Die Unterwäscheabteilung eines Kaufhauses ist ein trauriger und lächerlicher Ort. Auf den ersten Blick wirkt alles harmlos. Betreten wir Frauen die Abteilung, haben wir noch beste Laune und Absichten. Die Tragikkomödie beginnt, wenn wir den Vorhang der Umkleidekabine hinter uns zuziehen. Im grellen Bühnenlicht sind wir dann gleichzeitig Hauptdarstellerin und Zuschauerin, und zwar ziemlich entsetzte Zuschauerin: Was um Himmels willen ist mit der Garnitur los, die wir da gerade anziehen?
Grob gesagt, kann man in einem normalen Laden nur zwei unterschiedliche Arten von Unterwäsche kaufen. Die eine will erwachsene Frauen in süße Mädchen verwandeln: sehr kleine Baumwollslips mit Blümchenmuster, die nur gut aussehen, wenn man acht Jahre alt ist oder Gisele mit Vor- und Bündchen mit Nachnamen heißt. Das andere Standardset soll uns zu scharfen Hasen machen: String, Push-up, Nieten, Plastikspitzen, Plastikschleifen und am besten irgendwas mit ganz vielen Schnallen. Das Ergebnis ist, dass man vor Scham versinkt. Man will ja einem Mann gefallen dürfen. Aber nun steht man da in einem 150 Euro teuren Hauch von nichts, sieht aus wie ein Riesenkarnickel und weiß, dass man weder physisch noch psychisch in der Lage sein wird, das erotische Versprechen der Wäsche einzulösen.
Erstaunlicherweise ist die Rettung aber viel näher, als viele Frauen denken, genau genommen ist sie nur einen Fingerwischer oder einen Tastendruck entfernt. Im Internet bieten mittlerweile viele kleine Unterwäschehersteller wie Pansy, The Nude Label oder LÖV neue Kollektionen an. Im Repertoire findet sich häufig der aus der Bademode inzwischen bekannte, angenehm altmodische High-Waist-Schnitt. Der Slip mit nicht zu hohem Beinausschnitt reicht bis zum Bauchnabel und verdeckt elegant Kaiserschnittnarben, Fitnessrückstände und kleine Rollen, für die sich eigentlich natürlich niemand schämen müsste. Und es gibt auch keine unbequemen BH-Bügel, die rote Striemen hinterlassen und asymmetrische Brüste in symmetrische Körbchen pressen wollen. Das Prinzip ist also: weniger Show und mehr Stoff. Praktischerweise ist dieser Stoff meistens aus anschmiegsam weicher Baumwolle, und es gibt ihn in wunderschönen Sommerabendfarben - kein Mensch muss fürchten, dass nun die Ära der Omaschlüpfer und Keuschheitsgürtel zurückkehrt. Sowieso: Was gibt es denn Schöneres als eine Frau, die sich in ihrem Körper und in ihrer Unterwäsche wohlfühlt?
In den meisten Läden ist diese Unterwäsche bisher nicht zu bekommen. Man muss sie online bestellen und vielleicht die eine oder andere Rücksendung einkalkulieren, weil es schwierig ist, auf Anhieb die richtige Größe zu finden. Aber diese Mühen sollte man in Kauf nehmen. Es könnte wirklich sein, dass im Jahr 2017 ein jahrzehnte-, jahrhunderte-, ja jahrtausendealter Irrtum zu Ende geht. Der Irrtum nämlich, dass die Unterwäsche den weiblichen Körper zurichten, einschnüren und herauspräparieren muss, statt ihn einfach in seiner natürlichen Schönheit zu zeigen.
Schon Adam und Eva trugen Unterwäsche: das Feigenblatt. Es wurde dann ausgebaut zu einem weltlichen, aus mehreren Blättern und Tierhäuten gebastelten Lendenschurz, der - da sind sich Völkerkundler einig - die frühe Menschheit nicht vor Scham bewahren sollte, sondern die Genitalien vor Verletzungen. Das war noch ein ganz sympathischer, pragmatischer Ansatz.
Je mehr sich die Menschheit zivilisierte, desto mehr wurden Kleider aber zu einem Statussymbol. Und desto mehr engte die Unterwäsche die Frauen ein. Die Griechen erfanden für Frauen eine Art Brustwickel, den die Römerinnen später begeistert übernahmen - das Strophium. Es sollte helfen, die Brüste unter den Gewändern vorteilhaft zu präsentieren. Von dem Dichter Martial, der im ersten Jahrhundert nach Christus lebte, ist ein Gedicht überliefert, in dem er das Strophium bittet, »die anschwellenden Brüste meiner Geliebten zusammenzudrücken«, damit er sie mit seiner Hand umfassen könne. Das Schönheitsideal verlangte damals nach flachen Brüsten und eher breiten Hüften.
Nach dem Zerfall des Römischen Reichs war auch Unterwäsche erst mal out. Im Mittelalter lupften alle schlicht ein langes Hemd. Um 1500 brachte der Beginn der Renaissance einen Modewandel mit sich. Die höfische Prüderie sorgte im damaligen Europa dafür, dass Frauenkörper jahrhundertelang zusammengepresst wurden. Mal über der Kleidung getragen und mal darunter, funktionalisierte man den weiblichen Körper durch Mieder, Korsette und Schnürleibchen zur modisch anpassbaren Modelliermasse. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts galt eine Frauentaille mit einem Umfang von 46 Zentimetern als ideal, 1950 war die Wespentaille wieder en vogue.
Der heutige, stoffarme Unterwäsche-Plastik-Allrounder aus BH und Slip ist ein Ergebnis der befreiten Sechzigerjahre und des damals neuen sexuellen Selbstbewusstseins der Frauen. Er ist aber auch eine Folge der seltsamen Weniger-ist-mehr-Bewegung, die in den Siebzigern mit der Erfindung des Tangas in Brasilien begann und sich vor allem in den Neunziger- und Nullerjahren immer weiter ausbreitete. Warum das so war, ist fraglich. Unter sehr engen Hosen mag ein String besser aussehen, weil er sich nicht abzeichnet. Aber wer trägt noch so enge Hosen? Vielleicht haben sich die Frauen in die Striptease- und Lolitakostüme gezwängt, weil sie dachten, dass das den Männern gefällt. Bloß - war das jemals der Fall? Oder haben sich einfach die Unterwäschehersteller eine Art Rüstungswettlauf um das schärfste Dessous geliefert, der außer Kontrolle geriet?
Inzwischen verzichten die ersten Unterwäschefirmen auf die herkömmlichen Größenbezeichnungen - 34/36, 38/40, 42/44 - und ersetzen die schnöden Zahlen durch schöne Worte: »Lovely«, »Gorgeous« und »Beautiful«. Man kann darüber lachen. Man kann das kleine Sprachspiel aber auch als Ausdruck einer neuen weiblichen Körperliebe sehen, die von der Body-positive-Bewegung rund um das Übergrößenmodel Tess Holliday oder die Produzentin und Schauspielerin Lena Dunham propagiert wird. Die neuen, meistens von jungen Frauen geführten Unterwäschefirmen versehen ihre Produkte auf ihren Internetseiten mit politischen Begleittexten, sie verweisen auf das neue »Empowerment« der Frauen, die Sehnsucht nach Behaglichkeit und Selbstliebe. Es sind eigentlich banale Forderungen. Dass sie trotzdem erhoben werden, zeigt noch einmal, was die Männer den Frauen und die Frauen sich selbst in der Vergangenheit so alles angetan und angezogen haben.
Foto: Ashley Autumn