Die amerikanische Geigerin Anthea Kreston ist überglücklich: Seit ein paar Monaten ist sie die Neue im weltberühmten Artemis Quartett. 156 Bewerberinnen und Bewerber spielten Probe, und als die Wahl auf sie fiel, konnte sie es erst nicht fassen, dann verkaufte sie ihr Haus und ihr Auto und zog mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern von der Pazifikküste nach Berlin.
Und jetzt das! Ihre Geige ist weg. 40 Sekunden lang hat sie sie aus den Augen gelassen, im ICE 279 auf dem Weg von Berlin zum Konzert nach Freiburg. Sie war nur kurz auf der Toilette. Normal nimmt sie ihren Geigenkoffer mit, alle Geiger nehmen ihr Instrument überall hin mit, aber heute dachte sie: Komm, die paar Sekunden, das geht schon. Und jetzt ist die Geige weg, eine Carl Becker aus dem Jahr 1928, eine »amerikanische Stradivari«.
In Deutschland sagen Geigenbauer, eine Carl Becker sei kein Ferrari. Aber immerhin ein Volkswagen der obersten Klasse. Es gibt Stargeiger, deren Instrument mehrere Millionen Euro wert ist. Krestons Instrument kommt nur auf ungefähr 75.000, aber darum geht es nicht. Es ist die Geige, auf der sie spielt, seit sie 14 ist. Es ist die Geige, die jeden Fehler, jedes Glücksmoment, jedes Stück kennt, das Kreston auf ihr gespielt hat. Ein Musiker und sein Instrument, das ist eine besondere Beziehung, irgendwann verwachsen sie, das Instrument wird zu einem Körperteil, der Körper zu einem Teil des Instruments.
Es sind 24 Minuten bis zum nächsten Halt in Karlsruhe, so lange haben sie Zeit, die Geige zu finden. In den 24 Minuten entfaltet sich unter ihren neuen Kollegen etwas, das Anthea Kreston als magisch bezeichnet. Die Musiker sind daran gewöhnt, unter Druck ruhig zu bleiben - und dabei die Schwächen und Stärken der anderen einberechnen. Ein Streichquartett, das ist unbedingte Verbindlichkeit, das ist Vertrauen, Rücksicht, auch Abhängigkeit. Jetzt übersetzen ihre Kollegen diese Fähigkeit in eine Sonderkommission: Sie jagen den Geigendieb. Überlegt, effektiv, ohne Vorwürfe.
Eine Suchanfrage auf Facebook verbreitet sich in rasender Geschwindigkeit, sämtliche Geigenbauer in Deutschland, Österreich und der Schweiz werden über den Diebstahl informiert. Könnte ja sein, dass der Dieb zu ihnen kommt. Bei Diebstählen teurer Instrumente ist es inzwischen wie bei einem Werk von Picasso: Es wäre nur unter der Hand zu verkaufen. Stopp in Karlsruhe. Nichts. Kreston geht zur Polizei. Sie darf Videos von Überwachungskameras sichten. Es beginnt ein Krimi, ein Wettlauf mit der Zeit, um 20 Uhr beginnt das Konzert in Freiburg.
Fotos: Urban Zintel