehr so leicht zu schockieren. Der Unterschied zwischen Opfer und Täter schien oft nur im Auge des Betrachters zu liegen.
Die Frau, mit der ich schlief, war eine Killerin; es lag jetzt immer eine Waffe auf dem Nachttisch. Wenn ich ihr zusah, wie sie die Pistole aus dem Gürtel zog, ihre Jeans aufknöpfte und in mein Bett schlüpfte, konnte ich die Frau in meinen Armen nicht mit den Körpern in Verbindung bringen, die ich im örtlichen Leichenschauhaus gesehen hatte – Morde, die sie mir gestanden hatte. In der tropischen Hitze, high von Rum und Kokain, in den Armen einer wunderschönen 22-jährigen Frau, vermischten sich Fantasie und Wirklichkeit. Ich ließ die Realität nicht an mich heran. Ich fühlte mich wie in einem Kinofilm.
Eines Morgens erzählte mir Marylin, dass sie in der Nacht zuvor eine Frau umgebracht habe. Keine Verräterin. Keine Informantin. Die Geliebte des Mannes einer Freundin. Sie beschrieb so genau, was passiert war, mit so wenig Regung, dass ich endlich zur Besinnung kam: Marylin war kein Teil eines Bürgerkriegs mehr, sie war eine Auftragsmörderin. Obwohl ich mich immer noch zu ihr hingezogen fühlte, drangen endlich die Einsichten zu mir durch, die jeder andere viel früher gehabt hätte.
Die Fotos, die ich von da an von ihr machte, konzentrierten sich auf die dunkle Seite ihres Lebens. Ich versuchte, sie von einer Geliebten zu einem Gegenstand meiner Arbeit zu machen, zu einem Thema. Sie erlaubte mir, ein Interview mit ihr aufzunehmen.
»Als ich zum ersten Mal tötete, hatte ich Angst. Mein erstes Opfer habe ich nur deshalb umgebracht, weil ich wissen wollte, ob ich es kann. Danach zitterte ich. Ich konnte nichts essen. Ich konnte mit niemandem sprechen. Das zweite Mal war nur ein bisschen einfacher. Jetzt töte ich, ohne dass etwas in mir vorgeht. Ich fühle mich normal. Ingesamt habe ich 23 Menschen getötet.«
Wir stritten. Wütend sagte ich ihr, sie stehe für alles, was in Kolumbien falsch läuft. Ich verließ das Land wenig später erneut, um die Kriege im Irak und in Afghanistan zu fotografieren. Ein Jahr lang schickten wir uns E-Mails. Sie bat mich, sie nicht zu vergessen. Sie schrieb, dass die Worte, die ich ihr an den Kopf geworfen hatte, in ihr arbeiteten. Sie schrieb, sie wolle einen neuen Anfang wagen, aber die Paras ließen niemanden aufhören.
Plötzlich bekam ich keine Mails mehr von Marylin. War ihr etwas passiert? Hatte sie den Absprung geschafft, hatte ihre Vergangenheit sie eingeholt? Ich fuhr noch einmal nach Kolumbien. Als ich an ihrem Haus ankam, empfing mich ihr Vater mit Tränen in den Augen: Sie sei entführt und zu Tode gesteinigt worden – die Strafe der Paras für einen »sapo«, eine Kröte, so nennen sie Spitzel. Ich brachte kein Wort heraus.
Ich dachte an unseren Streit und die E-Mails, in denen sie schrieb, sie müsse darüber reden, wie sie aus dem Chaos herauskomme. Ich erinnerte mich an unsere Küsse in jener Zeit, bevor ich wusste, dass sie eine Killerin war. Am nächsten Morgen besuchte ich ihr Grab.
Wurde Marylin ermordet, weil sie eine Informantin war? Oder weil sie, wie sie in ihren E-Mails schrieb, wirklich aussteigen wollte? Das ist es, was ich glauben will. Ich will daran glauben, dass sie einen Sinneswandel durchgemacht hatte.
Aber wem will ich etwas vormachen?