Samt - ein Stoff ist gerettet

Samt galt lange Zeit als hoffnungslos altmodisch. Jetzt entdecken Designer den Stoff wieder - und setzen mit ihm dem nahenden Herbst etwas weiche Wärme entgegen.

Blumenhaarband von Babs, Wollmantel von Dries van Noten, rotes Samtkleid von Fendi, Lederhose von Boss Orange, Armreife von Pebbles
Samt ist ein ziemlich widerlicher Stoff: Er fasst sich nicht gut an. Viele bekommen sogar Gänsehaut bei einer Berührung. Die zu einem kurzen Flor geschlungen Fasern, meist in dunklen Farbtönen, wirken oft steif und schwer. Der nervige Gothic-Look fällt einem ein oder die rötlich schimmernden, abgewetzten Sitzbezüge in schmuddligen Separees. Heute wird Samt hauptsächlich für
Kommunionsakkos und als Ummantelung für Lockenwickler verwendet – das hat seinem Image auch nicht geholfen.

Es konnte schon vorkommen, dass man bei Samt an Paris dachte: an die Inneneinrichtung von Versailles und die Roben von Ludwig XIV. Aber nicht an die Kleider auf den Laufstegen. Über drei Jahrhunderte lang kam der teure, aufwendig produzierte Stoff aus Krefeld – die Glaubensgemeinschaft der Mennoniten etablierte dort die Samtweberei und baute einträgliche Wirtschaftsbeziehungen auf. Vielleicht bietet eine deutsche Industriestadt keine gute Voraussetzung, um in der modernen Welt auf Dauer glamourös und mondän zu erscheinen. Doch diese Saison haben die Designer den Stoff gerettet. Er wurde kunstvoll bearbeitet, Muster wurden hineingeplättet wie bei Lanvin; er wurde eingefärbt, gelb zum Beispiel bei Marc Jacobs – alles Altbackene ist verschwunden.

Beim Anblick der samtenen Kleider von Bottega Veneta und Stella McCartney glaubt man für einen Moment, buntes Laub zu riechen. Dass Samt einem die Nackenhaare hochstellen konnte – vergessen. Die Kleider passen zu einem perfekten Sonntagnachmittag im späten Herbst oder im Winter mit Händel-Arien und Bratäpfeln, bei Freunden. Falls man auf dem Weg dorthin einen gefrorenen Weiher mit Schlittschuhen überqueren muss, kein Problem: Samt wärmt. Deshalb muss man nicht wie sonst oft bei viel zu dünnen Winterkollektionen auf den nächsten Sommer warten, um ihn zu tragen.

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Bei aller Romantik: Der Stoff ist nach wie vor weder sexy noch provokant; kommt eher langweilig daher und weich. Aber auch gemütlich, er wirkt friedlich und gar nicht spannend, doch er gibt ein sicheres Gefühl. Man könnte meinen, dass Angela Merkel im Wahlkampf nur Samt trägt.

Wer immer und immer wieder über den Stoff streicht, empfindet ihn mit einem Mal nur noch als weich – und wird die Botschaft entdecken, die die Samtkleider in ihrem Flor verstecken: Diesen Herbst wird viel gekuschelt.


Vielleicht denken Sie: Ist denen an dieser Stelle nichts Besseres als Pflegetipps eingefallen?  Doch, aber nichts Nützlicheres – die Tipps, auf die unsere Autorin Julia Decker während der Recherche stieß, könnten Sie diesen Winter noch verdammt gut brauchen: Samt nur reinigen oder mit der Hand waschen, danach im Handtuch trocken drücken. Um Knitterfalten zu entfernen, an einem Bügel über eine heiße Badewanne hängen.

Markus Gaab (Fotos)