»Gefoltert zu werden verändert einen Menschen für immer. Dein altes Selbst bekommst du nie wieder zurück«

Ein Gespräch mit dem brasilianischen Bestseller-Autor Paulo Coelho. Über sein Leben als Drogenabhängiger, Folteropfer, Satanist, Psychiatrieinsasse, Buchautor und vieles mehr.


Kritiker bezeichnen Paulo Coelho gern als »Schriftstellersimulation«, doch es gibt auf der ganzen Welt nur neun Autoren, die mehr Bücher verkauft haben als er.


SZ-Magazin: Herr Coelho, kein lebender Schriftsteller hat eine kurvenreichere Biografie als Sie. Journalist, Theaterregisseur, Buchverleger, Plattenmanager, Songtexter, LSD- und Kokainjunkie, Folteropfer, Satanistenjünger, Psychiatrieinsasse, Autor von Büchern, die sich 135 Millionen Mal verkauft haben: Was empfinden Sie, wenn Sie auf Ihre Vita zurückblicken?

Paulo Coelho: Zuerst Verblüffung – und dann große Fremdheit. Wenn ich im Internet auf einen Lebenslauf von mir stoße, denke ich: Was, diese Person sollst du sein? Beim Wiederlesen meiner Bücher sage ich manchmal laut vor mich hin: »Mein Gott, dieser Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela, das warst ja du!« Der Mensch, dem ich da begegne, ist mir heute genauso fern wie der Paulo Coelho, der mal zwei Jahre lang Kommunist war.

In den Augen Ihrer Eltern waren Sie ein Problemkind. Mit 16 schickte man Sie zum Psychiater, mit 19 ließ Ihr Vater Sie in einer Zwangsjacke in eine psychiatrische Anstalt bringen, wo Sie mehrere Wochen lang mit Psychopharmaka und Elektroschocks behandelt wurden. In Ihrer Krankenakte hieß es: »Patient mit schizoider Persönlichkeit, sozialen und affektiven Kontakten gegenüber abweisend. Ist unfähig, Gefühle auszudrücken und Freude zu empfinden.«
Ich war ein Schulversager, der unter Einsamkeit, Schwermut und Verzweiflung litt – aber ich war nicht geisteskrank! Konfusion, Verhaltensunsicherheit und Orientierungslosigkeit gehören doch zur Definition von Jugend.

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Hassten Sie Ihre Eltern wegen der Einweisung in die Psychiatrie?
Nein. Ich hatte eher Mitleid mit ihnen. Es muss traurig für sie gewesen sein, einen Sohn wie mich zu haben. Die Eltern anzuklagen führt zu nichts. Sigmund Freud hat wichtige Entdeckungen gemacht, aber er war auch ein großer Unheilsbringer. Er hat das blame game erfunden. Statt sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, bohrt man in der Vergangenheit herum und schiebt seine Malaisen auf Vater und Mutter.

Mit 14 entwickelten Sie die fixe Idee, ein hochgeachteter, in allen Erdteilen gelesener Schriftsteller zu werden.
Ich war ein asthmatischer Junge, der keine Muskeln hatte, nicht Fußball spielen konnte und sich hässlich fühlte. Die Mädchen schauten durch mich hindurch. Mich mit dem Schreiben von Büchern aus dieser Schmach zu befreien wuchs sich zu einer Obsession aus. Mit jedem Tag, an dem ich wieder nichts geschrieben hatte, wurde meine Überzeugung stärker, ein Schriftsteller zu sein. Auch als ich mich der Hippie-Bewegung anschloss und alle möglichen Drogen nahm, wusste ich in jeder Sekunde, dass ich einmal die Bücher schreiben werde, die ich heute schreibe. Wer weiß, vielleicht war mein Traum vom Weltruhm eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

In einem Ihrer fast 200 Tagebuchhefte aus dieser Zeit heißt es: »Mein großes Ideal: derjenige zu sein, der DAS Buch des Jahrhunderts geschrieben hat, DIE Gedanken des Jahrtausends, DIE Geschichte der Menschheit.«
Das klingt ziemlich megaloman, oder? Ich glaube aber, dass Selbstüberschätzung und eine Dosis Größenwahn notwendige Voraussetzungen für Erfolg sind. Man lädt mich gelegentlich zu Veranstaltungen ein wie dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Da höre ich Reden, in denen berühmte Unternehmer und Spitzenmanager endlos über Werte sprechen. Ich sage dann: »Werte sind wichtig, aber vergesst euer großes Ego nicht. Ihm habt ihr es doch hauptsächlich zu verdanken, dass ihr hier sitzt. Hättet ihr ein kleines Ego, wäret ihr bereits am ersten Hindernis gescheitert.« Ein großes Ego zu haben ist für mich nur dann eine Sünde, wenn man nicht weiß, wie und wofür man es benützen soll.

Mit 27 wurden Sie in Ihrer Heimatstadt Rio de Janeiro auf offener Straße von einem Kommando des Geheimdienstes DOI-CODI gekidnappt und in eine Kaserne verschleppt. Aus welchem Grund?
In Brasilien herrschte zu Beginn der Siebzigerjahre eine brutale Militärdiktatur. Ich gehörte zur Gegenkultur und schrieb Songtexte für den brasilianischen Popstar Raul Seixas. Die Geheimdienstleute wurden offenbar aus meinen Texten nicht schlau, und was sie nicht kapierten, hielten sie automatisch für gefährlich. Das Taxi, in dem ich mit meiner damaligen Frau saß, wurde von mehreren Zivilfahrzeugen gestoppt. Man prügelte uns aus dem Auto heraus und zog uns schwarze Kapuzen über die Köpfe.

Wie lange hielt man Sie gefangen?
Das weiß ich nicht. Ich habe in meiner Zelle jedes Zeitgefühl verloren. Meine Eltern sagen, ich sei eine Woche verschwunden gewesen. Die Männer, die mich folterten, bekam ich nie zu Gesicht. Bevor man mich in den Verhörraum führte, wurde mir jedesmal eine Kapuze über den Kopf gezogen.

Wie wurden Sie gefoltert?
Ich habe zwei Arten von Folter erlebt. Die eine war physischer Natur. Ich musste mich nackt ausziehen und bekam Schläge und Elektroschocks. Das war die Erfahrung reiner Grausamkeit, aber um vieles schlimmer war die psychische Folter. Ich wurde nackt in etwas gesperrt, was »der Kühlschrank« genannt wurde: eine lichtlose, zwei Mal zwei Meter große Zelle, in der es eiskalt war. Ab und zu wurde über meinem Kopf eine Sirene eingeschaltet. Ich öffnete und schloss meine Augen und sah immer dasselbe: Schwärze. Die Dunkelheit und das Frieren rauben dir den Verstand. Man gerät an den Rand der Verrücktheit.

Haben Sie unter der Folter Ihre Selbstachtung verloren?
Oh ja. Erniedrigung zählt zu den schlimmsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann. Ich habe meine Selbstachtung aber wiedergefunden. Die einzig wirksame Therapie, die ich kenne, ist Zeit. Bei mir hat es drei Jahre gedauert, das Gefühl loszuwerden, immer noch in meiner Zelle gefangen zu sein. In den ersten Wochen nach meiner Freilassung traute ich mich nicht aus dem Haus. Ich hatte Paranoia und bildete mir ein, dass ich verfolgt werde und mein Telefon verwanzt ist. Dieser Wahnzustand führte zu einem seelischen Zusammenbruch. Meine Freunde verschwanden aus meinem Leben, weil sie Angst hatten, das Gleiche zu erleben wie ich. Plötzlich war ich ein Aussätziger. Es tauchten dann aber Menschen auf, die mir das Gefühl gaben, nicht allein zu sein. Ihrer Hilfe verdanke ich es, dass ich mir nicht das Leben genommen habe oder in Bitterkeit und Rachsucht versunken bin.

Ihre damalige Frau Gisa wurde ebenfalls gefoltert. Warum hat sie nach ihrer Freilassung den Kontakt zu Ihnen abgebrochen?
Weil ich durch mein Verhalten im Gefängnis ihren Respekt verloren habe. Einmal wurde ich mit einer Kapuze über dem Kopf zur Toilette geführt. Ich hörte, wie meine Frau weinend rief: »Paulo, Liebling, bist du hier? Wenn ja, sag etwas zu mir!« Wir hatten Sprechverbot, und aus Angst, wieder nackt in den »Kühlschrank« gesperrt zu werden, blieb ich stumm. Ich bin nie wieder so feige gewesen wie in diesen Sekunden. Nach ihrer Freilassung sagte sie: »Ich will nie mehr mit dir reden. Und ich will nicht, dass du jemals wieder meinen Namen aussprichst.« Wenn ich in den Jahren danach über sie sprach, habe ich sie immer »meine Frau ohne Namen« genannt.

Okkultismus, Satanismus und Hexerei

Seine Wohnung in Genf: Während Coelho auf dem Hometrainer für die Fitness radelt, schaut er mit dem iPad fern oder checkt E-Mails. Das Bild im Hintergrund ist ein Werk seiner Frau, der Malerin Christina Oiticica.

Zehn Jahre später haben Sie Gisa wiedergetroffen. Über diese Begegnung sagten Sie: »Sie ist immer noch im Gefängnis, ich nicht. Ein Mensch, der Rache üben will, ist verloren, denn er verletzt sich dabei selbst.«

Meine Exfrau ist 2007 gestorben, ich möchte nicht über sie urteilen. Weil ich ihr gegenüber so feige war, habe ich mich immer wieder selbst angeklagt. Aber die Kernbotschaft von Jesus Christus ist Vergebung. Irgendwann konnte ich zu mir sagen: »Ich habe einen sehr schlimmen Fehler gemacht, aber ich vergebe mir, weil ich nicht perfekt bin.« Vor ein paar Jahren stand ich in einer Bar und stellte mir die Frage, ob ich in Frieden sterben könnte, wenn heute der letzte Tag meines Lebens wäre. Die Antwort war nein, denn dafür hatte ich zu viele Menschen verletzt. Das Problem war, dass diese Menschen nicht mehr Teil meines Lebens waren und inzwischen über den ganzen Globus verstreut lebten. Es kostete mich zwei Jahre, jeden von ihnen ausfindig zu machen und mich für meine Fehler zu entschuldigen. Seither entschuldige ich mich bei Menschen immer innerhalb von drei Tagen. Das macht das Leben einfacher.

2003 sagten Sie in einem Interview: »Vor ein paar Tagen aß ich abends in einer Brasserie. Als ich auf der Toilette war, fiel der Strom aus. Alles war plötzlich schwarz. Da hatte ich einen Flashback und saß wieder in der Zelle.«
Diese Flashbacks sind selten geworden, aber gefoltert zu werden verändert einen Menschen für immer. Dein altes Selbst bekommst du nie wieder zurück. Kurz nach Ende des Bürgerkriegs im Libanon wollte ich nach Beirut reisen. In der Nacht vor meiner Abreise litt ich Höllenqualen. Es gab damals sehr viele Entführungen im Libanon, und ich wollte nicht ein zweites Mal gekidnappt werden. Morgens um drei fand ich eine Lösung für meine Angst. Ich sagte zu mir: »Wenn man versucht, dich zu entführen, wirst du dich so lange wehren, bis sie dich töten. Besser dieses Ende, als deiner Angst nachzugeben.« Es ist dumme Zeitverschwendung, sich vor dem Tod zu fürchten. Man muss ihn als Freund sehen, der in jedem Moment neben einem sitzt und sagt: »Früher oder später werde ich dich ohnehin küssen.« Ich frage meinen Freund dann immer: »Kannst du damit bitte noch etwas warten?«

Die bizarrste Phase Ihres Lebens begann 1969. Sie beschäftigten sich mit Okkultismus, Hexerei und Satanismus und verschlangen dicke Bücher über Ufos, Vampire, Drudenfüße und astrologische Systeme. In Ihr Tagebuch schrieben Sie: »In die schwarze Magie einzutauchen ist für mich der letzte Ausweg aus Verzweiflung und Depression.«

Ich erinnere mich, diesen Satz geschrieben zu haben, aber ich bin nicht mehr die Person, die diesen Satz geschrieben hat. Die Gründe, die mich zur schwarzen Magie gebracht haben, sind in meiner Vergangenheit eingekapselt.

1972 traten Sie unter dem Namen Luz Eterna in die Satanssekte O.T.O. ein, den Orden der Tempelritter des Orients, dessen Cheftheoretiker der Brite Aleister Crowley war. Zu den Jüngern des »Großen Tieres«, wie er sich nennen ließ, gehörte Charles Manson, der 1969 im Haus von Roman Polanski vier Menschen mit Schüssen, Messerstichen und Knüppelhieben ermorden ließ.
Die Maximen dieser Organisation grenzen an spirituellen Faschismus. Es geht darum, die Erfahrung der Macht bis zur äußersten Grenze zu treiben. Wer zu den wenigen Auserwählten gehört, ist von allen ethischen Normen befreit und darf tun, was er will – auch ein Monster werden. Als ich begriff, dass der O.T.O. mich in den Abgrund führt, habe ich mich losgesagt und jeden Kontakt abgebrochen. Spirituell war ich so gut wie  tot, aber ich hatte begriffen, dass man eine Ethik braucht, um zu leben.

Sie sagen, der O.T.O. sei »schlimmer als Satanismus«. Welche Praktiken können Sie bezeugen?
Ich mag das Wort Satanismus nicht. Es klingt in meinen Ohren nach einem billigen Gruselfilm aus Hollywood. Im O.T.O. wurden keine Babys geopfert, aber wir praktizierten schwarze Magie und arbeiteten mit Kräften, die ich Ihnen nicht beschreiben werde. Ich habe kein Interesse daran, Menschen auf diese Organisation neugierig zu machen, weil das als Werbung missverstanden werden kann. Aus diesem Grund habe ich mich auch viele Jahre lang geweigert, den Namen O.T.O. in der Öffentlichkeit auszusprechen und immer nur die erfundene Bezeichnung »Gesellschaft zur Eröffnung der Apokalypse« benutzt.

Ihrem Biografen Fernando Morais haben Sie erzählt, dass Ihnen sechs Tage nach Ihrem Eintritt in den O.T.O. Satan begegnet sei. Morais schreibt: »Coelho bemerkte, dass sich in seiner Wohnung Totengeruch ausbreitete und dunkler Nebel, als wäre die Sonne plötzlich untergegangen.«

Hören Sie auf! Ich möchte über dieses Thema nicht länger sprechen.

Sie sollen über Ihre Erlebnisse ein 600 Seiten dickes Manuskript geschrieben haben.
Das stimmt, aber meine heutige Frau riet mir, es zu vernichten, und das habe ich getan.

Als Sie 1982 das Konzentrationslager Dachau besichtigten, glaubten Sie eine Erscheinung zu haben. Daraufhin schlossen Sie sich dem katholischen Geheimorden Regnum Agnus Mundi an, dem Sie bis heute angehören. Ihr Mentor wurde ein Franzose, den Sie in Ihren Büchern »Meister«, »Jean« oder »J.« nennen. Als Sie ihm zum ersten Mal begegneten, sagte er: »Wenn Sie sich für uns entscheiden, müssen Sie alles, was ich Ihnen sage, widerspruchslos befolgen.« Steckt in Ihnen eine geheime Sehnsucht nach blindem Gehorsam und totaler Unterwerfung?
Nein. Dieser Mann hat mich in die spirituelle Tradition des Ordens eingeführt, aber sein Verhältnis zu mir hat nichts Totalitäres. Wir haben eine Meister-Schüler-Beziehung, und die verlangt von mir Disziplin. Das heißt aber nicht, dass ich meinen freien Willen aufgeben muss. Mir steht es jederzeit frei, zu Übungen und Ritualen nein zu sagen.

Zu den Exerzitien, die Ihnen Jean auferlegte, gehörte es, 1986 den 700 Kilometer langen Jakobsweg von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Santiago de Compostela zu Fuß zurückzulegen. Das Buch, das Sie in 21 Tagen über Ihre Erlebnisse als Pilger schrieben, wurde unter dem Titel Auf dem Jakobsweg ein weltweiter Bestseller. Ist der Geheimorden Regnum Agnus Mundi für Ihre Karriere verantwortlich?
Wenn Sie das so sehen wollen, werde ich Ihnen nicht widersprechen, aber für mich hatte sich der Traum des angeblich geisteskranken 14-jährigen Jungen erfüllt: Ich hatte mein erstes Buch geschrieben und war gleich ein über die Maßen erfolgreicher Schriftsteller.

Sieben Monate ohne Sex


Ende der Achtzigerjahre gab Jean Ihnen die Aufgabe, sieben Monate ohne Sex zu leben, auch Selbstbefriedigung war Ihnen untersagt. Was lernten Sie dabei?

Es wäre leicht für mich, auf diese Frage irgendetwas zu antworten, aber diese Antwort  wäre nicht wahrhaftig. Solche Übungen sind keine Schulstunde, an deren Ende man sagen kann, man habe dieses und jenes gelernt. Die sieben Monate ohne Sex haben meinen Geist beeinflusst und mich verändert. Wie, kann ich Ihnen mit Worten nicht beschreiben. Spirituelle Erfahrungen lassen sich ebenso wenig in Sprache fassen wie ein Orgasmus, das Bücherschreiben oder die Geburt eines Babys.

Stimmt es, dass Sie selber Novizen in den Orden eingeführt haben?
Ja. Es ist Teil der Verpflichtung, dass man das empfangene Wissen an vier Novizen weitergibt, und das habe ich gemacht. Seither habe ich keine Schüler mehr, denn für einen Mentor bin ich viel zu ungeduldig.

Sie mussten einmal drei Monate lang täglich eine Stunde barfuß durch dorniges Unterholz laufen. Haben Sie Ihren Novizen auch solche Selbstkasteiungsrituale verordnet?
Sie haben ein falsches Bild. Als Mentor ist man kein autoritärer Vorgesetzter, der seinen Untergebenen Befehle erteilt, was sie zu tun haben. Es sind freiwillige Übungen, und was Sie bei deren Ausführung entdecken, liegt ganz an Ihnen selbst. Sie können einen tausend Seiten dicken Roman über die Liebe lesen, aber wenn Sie nie geliebt haben, werden Sie auf Seite tausend immer noch nicht wissen, was Liebe ist.

Ihrem jüngsten Buch haben Sie den ominösen Titel Aleph gegeben. Ist Aleph ein Roman, wie auf dem Cover steht?
Nein. Das Buch ist keine Fiktion, sondern fast zu hundert Prozent autobiografisch. 2006 hatte ich meinen inneren Frieden verloren und zweifelte an meinem Glauben. Es gelang mir immer seltener, in die magisch-spirituelle Realität einzutauchen, die uns als zweite Wirklichkeit umgibt. Um wieder mit mir ins Reine zu kommen, bin ich mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostock gefahren. Die Erfahrungen, die ich auf dieser Reise im Aleph gemacht habe, führten zu einem Wendepunkt in meinem Leben.

Was bedeutet Aleph?
Ich versuche eine Annäherung: Aleph ist der Punkt, der alle Punkte enthält, das Atom, das alle Atome enthält, die Zahl, die alle Zahlen enthält. Im Aleph befindet sich alles zur selben Zeit an derselben Stelle. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind aufgehoben.

Sie schildern in Ihrem Buch Parallelwelten und Reinkarnationen. Seit wann glauben Sie, mehrere Leben gelebt zu haben?
Ich weiß, dass Journalisten diesen geringschätzigen, zynischen Blick bekommen, wenn ich über diese Dinge spreche, aber ich werde Ihnen dennoch antworten: Das erste konkrete Erlebnis dieser Art hatte ich 1987.

Wie viele Inkarnationen liegen hinter Ihnen?
Ich spüre, dass es viele sind, aber genaue Erinnerungen habe ich nur an zwei. In der einen Inkarnation war ich ein französischer Schriftsteller in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der anderen ein junger Dominikaner-Priester in Spanien während der Inquisition, dessen Eltern an der Pest starben.

Sie schildern in Aleph, dass Sie glauben, in Ihrem Vorleben als Priester nicht verhindert zu haben, dass Ihre Jugendfreundin auf dem Streckbrett gefoltert und anschließend öffentlich verbrannt wurde.
Ja, ich war feige und bin deshalb mit einem Fluch belegt worden.

Meinen Sie, verantwortlich zu sein für das, was Sie damals taten?
Nein. Wir haften in unserem jetzigen Leben nicht für die Schuld, die wir in einem früheren Leben auf uns geladen haben. Aber vielleicht habe ich wegen meiner Fehler viele Jahre lang mein eigenes Leben durch Drogen und schwarze Magie sabotiert.

Hilft es Ihnen in der Gegenwart, Ihre früheren Leben zu kennen?

Nein, überhaupt nicht. Es ist vielmehr so, als würde ich ein Loch in den Boden graben, auf dem ich stehe. Ich rate jedem, seine Vergangenheit zu vergessen.

Im Nachwort zu Aleph schreiben Sie: »Schließlich möchte ich vor dem Exerzitium mit dem Ring aus Licht warnen. Wie ich bereits erwähnte, kann eine Rückkehr in die Vergangenheit ohne Kenntnis des Verfahrens dramatische und unheilvolle Konsequenzen haben.« Wie funktioniert das Exerzitium mit dem Ring aus Licht?
Sie legen sich auf den Boden und stellen sich einen Ring aus Licht vor, der sich immer schneller um Ihren Körper bewegt. In den ersten Wochen denken Sie, dass nichts passiert, und sind frustriert. Aber dann passiert es plötzlich: Sie sind in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort oder in einer anderen Dimension. Glauben Sie mir, es macht das Leben interessant, an Wunder zu glauben.

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PAULO COELHO
Mit 135 Millionen verkauften Büchern ist der 1947 in Rio de Janeiro geborene Paulo Coelho einer der erfolgreichsten Autoren der Literaturgeschichte. Allein von seinem in 14 Tagen niedergeschriebenen Sinnsucherroman
Der Alchimist wurden 65 Millionen Exemplare verkauft. Der Brasilianer ist seit 1980 in fünfter Ehe mit der Malerin Christina Oiticica verheiratet. Das kinderlose Paar lebt in Rio, Genf, Paris und Saint-Martin, einem 300-Seelen-Dorf nahe dem Wallfahrtsort Lourdes.

Fotos: Roland Tännler