Geschichtsvergessen

Wie gern sie ein Buch auch mochte – unsere Autorin erinnert sich nach kurzer Zeit kaum noch daran. Warum?

Illustrationen: Hollie Chastain

Als ich ein Kind war, hatte ich schwer zu tragen. Alle paar Wochen sammelte ich in meinem Zimmer all die Bücher ein, die zwischen Schulheften und Kuscheltieren lagen, stapelte sie in meinen Rucksack und schleppte sie zu meinem Glücksort: der Jugendbibliothek in meiner Heimatstadt. Ich liebte alles daran: den Geruch der Leihbücher, das Lächeln der Bibliothekarin, wenn ich meine Tasche für die Rückgabe auf die Theke wuchtete, die mir so vertrauten Gänge, die doch wieder anders waren, weil neue Buchrücken in ihnen warteten. Und jedes Buch: ein Fenster zu einem anderen Leben.

»Worte sind die mächtigste Droge, welche die Menschheit benutzt«, sagte der britische Schriftsteller Rudyard Kipling, und ich kann ihn gut verstehen. Denn 20 Jahre später schleppe ich immer noch schwere Taschen aus der Bibliothek nach Hause. Worte können mich ziehen, berauschen, erheben und wieder fallenlassen. Umso mehr wundert mich, was passiert, sobald ich ein Buch zugeklappt habe: Ich vergesse es.

Ich merke es am deutlichsten, wenn ich versuche, mit anderen Menschen über Bücher zu sprechen. Selbst Bücher, die mir nahegingen, kann ich oft nur so stammelnd wie vage zusammenfassen. Und ich kann mir nicht einmal merken, welche Bücher ich in den vergangenen Wochen überhaupt gelesen habe. Wie kann das sein? Dass mich Bücher berühren – und trotzdem zu einem Brei aus Buchstaben verschwimmen?

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Im Alltag habe ich oft genug das Gefühl, dass alles zusammenschmilzt in einen Dienstag-Donnerstag-Sonntag-Strudel. Was ich im Februar gemacht habe: keine Ahnung, vermutlich ungefähr das Gleiche wie im Oktober. Umso mehr sehne ich mich danach, dass mir schöne Dinge nicht entgleiten, sondern ich sie festhalten kann. Cornelia Funke fand dazu mal einen tollen Vergleich in einem Kinderbuch (und ha, daran erinnere ich mich!): wie in einem Marmeladenglas, das man immer wieder aufdrehen kann.

Bücher leisten das, was sonst nur in engen Freundschaften oder in der Liebe möglich ist. Ich darf ganz nah bei einem Menschen sein.

Wie machen das Menschen, die noch viel mehr lesen als ich – und sich das Gelesene tatsächlich auch merken müssen? Ein Anruf bei Barbara Vinken, die Professorin für Allgemeine ­Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München ist und als Kritikerin in der Buchzeit auf 3sat Neuerscheinungen bespricht. Was sie erzählt, beruhigt mich: Wirklich gut erinnere sie sich vor allem an die Werke, mit denen sie sich schon fast ihr ganzes Berufsleben lang auseinandersetze. Ansonsten nutze auch sie Gedächtnisstützen – zum Beispiel, das Buch in die Hand zu nehmen, die wichtigsten Stellen mit Sternchen zu markieren oder hinten im Buch die Seiten der Schlüsselszenen zu notieren. »Wenn Sie dann wieder in den Text schauen, fällt Ihnen sofort ein, was die zentralen Punkte sind«, sagt Vinken.

Wie wichtig Schlüsselreize für das Erinnerungsvermögen sind, sagt mir auch Niko Busch, Professor für Allgemeine Psychologie an der Universität Münster. Er erklärt, ich müsse nicht davon ausgehen, dass die Informationen in meinem Kopf wirklich verloren sind – die Frage sei eher, ob mein Gehirn sie im gewünschten Moment abrufen kann. »Das Problem ist wie in einer großen Bibliothek: Es kommt nie ein Buch weg, aber wenn ein Buch an den falschen Ort gestellt wird oder der Katalog verloren geht, dann findet man die Bücher halt nicht mehr«, sagt Busch.

Nach dem Gespräch mit Busch weiß ich außerdem, dass sich mein Kopf vermutlich leichter in die einzelnen Bücher zurückversetzen könnte, wenn ich nicht durchgehend so viel lesen würde. Denn: Je einzigartiger und spezifischer eine Erinnerung ist, desto besser kann man sie abrufen. Busch erklärt es mit einem Beispiel: Wer nur einen einzigen Science-Fiction-Film gesehen hat, könne das darin vorkommende Raumschiff besser aus der Erinnerung beschreiben als jemand, der sich ständig solche Filme anschaut. Dann sagt mir Busch noch, dass das Erinnerungsvermögen sehr assoziativ funktioniere. Ich vermute, das ist der Grund dafür, dass mein Kopf sich sperrt, wenn ich mich bewusst erinnern möchte, aber sofort Cornelia-Funke-Zitate aus einem Buch aus meiner Kindheit bereithat, wenn ich über andere Dinge – wie diesen Text – nachdenke.

Unabhängig davon, ob ich den Inhalt spontan nacherzählen kann, ahne ich, dass Bücher meinen Kopf und mein Herz sowieso auf eine andere Weise prägen: Sie leisten das, was sonst nur in engen Freundschaften oder in der Liebe möglich ist. Ich darf ganz nah bei einem Menschen sein, verstehen, warum er sich auf eine bestimmte Weise verhält, wie er fühlt und lebt. Und anders als in Freundschaften folge ich in Büchern auch Menschen, die mir unsympathisch sind, spüre ihre Brüche und begreife, wie anders sich für sie das Leben anfühlt. Bücher sind die beste Empathie-Schulung, die ich mir vorstellen kann. Und deswegen mag ich diesen Satz von Astrid Lindgren so gern: »Wie die Welt von morgen aussehen wird, hängt in großem Maß von der Einbildungskraft jener ab, die gerade jetzt lesen lernen.«