Bitte frei machen: Blazerjacke mit Carmenausschnitt, von Céline.
Schulterfrei war lange Zeit keine Spielart der Mode mehr, sondern Teil einer sexy gemeinten Partyuniform. Ein angezogenes Absturzversprechen. Gerne kombiniert mit torkelndem Gang, heiserer Stimme und transparenten BH-Trägern, unter denen sich Schweißbläschen bilden und Fusseln hängen bleiben. Auf der Wiesn tragen es die Zugezogenen, am Ballermann die Kellnerinnen und zu Karneval alle. Nur im Alltag trug in letzter Zeit niemand schulterfrei. Wer sich doch einmal in ein Carmentop wagte, sorgte womöglich für Missverständnisse. Wer will schon an der Bushaltestelle von hinten angetanzt werden? Sich mittags in der Kantine nur noch Trinksprüche anhören? Oder in der Supermarktschlange in eine Polonaise eingespannt werden? Doch in diesem Herbst holen Raf Simons bei Dior und Phoebe Philo bei Céline das Carmentop unmissverständlich aus den Partyzelten: Sie zeigen Wollblazer und Pullover in gedeckten Farben, mit langen Ärmeln und einem Ausschnitt, der nur ein wenig verrutscht zu sein scheint und bereits knapp unterhalb der Schultern endet. Carmen in casual.
Es ist die hochverdiente Wiederkehr eines Kleidungsstücks, das den raffiniertesten Ausschnitt unter den Dekolletés hat - kein Versprechen, sondern eher eine Verheißung. Ein Textil im freien Fall und doch nicht haltlos offen. Lasziv und fordernd wirkt seine Trägerin. Und zur gleichen Zeit auch zerbrechlich und schutzbedürftig - mit ihrem freiliegenden Hals, den unbedeckten Schultern und dem exponierten Schlüsselbein. Man würde ihr eine Jacke umlegen wollen, wenn es nicht viel schöner wäre, sie in den Arm zu nehmen. Ein reizvoller Widerspruch ist dieses Oberteil, eine Koketterie mit der Unschuld. Und natürlich kein bisschen plump.
(Styling: Almut Vogel; Stylingassistenz: Marie-Therese Freise; Fotoassistenz: Alex Orjecovschi, Sarah Kühl/Lb Studios; Haare: Luciano De Medeiros; Make-up: Masae Ito; Model: Milana Kruz/Women)
Foto: David Bornscheuer