Zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, regiert das Hässliche die Modeschaufenster vieler Luxusboutiquen. Die Scheiben der Geschäfte sind einige Tage lang zugeklebt, nackte Schaufensterfiguren stehen herum, die Ware hat man einfach auf den Boden geworfen. So wird die Mode präsentiert, am Ende ihres Lebenszyklus, der nur ein halbes Jahr währte.
Es sind Bilder, die wir in keinem der Hochglanzbücher über kunstvolle Schaufenstergestaltung finden. Schlägt man die Tageszeitung auf, sieht man Annoncen von Luxusmarken, die wie Todesanzeigen aussehen: das schwarz gerahmte Wort »Sale«, das Logo des berühmten Labels und der Ort der Bestattung, das Geschäft in bester Innenstadtlage. Dort empfängt uns dann beispielsweise eine Schaufensterfigur im Papierkleid: Wo sonst Roben für Tausende von Euros ausgestellt sind, hängt jetzt ein einfacher Bogen braunes Packpapier herunter. Diese Phase des Hässlichen steht im krassen Gegensatz zur gewöhnlichen Verherrlichung der Mode. Der französische Philosoph Roland Barthes hat in der Saison 1958/59 die Sprache der Mode analysiert. Es ist eine fast mathematisch konstruierte, rituelle Sprache, die bis heute gilt. Und der Frühling ist laut Barthes eine entscheidende Zeit: Durch ihn bietet die Mode den Käufern »die Gelegenheit, alljährlich an einem Mythos zu parti-zipieren, der aus der Tiefe der Zeiten auf uns überkommen ist. Die Frühlingsmode ist für die moderne Frau ungefähr das, was die großen Dionysien oder die Anthesterien für die alten Griechen waren.« Man könnte dieses kurze Zitat als kleinen poetischen Ausflug abtun. Doch die Rede vom Mythos ist mehr als eine bloße Metapher.
Die »unsterbliche Gabe der Erneuerung der Mode«, wie die französische Vogue im Frühling 1959 formulierte (und an die Fashion Victims immer noch glauben), hat tatsächlich die Züge eines antiken Festes, wie es die alten Griechen in Form der Dionysien feierten. Dionysos ist der sterbliche Gott, der rituell geopfert und wiedergeboren wird. Der Kult um ihn lässt seine Anhänger während ausgelassener Bacchanalien auf Erlösung und Wiederkehr hoffen. Durch die symbolische Dramatisierung der Aufer-stehung glaubt man, dass auch die Natur im Frühling neues Leben erhält, und die Pflanzen aus dem »toten« Zustand im Winter auferweckt werden.
Die griechischen Riten hatten eine Reihe von Dramatisierungselementen – die wich-tigsten unter ihnen waren die Prozession und das Opfer. In der Welt der Mode keh-ren diese Elemente nun auf erstaunliche Weise wieder.
Die Prozession
Die Prozessionen finden in den Hauptstädten der Mode statt. Auf den Laufstegen von Paris, New York, Mailand und London werden auf rituelle Weise die neuen Entwürfe gezeigt. Junge Frauen und Männer schreiten strengen Choreografien folgend über den Laufsteg, festlich bekleidet. So haben auch die alten Griechen symbolische Macht ausgeübt und ihrem Gott der Schönheit, Apollo, gehuldigt. Ein enger, sorgfältig ausgewählter Kreis darf dem Schauspiel beiwohnen: ein paar Modejournalisten, Einkäufer und Celebrities. Sie entscheiden über die neue Mode – was in die Schaufenster der Einkaufsstraßen und auf die Cover der Magazine gelangt. »Just arrived« oder »Neue Frühjahrsmode« wird dann in den Schaufenstern zu lesen sein. Branche und Kundschaft freuen sich über die Wiedergeburt einer neuen Kollektion.
Die Bilder, die von den Modenschauen präsentiert werden, unterstreichen den rituellen Charakter des Ereignisses. Die ewig gleichen Szenen von den Catwalk-Shows transzendieren die Botschaft eines aktuellen Modetrends zur mythischen Aussage über die Unsterblichkeit der Mode. Das Erscheinen der aktuellen Kollektion wird zu einer Art Gottesdienst. So kann nur eine Gesellschaft feiern, die sich als erste und einzige Kultur der Geschichte hauptsächlich durch ihren Konsum definiert. Gesellschaftlichen Institutionen wie der Kirche oder der Kommune wird durch bestimmte Firmen der Rang abgelaufen. Das Warenhaus als »Konsumtempel« zu bezeichnen ist nicht bloß Metapher, es ist gesellschaftliche Realität.
Das große Opfer
Die wahre Verherrlichung des Warenfetischs liegt jedoch in seiner rituellen Opferung und nicht in seiner Glorifizierung. Bei der Mode kann man dieses Opfer in den halbjährlichen Ausverkaufs-Schaufenstern beobachten. Am Ende einer Saison wird die Kollektion verramscht. Von einem Tag auf den anderen kostet ein Anzug oder ein Kleid nur noch die Hälfte. »Sale begins today« lautet das Todesurteil für die Mode der letzten Saison, sie ist mit diesem Bannspruch »out«.
Übergangsriten helfen seit je gesellschaftliche Krisen, die bei der Transformation von einem Zustand in einen anderen entstehen (in der Modewelt: die neue Kollektion), darzustellen und somit erträglich zu machen. Der erste Ethnologe, der diese Ritualform beschrieben hat, war Arnold van Gennep. Aus seinem Buch Les Rites de Passage von 1909 stammt die Erkenntnis, dass Übergangsriten zumeist drei Phasen aufweisen: Trennung, Umwandlung, Angliederung.
Dieses grundlegende Muster kann man anschaulich in den Schaufenstern der Boutiquen beobachten. Die Trennungsphase wird wie in anderen Ritualen (Hochzeit, Todesfeier) durch die Verwendung eines Schleiers dargestellt. Die Schaufenster werden mit Papier oder mit einer farbigen Folie beklebt, welche die Ware den Blicken der Käufer entzieht. Die zweite Phase, die Umwandlungsphase, ist durch augenfällige Unordnung gekennzeichnet. Der Warenfetisch wird vom Sockel gestoßen, Chaos dominiert die Präsentation. Dionysos, der Gott des Hässlichen, löst die Herrschaft des Gottes Apollo ab.
In archaischen Gesellschaften findet man starke intuitive Bilder wie Nacktheit, Dunkelheit oder die Verwendung ritueller Kleider in der Umwandlungsphase. All diese archaischen Elemente kommen auch in den Ausverkaufs-Schaufenstern vor: Die Scheiben werden verhüllt (Dunkelheit), die Schaufensterpuppen werden ohne Kleidung gezeigt (Nacktheit), und oft haben die Figuren etwas an, was man nicht kaufen kann, ein rituelles Kleid aus Papier oder ein T-Shirt, auf das »SALE« gedruckt ist. Dadurch verlieren die Puppen ihre Identität; wer sie hinter den Scheiben erblickt, sieht seine eigene archaische Herkunft.
Schaufenster-Dekorateure der Gegenwart sind Zeremonienmeister antiker, magischer Praktiken. Allerdings wird in keinem ihrer Lehrbücher der Ausverkauf eigenständig erwähnt. In diesen Publikationen lernt man ausschließlich etwas über Festtage wie Weihnachten, Muttertag oder Ostern, die nach einer besonderen Schaufenstergestaltung verlangen. Der Ausverkauf allerdings wird ohne schulmäßige Anweisung dekoriert, aus dem Unbewussten heraus. Deshalb sehen die Schaufenster zu dieser Zeit zumeist poetischer und künstlerischer aus als im restlichen Jahr, wenn sie kanonischen Mustern folgen.
Der Schnitt durch die Kehle
Dionysos stirbt in der Gestalt des Stieres. In den antiken Opferpraktiken wurde diesem Stier am Altar die Kehle durchgeschnitten. In der modernen Warenwelt wird während des Ausverkaufs der ursprüngliche Preis mit der Hand durchgestrichen – ein ebenso tödlicher Schnitt, im Vergleich zur gängigen Präsentation. Das Prozentzeichen wird zum Opfermesser. Im alten Griechenland folgte auf die Opferhandlung das gemeinsame Mahl von Arm und Reich, bei dem in einem kollektiven Ausbruch von Gewalt das Opfertier mit den Händen zerrissen wurde. Das kollektive Erlebnis heute? Menschen übernachten zum Teil vor den Kaufhäusern, um die Ersten zu sein, die den Warenkörper auf dem Altar des Wühltisches zerreißen. Das Opfer ist somit vollzogen, und man erschrickt, wenn man plötzlich vor einem Schaufenster steht, in dem eine Gliederpuppe zerstückelt am Boden liegt.
Terry Jones, der Herausgeber des Londoner Modemagazins i-D, hat in seinem Vorwort zu dem Buch Fashion Now geschrieben, dass Mode immer schon die Conditio humana mitdefiniert hat. Und so erinnert uns dieser Totentanz, im Lauf dessen alle Marken für ein paar Wochen sterben, an die Endlichkeit unserer Existenz und unsere Hoffnung auf ewiges Leben. Das Londoner Kaufhaus Harrods hat an einer Ecke des eindrucksvollen Backsteinbaus seinen Namen in riesigen Buchstaben mit Glühbirnen geschrieben. Während des Ausverkaufs sind sie zweimal im Jahr ausgeschaltet.
Statt des bekannten Schriftzugs prangt ein ebenso großes »SALE«, das während des Jahres wie ein Schatten versteckt bleibt und nur erscheint, wenn der große Markenname geopfert wird. »Die Mode schreibt das Ritual vor, mit dem der Warenfetisch verehrt wird«, heißt es bei dem Philosophen Walter Benjamin in seiner unvollendeten Abhandlung über die Pariser Passagen. Es ist das Ritual des antiken Vegetationsgottes Dionysos, das sich die Mode borgt, um unsterblich zu sein.
Harald Gründl, Mitbegründer des Wiener Design-büros EOOS, das für Kunden wie Armani oder Adidas Modeboutiquen entwirft, ist Autor des soeben erschienenen Buches »The Death of Fashion. The Passage Rite of Fashion in the Show Window«(Springer Verlag).