(Die Toten Hosen in der Besetzung der frühen 80er-Jahre: v.l. Breiti; Andi; Trini; Kuddel; Campino. Foto: Interfoto/Archiv Friedrich.)
SZ-Magazin: Sie werden in wenigen Wochen 50 Jahre alt. Nervös?
Campino: Nein, ich habe den Vorteil, dass ich mich schon lange wie 50 fühle.
Jetzt kokettieren Sie.
Nein. Meine Midlife-Crisis hat begonnen, als ich in der 7. Klasse zum zweiten Mal sitzen geblieben bin. Ständig bekam ich gesagt: »Andreas Frege, Sie sind hier der Älteste, Sie sollten es doch besser wissen.« Mit 50 komme ich also endlich da an, wo man mich schon immer verortet hat.
Ein Punk wird 50 - könnte ein schwieriger Tag werden.
Keine Sorge, Sie erwischen mich nicht beim Jammern, das wäre doch armselig. Ich fühle mich wie die Figur aus einem Computerspiel. Es gibt Leute, die fliegen bei Level 20 oder 30 raus, ich hab’s bis Level 50 geschafft und noch ein bisschen Energie übrig. Klar habe ich Beulen abbekommen, aber wenn ich was im Leben gelernt habe, dann, dass man an so einem Tag Haltung bewahren muss.
Werden Sie feiern?
Wir spielen am Abend davor und danach ein Konzert, aber ein paar Wochen später mache ich mit zwei Freunden ein großes Fest. Zelten am See. Viele Leute. Viel trinken. Laute Musik. Wer keine Lust auf Zelten hat, braucht nicht zu kommen. Das wird meine erste und letzte richtige Party.
Ihr ganzes Leben war eine Party.
Aber ich war immer nur Gast. Ich hatte immer ein gestörtes Verhältnis zu meinen Geburtstagen. Ich wusste nicht, was es da zu feiern geben soll, und organisierte Fröhlichkeit mag ich nicht. Vielleicht weil meine Mutter mich zum 19. Geburtstag mit einer Party überrascht hat. Ich weiß noch, wie froh ich war, weil ich dachte, keiner hat meinen Geburtstag mitbekommen, und dann standen auf einmal alle auf der Matte.
Warum tun Sie sich dann die Feier an?
Weil jeder einmal im Leben da durch muss: Einladungskarten schreiben, den Diener machen, Gastgeber sein.
Ihr Sohn ist acht Jahre alt. Darf er mit oder ist er noch zu jung?
Natürlich ist er dabei. Er muss ja nicht durchmachen, darf aber gern ein paar Eier zum Frühstück braten.
Was machen Sie heute, wofür Sie sich 1982 verachtet hätten?
Da fällt mir nicht viel ein. Vielleicht, dass ich heute täglich dusche und ab und zu Parfum benutze.
Vielleicht Rotwein trinken?
Rotwein war nie ein Problem. Wir haben doch alles zu uns genommen, was genug Umdrehungen hatte.
(Campino heute. Foto: Robert Eikelpoth)
Gibt es Dinge, die Sie bereuen?
Jede Menge. »No regrets« ist das dümmste Statement der Welt. Nichts zu bereuen ist tragisch. Das fängt bei mir schon mit den Namen an: Campino, Die Toten Hosen. Wenn ich geahnt hätte, was die Zukunft bringt, hätte ich mir damit mehr Mühe gegeben. Oder dass ich mit 20 Jahren sturzbetrunken nach Konzerten in die Kaserne gefahren bin.
Sie waren bei der Bundeswehr?
Nur ein paar Monate, bis meine Verweigerung durch war. Oft war ich so voll, dass ich auf der Autobahn anhalten musste, um die Schilder zu lesen. Es gab eine Zeit, da habe ich immer wieder Kontrollverlust und Exzess gesucht. In mir steckte eine gewisse Selbstzerstörungswut. Ich glaube nicht, dass die noch existiert. Hoffentlich ist mein Sohn da anders.
Der Punk, der zum autoritären Vater wird - ganz schön gemein.
Ich will nur verhindern, dass er die Erfahrungen macht, die ich mir herausgenommen habe. Ich habe Angst um ihn, genau wie mein Vater Angst um mich hatte. Meine Eltern waren eine autoritäre Institution, aber nicht die Personen meines Vertrauens. In einer Großfamilie mit sechs Kindern ist das oft so. Für ernste Gespräche habe ich mir
lieber den großen Bruder genommen.
Was an Ihnen ist auch mit fast 50 noch nicht bürgerlich?
Ich habe nie versucht, nicht bürgerlich zu sein. Ich weiß nicht, was falsch daran sein soll. Kleines Haus, schönes Auto, zwei Kinder, alles wunderbar.
Trotzdem haben Sie sich für einen anderen Weg entschieden.
Ich habe viel weniger entschieden, als Sie denken. Ich bin in dieses Leben reingeraten und zahle einen Preis dafür, genau wie man für jedes andere Leben einen Preis zahlt.
Jetzt jammern Sie doch.
Nein, ein Musikerleben hat auch Nachteile. Zum Beispiel ist es eine riesige Belastung für den Partner. Man kommt schwerer in eine Tiefe, die andere Paare erreichen, die mehr und intensiver Zeit miteinander verbringen können. Abgesehen davon, dass ich als Junge lange ein einsamer Bauarbeiter werden wollte, weil die ihr Bier aus Flaschen trinken dürfen, wäre ein richtiges Familienleben eine Alternative gewesen. Aber die hat sich für mich nun mal nicht geboten. Bekannte aus Düsseldorf haben vor Kurzem das zwölfte Kind bekommen, das ist Punkrock in Reinkultur. Besser geht’s nicht.
Auf dem neuen Album besingen Sie die Magie des Aufbruchs, den Moment, in dem man alles hinter sich lässt. Traurig, dass das nicht mehr möglich ist?
Ich verstehe nicht, was Sie meinen.
Das größte aller Gefühle.
Campino gibt immer alles: Auch dafür werden Die Toten Hosen, hier 2001 in Buenos Aires, von ihren Fans vergöttert. Foto: Slavica.
Die Toten Hosen sind ein perfekt organisiertes Unternehmen, das am Laufen gehalten werden muss.
Übertreiben Sie mal nicht. In unseren Liedern steckt oft Sehnsucht, und die hört nie auf, nicht mit 50 und nicht als Vater. Sehnsucht hat in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt. Meistens rührt sie sich, wenn alles zu passen scheint. Dann denke ich: Es ist schön, aber ich gehöre nicht hierher.
Zum Beispiel?
Im Urlaub. In einem tollen Hotel, der Himmel ist blau, irgendwo zwitschert ein Vogel, alles ist perfekt, aber es reicht nicht. Ich stoße Sachen gern um, bin unruhig. Sie kennen doch das Lied von Hannes Wader: »Heute hier, morgen dort, bin kaum da, muss ich fort.« Das meine ich.
Nur können Sie nicht mehr fortlaufen.
Umso mehr muss man die großen und schönen Momente zelebrieren. Wenn sich einer einstellt, sei es ein rauschendes Fest oder ein intensives Gespräch, sollte man nicht einfach drüber weggehen und sagen: Tut mir leid, ich muss morgen früh raus.
Werden solche Glücksmomente weniger?
Die sind in jedem Alter selten.
Können Sie sich an Ihren letzten erinnern?
Champions-League-Finale 2005. Als Liverpool gegen AC Mailand nach einem 0:3 innerhalb von sechs Minuten auf 3:3 aufgeholt hat. Es gibt aber auch die kleinen Augenblicke, zum Beispiel gestern, als ich mit meinem Jungen im Kino war: Krieg der Knöpfe. Darin fragt ein 14-Jähriger ein süßes Mädchen: »Kann ich meinen Kumpels sagen, dass wir verlobt sind?« Das Mädchen sagt: »Okay.« Da höre ich meinen Sohn flüstern: »Die haben sich ja gar nicht geküsst, das gilt nicht.« Eine halbe Stunde später küssen sie sich. Und mein Sohn murmelt andächtig in der Dunkelheit: »Jetzt sind sie verlobt.«
Deprimiert es Sie, dass die Optionen in Ihrem Leben weniger werden?
Sie werden nicht weniger. Ich konnte schon früher an jeder Kreuzung nur in die eine oder andere Richtung abbiegen. Okay, vielleicht waren diese Richtungen abenteuerlicher oder schienen zumindest so. Dafür war mein Spielraum begrenzter. Heute kann ich mich in ein Flugzeug setzen und nach Australien oder Amerika fliegen, vor 30 Jahren musste ich mich nur zwischen zwei Kneipen entscheiden. Also: Null deprimiert, im Gegenteil, die schönsten Dinge habe ich in den letzten zehn Jahren erlebt.
Welche waren das?
Zum Beispiel der Film Palermo Shooting mit Wim Wenders, die Dreigroschenoper mit Klaus Maria Brandauer. Ich weiß nicht, warum einem jeder einreden will, dass alles schlechter wird. In mir stecken nach wie vor Abenteuerlust und Leidenschaft. Aber ich habe erkannt, dass Die Toten Hosen das Ding meines Lebens sind. Etwas Besseres wird kaum noch kommen.
Trotzdem waren der Film und das Theaterstück die besten Momente in zehn Jahren?
Ich habe mich doch nur getraut, Mackie Messer in der Dreigroschenoper zu spielen, weil ich Campino von den Toten Hosen bin und seit über 30 Jahren auf der Bühne stehe.
Was verstehen eigentlich die Menschen nicht, die Sie als Ewig-Punk belächeln?
Keine Ahnung. Punk war schon tot, als wir uns 1982 in Düsseldorf gegründet haben. Schon 1979 stand in riesiger Schrift an der Wand im »Ratinger Hof«: Sid ist tot. Wir wollten trotzdem ein bisschen weitermachen. Im Grunde waren Die Toten Hosen immerhintendran. Wenn Sie das tragisch finden, bitte schön. Immerhin habe ich es 30 Jahre lang geschafft, einen ordentlichen Beruf zu umgehen.
Sie machen immer das Gleiche, trotzdem gilt Ihre Band mal als cool, mal als uncool.
Gegen den Zeitgeist ist man machtlos. Wir halten es mit AC/DC. Die waren lange angesagt, bis irgendwann alle dachten: Mein Gott, wie langweilig, immer das Gleiche. Aber die haben einfach weitergemacht. Inzwischen sind sie wieder Kult. Das letzte Album wurde als Geniestreich gefeiert, obwohl es immer noch die gleiche Musik ist. Man geht den Leuten eben mal mehr und mal weniger auf die Nerven.
In den Neunzigern sind Sie den Leuten ziemlich auf die Nerven gegangen.
Sehe ich heute auch so. Ich habe ständig meinen Mund aufgemacht. Aber wenn du heute über den Castor sprichst und morgen über Afrika, verlierst du schnell an Schlagkraft und wirkst unglaubwürdig. Da kann die Sache, für die du dich einsetzt, noch so gut sein.
Gibt es eine Eigenschaft, die Sie erst in den letzten Jahren an sich entdeckt haben?
Heute bewerte ich das Leben nach anderen Kriterien. Früher habe ich gedacht, ich kriege fast alles hin. Heute muss ich mir eingestehen, dass dem bei Weitem nicht so ist. Es gibt Dinge, die überrollen einen. Ungerechtigkeiten, gegen die man machtlos ist.
Zum Beispiel?
Ich kann nur sagen, dass man einen anderen Menschen nicht ein Leben lang beschützen kann, nicht einmal sich selbst. Da passt man einmal nicht auf, und alles entgleitet einem, bis hin zur Riesenkatastrophe. Und dann denkt man: Das ist nicht fair! Aber es passiert. Ich habe gelernt, dass man manches schlucken muss, Unglücke, Todesfälle. Ich denke, das muss ich nicht näher erklären.
Haben Sie Vorsätze gefasst, so mit fast 50?
Sie wollen doch jetzt nicht von mir hören, dass ich mir ein Motorrad kaufe oder so was Lahmarschiges?
Vielleicht fangen wir mit Golf an?
Habe ich probiert. Gar nicht schlecht. Hat Spaß gemacht. Ich bin großer Minigolf- und Krocket-Fan, ich mag alles, was in einem Kleingarten stattfinden kann. Und wenn man mit dem Schläger in den Rasen haut und der Rasen weiter fliegt als der Ball, das ist schon meine Art Humor.
Arbeiten Sie an einem Weinkeller?
Ich mag’s gern, wenn es glatt die Kehle runtergeht und nicht groß interpretiert wird.
Das größte aller Gefühle?
Immer wieder Istanbul 2005. Sie wissen schon, Liverpool gegen AC Milan. Sorry, das ist mir selbst peinlich. Ich hatte mir den Tag monatelang geblockt und zwei Rückflüge gebucht, einen nach Deutschland, falls die Jungs verlieren, und einen nach England, falls sie gewinnen.
Ein Sieg im Fußball ist größer als die Geburt Ihres Sohnes?
Unsinn! Aber eine Geburt ist ja eher stressig. Diese Sorge, dass alles gut geht, die Ohnmacht, danebenzustehen und sein Team nicht mal anfeuern zu können. Verstehen Sie mich nicht falsch, eine Geburt ist unglaublich, aber das Schöne ist das Ergebnis, nicht der Moment.
Welche Spuren hinterlassen 30 Jahre Punkmusik?
Schlechtes Gehör. Schweißfüße. Berufskrankheiten. Auf Tour fühle ich mich immer noch, als wäre ich im Schullandheim. Wenn du unterwegs bist, sind die Probleme zu Hause weit weg. Das ist fast ein drogenähnlicher Zustand. Die Sorgen oder eine Rechnung, die zu Hause liegt, berühren dich überhaupt nicht. Du kennst deine Wege, deine Aufgaben, wirst morgens geweckt, abends um neun ist der Auftritt, das Leben scheint so einfach wie ein ständiger Standby-Modus.
Die Toten Hosen in Zahlen.
Die Toten Hosen in Zahlen
17 Personen haben Platz im Gemeinschaftsgrab auf dem Düsseldorfer Südfriedhof, das Die Toten Hosen angemietet haben - laut Campino für die Band, Roadies und weitere Familienmitglieder.
30 Jahre gibt es Die Toten Hosen. Die Band hat sich 1982 in Düsseldorf gegründet und wurde bei ihrem ersten Konzert im Bremer Schlachthof versehentlich als »Die Toten Hasen« angekündigt.
500 000 Fans hat die Band auf Facebook. Zum Vergleich: Herbert Grönemeyer hat 175 000, Rammstein 5,5 Millionen und Justin Bieber 42,5 Millionen.
15 000 000 Tonträger haben Die Toten Hosen seit ihrer Gründung verkauft. Insgesamt haben sie 15 Studio-Alben veröffentlicht. Ihre erfolgreichste Single ist Zehn kleine Jägermeister. Das Lied stand 1996 fünf Wochen auf Platz 1 der deutschen Charts.
Foto: Robert Eikelpoth