Es war einmal ein kleines Mädchen namens Lucinda, es lebte allein mit seiner Mutter in einer großen Stadt. Sie hatten eine kleine Wohnung im Hinterhaus und obendrein zur Nordseite, und deshalb ging Lucinda, die die Sonne liebte, viel hinaus. Am liebsten ging sie in den Zoo. Sie kroch immer durch ein Loch im Zaun, das nur sie kannte. Um Eintritt zu bezahlen, waren Lucinda und ihre Mutter viel zu arm.
Und so war Lucinda an jedem sonnigen Tag im Zoo. Sie war gern bei den Pinguinen, die so komisch watschelten. Lucinda rief: »He, das sieht ein bisschen aus wie Tanzen! Kommt, ich will euch zeigen, wie ihr tanzen könntet!« Aber leider ließen sich die Pinguine von Lucinda das Tanzen nicht beibringen. Lucinda liebte auch die Gibbons und die Kängurus. Am meisten aber liebte sie die Elefanten. »Ihr seid so groß und schwer, ihr werdet immer mit Respekt behandelt«, sagte Lucinda. »Ihr müsst gar nichts dafür tun. Aber ich bin nur ein kleines Mädchen, ich werde nie so groß wie ihr. Wie soll ich es denn schaffen, dass man mich mit Respekt behandelt?«
Dabei war Lucinda ein Mädchen, das von vielen anderen Mädchen insgeheim beneidet und bewundert wurde. Denn in Lucindas Gegenwart wurden die Menschen gelöst und fröhlich, und wenn jemand schlechte Laune hatte, dann verflog die, sowie Lucinda auch nur in der Nähe war. Deshalb war Lucinda bei allen, die sie kannten, sehr beliebt. Aber da sie nicht in den gleichen modischen Klamotten wie viele gleichaltrige Mädchen herumlaufen oder sich deren Vergnügungen einfach nicht leisten konnte, fühlte sie sich oft zurückgesetzt. »Ich kann doch niemandem die Schuld geben, dass das so ist«, sagte Lucinda zu den Elefanten. »Aber schön ist das nicht. Und warum ist das so?« Natürlich antworteten die Elefanten nicht, sondern schlenkerten nur mit den Rüsseln durch den Staub.
Eines Tages sah Lucinda Plakate, die zu einem großen Gesangswettbewerb aufriefen. Da Lucinda immer wieder von Fremden hörte, sie habe eine schöne Stimme, meldete sie sich für den Wettbewerb an. Weil sie wusste, dass man allein mit Singen nur sehr schwer gewinnen kann, hatte sie eine Idee. Allerdings brauchte sie dazu die Hilfe des Zoodirektors. »Hochverehrter Herr Direktor«, sagte Lucinda in seinem Büro. »Ich werde beim Gesangswettbewerb auftreten, und dafür habe ich mir etwas ganz Besonderes ausgedacht. Allerdings brauche ich dafür die beiden Elefanten.« – »Ich kann dir doch nicht einfach zwei Elefanten ausleihen!«, sagte der Zoodirektor, »da kann ja jeder kommen.« – »Herr Direktor«, sagte Lucinda. »Ich habe mir etwas ganz Besonderes ausgedacht. Und ich bin auch nicht jeder. Ich war oft bei den Elefanten, an jedem Tag, an dem die Sonne schien. Sie kennen mich.« – »Wenn du so oft im Zoo warst, warum kennt man dich nicht an der Kasse? Na, ich werde gleich mal die Wärter losschicken. Dein zerrissenes Kleidchen sieht mir ganz danach aus, dass du immer durch ein Loch im Zaun kriechst. Und nun raus aus meinem Büro!«
Tatsächlich fanden die Wärter das Loch im Zaun und machten es dicht, und als Lucinda am Tag vor ihrem Auftritt wieder in den Zoo wollte, musste sie an der Kasse Eintritt zahlen. Allerdings versteckte sie sich dann im Gebüsch, bis der Zoo geschlossen wurde. Dann riegelte sie das Elefantengehege auf und führte die beiden Elefanten, die Lucinda vertrauten, hinaus. Sie mussten auch den Zaun an einer Stelle niedertrampeln, um aus dem Zoo hinauszugelangen, doch Lucinda klebte einen großen Zettel, auf dem »Verzeih!« stand, an den stehengebliebenen Zaunpfahl. Lucinda führte die beiden Elefanten durch die nächtlichen Straßen der Stadt. Dabei klopfte ihr das Herz sehr. Nicht nur, weil es verboten ist, Elefanten aus dem Zoo zu entführen, sondern vor allem, weil die beiden Tiere so groß und übermächtig waren.
Sie brachte die beiden Elefanten in ein stillgelegtes Straßenbahndepot am Rande der Stadt. Vom nahen Großhandelsmarkt für Obst und Gemüse konnte Lucinda ein paar Kisten mit aussortierten Äpfeln und Salatköpfen holen, wozu sie wieder durch ein Loch im Zaun schlüpfen musste. Dann führte sie die beiden Elefanten zu ihrem Nachtlager aus Holzwolle, die bei den alten Straßenbahnen als Füllung für die Sitze diente, bevor Vandalen die Sitze aufgeschlitzt und die Holzwolle herausgerupft hatten. Lucinda streichelte den beiden Elefanten die Rüssel und redete beruhigend auf sie ein. Dann ging sie zum Schlafen nach Hause.
Als Lucinda mit den beiden Elefanten beim Gesangswettbewerb aufkreuzte, erregte sie sofort großes Aufsehen. Manche Sänger hatten sich grell geschminkt oder trugen wilde Kostüme, aber mit zwei Elefanten kam natürlich niemand, und es hatte auch keiner etwas Derartiges erwartet. Lucinda sang ein fröhliches Lied mit sieben Strophen und einem Kehrreim, und die Elefanten schlenkerten dazu ihre mächtigen Leiber, als würde Lucinda ein Gospel singen. Lucinda tanzte ein wenig, etwa so, wie sie es den Pinguinen gezeigt hatte, und ihr Tanzstil kam gut an. Am Ende jeder Strophe tauchten die Elefanten ihre Rüssel in einen bereitstehenden Bottich und stießen eine Fontäne über Lucinda aus. Die aber lachte nur und sang weiter, und ihre gute Laune steckte alle an, und dass ihr pitschnasses Kleidchen an ihrem Körper klebte, fanden alle gut, und dass die Millionen Wassertröpfchen, die in der Luft schwebten, einen Regenbogen erzeugten, auch. Nach dem Auftritt ging sich Lucinda erst mal die Haare abtrocknen, aber das Publikum jubelte andauernd und verlangte nach ihr, und als sie nochmals auf die Bühne kam, spritzte ihr einer der Elefanten sofort wieder eine Ladung Wasser an den Kopf. Doch Lucinda lachte, denn sie wusste, dass sie diesen Wettbewerb gewonnen hatte.
Natürlich hatte auch der Zoodirektor ihren Auftritt gesehen und er schickte sofort einen Tiertransporter und zwanzig Wärter los. Und da Lucinda sofort nach ihrem Auftritt Interviews geben sollte, verlor sie ihre Elefanten aus dem Auge. Als sie später erfuhr, dass sich jemand um die Elefanten gekümmert habe, war sie beruhigt und fragte nicht weiter.
Für Lucinda begann jetzt ein Leben, das nichts mit ihrem vorigen zu tun hatte. Wo immer sie hinkam – überall wurde sie erwartet. Sie musste für nichts Geld ausgeben, denn sie bekam alles geschenkt. Die Modehäuser schenkten ihr ganze Kollektionen, in der Hoffnung, Lucinda werde das eine oder andere Stück vielleicht bei einem Auftritt tragen. Sie wurde auch immer zum Essen eingeladen. Und immer wurde sie abgeholt. Dass Merkwürdigste aber war, dass alle Menschen in ihrer Umgebung gute Laune hatten. Niemand schien Probleme zu haben, sodass Lucinda ihr eigentliches Talent, nämlich traurige und schlecht gelaunte Menschen in freundliche, fröhliche Menschen zu verwandeln, gar nicht mehr unter Beweis stellen konnte. Sie fuhr viel mit einem großen Auto herum, und der Fahrer, ein Grieche namens Panajotis, erzählte ihr bei zweihundert Sachen auf der Autobahn, dass sie die Nummer mit den Elefanten nicht mehr bringen könne, weil sich einerseits die Tierschützer und dann eine Feministin namens Emma furchtbar aufgeregt hätten. Lucinda, der ohnehin alle Welt zu Füßen lag, müsse sich ja nicht mit den Wichtigtuern anlegen, die sich nur auf ihre Kosten Gehör verschaffen wollten.
Und so fuhr sie von Auftritt zu Auftritt, und als sie zu Panajotis einmal im Scherz sagte, dass man doch auch mit dem Hubschrauber fliegen könne, holte der sie am nächsten Tag mit einem Hubschrauber ab. »Das ist erst mal nur ein Provisorium, Lucinda-Maus«, sagte Panajotis, »aber auf deinem Sitz liegt ein Katalog mit den Sonderausstattungen.« – »Können wir vielleicht einen Sitz so stellen, dass mir gegenüber eine Masseuse sitzt, die mir energetisierende chinesische Fußmassagen zugutekommen lässt?«, fragte Lucinda, und als sie das nächste Mal in den Hubschrauber stieg, saß bereits eine lächelnde Chinesin auf dem gegenüberliegenden Sitz.
Doch eines Tages, während einer Fußmassage, las Lucinda im Internet, dass einer der Elefanten gestorben war. »Wir müssen sofort in den Zoo fliegen«, sagte Lucinda bestürzt zu Panajotis. »Ich will den anderen Elefanten trösten.« – »Wie stellst du dir das vor, Lucinda-Maus?«, fragte Panajotis. »Du hast heute einen Auftritt vor zigtausend Leuten, in der Arena Mega von Gigatown. Das Fernsehen ist live dabei. So etwas kannst du nicht einfach absagen.« – »Doch«, sagte Lucinda, und sie merkte, dass es das erste Mal war, dass sie Panajotis widersprach. »Sie werden es verstehen, dass ich heute nicht so einfach meine fröhlichen Liedchen singen kann.« – »Du hast aber einen Vertrag, und wenn du den nicht erfüllst, kriegen wir Probleme. Nach der Tournee kannst du sicher auch mal in den Zoo.«
Und so wurde Lucinda am Abend in die Arena Mega von Gigatown geflogen, und auch das Fernsehen war dabei, als sie sagte: »Guten Abend, Gigatown! Ihr habt es vielleicht im Internet gelesen, dass einer meiner Elefanten gestorben ist. Ich will jetzt nicht singen, sondern nur bei dem anderen Elefanten sein. Hat vielleicht jemand ein Auto, mit dem er mich hinfahren könnte? Ich stehe am Künstlereingang.« Jeder, der ein Auto hatte, wollte Lucinda fahren, und so gab es einen Riesenstau vor dem Künstlereingang.
Egal, in welches Auto Lucinda gestiegen wäre – sie wäre nicht vom Fleck gekommen. Ein Hubschrauber wäre jetzt nicht schlecht, dachte sie, aber von Panajotis konnte sie keine Hilfe erwarten. Doch da sah sie, wie sich eine Crossmaschine an den Autos vorbeischlängelte. »Steig auf«, rief ihr der Motorradfahrer zu. »Ich bin übrigens Victor.«
Noch in derselben Nacht erreichten sie den Zoo, und weil der schon geschlossen hatte, musste Victor mit seiner Crossmaschine über den Zaun des Zoos springen, und das fand Lucinda noch abenteuerlicher als ihr Durch-den-Zaun-Schlüpfen in alten Zeiten. Am Elefantenkäfig war es ein ungewohntes Bild, als nur ein Elefant im Gehege war. Lucinda lief zu ihm und sagte: »Bitte entschuldige, dass ich nicht mehr zu euch gekommen bin. Ich hätte es gern euch beiden gesagt, dass dieser Auftritt mit euch beiden der schönste Moment in meinem Leben war, der alleraller-schönste. Aber jetzt ist es zu spät, und selbst wenn du mich noch mal nass spritzt und Millionen schwebende Wassertröpfchen das Sonnenlicht zu einem Regenbogen zerlegen – es wird nie mehr dasselbe sein wie damals.« Der Elefant nickte traurig, und Lucinda umarmte den Rüssel, und so war es für einen Moment doch genauso wie früher. Dann knackte es im Gebüsch, und der zweite Elefant stand plötzlich vor Lucinda. »Wie ist das möglich?«, fragte sie, aber dann war sie nur froh, dass beide Elefanten noch lebten.
Am nächsten Tag, als Lucinda bereits wusste, dass die falsche Todesnachricht auf einen Kommunikationswissenschaften-Studenten zurückging, der die Verbreitungsgeschwindigkeit von Lügen im Internet untersuchte, ging Lucinda zum Bürgermeister ihrer Stadt. Der hatte ihr nach ihrem Sieg beim Gesangswettbewerb einen Wunsch freigestellt. Lucinda sagte, sie wolle Zoodirektorin werden. Sie verstehe ein bisschen von Tieren, und da sie einen Teil ihres Vermögens dem Zoo spenden werde, könne sie fachkundiges Personal einstellen. Außerdem werde sie künftig nur noch im Zoo auftreten und so die Einnahmen steigern.
Und so erfüllte ihr der Bürgermeister den Wunsch und machte Lucinda zur Zoodirektorin. Jeden Sonntagnachmittag trat Lucinda im Elefantengehege auf, und immer kamen Tausende Menschen, die klaglos den doppelten Eintritt, der nur sonntags galt, bezahlten. Und weil Lucinda das alte Loch im Zaun gleich als Erstes wieder dort öffnete, wo es schon früher war, konnten auch die Kinder, deren Eltern kein Geld hatten, in den Zoo gelangen. Und alle sahen Sonntag für Sonntag, wie Millionen schwebender Wassertröpfchen das Sonnenlicht in einen Regenbogen zerlegten, wenn Lucinda sich von ihren beiden Elefanten am Ende jeder Strophe nass spritzen ließ. Lucinda lachte und tanzte, aber die Pinguine ließen sich das Tanzen von ihr noch immer nicht beibringen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Ein Märchen aus finsteren Zeiten hat Feridun Zaimoglu geschrieben: »Es war einmal das Ende der Welt« finden Sie hier.
Fotos: Daniel Sannwald, Model: Ranya Mordanova