Der Vorhang geht auf, doch die Bühne ist leer. Zu sehen ist nichts außer einer Kulisse von dramatischer Schönheit: Hügel, Wälder, schneebedeckte Berge, ein Labyrinth von Wegen und tiefen Schluchten. Es sind die Schluchten des Balkans. Im Vordergrund ein Dorf, Celebici, mit einer orthodoxen Kirche aus grobem Stein und einem knappen Dutzend Häusern. Langsam kommt Bewegung in die Szene. Bauern in Gummistiefeln und Trainingsanzügen zeigen sich, ein Armee-Jeep der Bosnien-Friedenstruppe SFOR fährt vor. Die Soldaten grüßen, die Dörfler wenden sich ab, verächtlich, und spielen Alltag. Vor der Kirche schaufelt einer Schnee, drei andere beladen neben einer Scheune ein Pferd mit Holzscheiten.
Gegeben wird ein Stück, das seinen Höhepunkt verpasst hat. Der Titel: »Die Jagd auf Radovan Karadzic. Das Drama einer Verfolgung.« Ein Drama? Vielleicht doch eher eine Posse – eine, wie er selbst sie hätte schreiben können. Denn Radovan Karadzic, der Gejagte, ist ein Dichter. Kein guter, aber ein produktiver, und das seit langem. Die Blut-und-Boden-Lyrik ist sein Metier. Seine Gedichtbände tragen Titel wie Verrückter Speer (1968) oder Schwarze Fabel (1990). Schon 1969 hatte er beängstigend visionär über Sarajevo geschrieben: »Die Stadt verglüht wie ein Weihrauchklumpen.« Neulich hat er wieder ein Theaterstückchen veröffentlicht namens Sitovacija, Situation, in dem er sich lustig macht über die internationale Gemeinschaft. Der Plot: Ein tumber Amerikaner - nicht einmal der Sprache mächtig, weshalb er das Wort Sitovacija ebenso wie alles andere falsch versteht - will das serbische Volk umerziehen. Er findet einen willfährigen Dummkopf, den er zum neuen Präsidenten aufzubauen versucht. Es ist ein Stück voller Häme über die westlichen Protektoren, die seit fast acht Jahren vergeblich versuchen, ihn zu fangen, und fast ebenso vergeblich darum ringen, aus dem kriegszerstörten Bosnien einen funktionierenden Staat zu machen. Da haben sie sehr gelacht in seinem serbischen Schattenreich.
Es ist die schale Schadenfreude darüber, dass Karadzic es wieder einmal allen gezeigt hat. Mögen sie ihn doch beschuldigen, der Hauptverantwortliche zu sein für den Krieg in Bosnien mit 200000 Toten und zwei Millionen Vertriebenen. Soll ihn doch das nicht zuletzt seinetwegen vor zehn Jahren gegründete UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagen. Die amerikanische Regierung kann ein Kopf- geld aussetzen von fünf Millionen Dollar, die Nato nach dem Friedensschluss von Dayton 1995 Zehntausende von Soldaten ins Land schicken - solange sie ihn nicht haben, solange Karadzic in Freiheit lebt und seine Jäger narrt, so lange haben die Serben den Krieg noch nicht verloren.
Als Phantom ist der gelernte Psychiater Dr. Radovan Karadzic, spezialisiert auf Depressionen, der Beweis für ihre Unbeugsamkeit und Überlegenheit. Er hält sich versteckt in den Wäldern rund um den ostbosnischen Ort Celebici und auf verschlungenen Wegen besucht er seine Familie, die sich noch in seiner alten Hochburg Pale auf den Hügeln über Sarajevo aufhält. Bis zum Dezember leitete seine Frau Lilijana noch das Rote Kreuz und bis heute betreibt seine Tochter Sonia dort den Radiosender Sveti Jovan, Heiliger Johannes. Er besucht seine herzkranke Mutter Jovanka auf der anderen Seite der Grenze im montenegrinischen Städtchen Niksic und lässt seinen Verleger Miroslav Toholj in Belgrad seine neuesten Werke veröffentlichen sowie Pläne ankündigen für ein Kinderbuch, zwei Romane und eine sechsbändige Ausgabe seiner gesammelten Werke. Er genießt den Schutz der orthodoxen Kirche, in deren festungsartigen Klöstern er Unterschlupf finden soll - Gerüchten zufolge camoufliert als Pope, mit langem Bart und ohne den markanten grauen Schopf. So hält der Held Verbindung zur realen Welt. Er bleibt dabei unsichtbar und ist dennoch allgegenwärtig an den Schauplätzen dieser Posse, die an diversen Orten Bosniens und in den Fluren des Haager Gerichtshofs spielt.
In der mit Jagdtrophäen nur notdürftig geschmückten Kneipe von Celebici sitzt der Gemeindevorsteher Slavko Brkovic bei Schnaps und Kaffee. Er ist ein bulliger Mann von Mitte vierzig, mit Händen, die zupacken können, und einem klaren Kopf. Ihm sind die Probleme der Welt fast so wichtig wie die Probleme im Dorf. Über Karadzic mag er nicht so gern reden, viel lieber über Bush, über Schröder und auch Fischer. Wie zufällig hat sich der örtliche Polizist eingefunden und am Nebentisch platziert ebenso wie ein paar kernige junge Burschen, die dem Gespräch folgen. Aber wo sollten sie auch sonst hingehen in diesem erbärmlichen Kaff, in dem die Leute auf die Frage, wie es ihnen geht, gern antworten: "Immer noch am Leben." Mehr dürfen sie hier wohl nicht erwarten vom Leben. Der einzige Laden zeigt halb leere Regale her, in den Gärten stehen die Plumpsklos und auf der Straße liegt der Dreck. So ist es, so war es wohl immer und doch gibt es seit ein paar Monaten etwas Neues in Celebici.
Mindestens einmal pro Woche tauchen die Patrouillen der Bosnien-Friedenstruppe SFOR auf, von Zeit zu Zeit knattern amerikanische Hubschrauber über die Dächer.
»Wir zeigen Präsenz«, sagen die Soldaten. »Sie suchen nach Karadzic«, sagt der Gemeindevorsteher Brkovic. »Doch hier ist er nicht und hier war er nicht«, behauptet er. Und wenn er käme? »Dann werden wir ihn aufnehmen, da bin ich ehrlich.« Karadzic verehren sie immer noch als »Helden«, besonders im Osten Bosniens in der Repubika Srpska, wo sie im Krieg weit besser lebten als im Frieden, weil sie von internationaler Hilfe abgeschnitten sind, solange Kriegsverbrecher dort frei herumlaufen. Die Serben hat das womöglich noch fester zusammengeschweißt.
Hier leben sie jedenfalls immer noch hinter ihren nationalistischen Barrikaden, die ideale Deckung bieten für Karadzic. Und hinter den Barrikaden sind die versteckten Gehöfte und auch Höhlen, die dem Gesuchten Schutz gewähren können. Es ist die Gegend, in der Karadzic im montenegrinischen Dörfchen Petnjica gleich hinter der Grenze am 19. Juni 1945 als Sohn eines Schusters und einer Bäuerin geboren wurde. Wer ein Versteck sucht, ist hier richtig. Wer einen Verbrecher sucht, ist ziemlich schnell verloren. Das weiß Karadzic, das weiß die Nato und es wusste dereinst auch schon der serbische Rebell Draza Mihajlovic, Führer der königstreuen Tschetniks, der, gefeiert vom Volk, hier nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit den Häschern des Marschalls Tito entging.
Diese Geschichte kennen sie alle in Celebici. Aber von der Neuaufführung wollen sie nichts wissen. »Die Leute sind sauer und wir stehen unter einem enormen Druck«, sagt Brkovic. Besonders sauer sind sie seit dem letzten Frühjahr, als in der Morgendämmerung amerikanische Spezialkräfte auftauchten. Vier Hubschrauber landeten auf dem schäbigen Sportplatz neben der Schule, bewaffnete Burschen mit Gesichtsmasken sprangen heraus und die Dörfler wurden mit erhobenen Händen aus ihren Häusern getrieben. Jeden Stein haben die Soldaten umgedreht und die Tür der Kirche eingetreten. Gefunden haben sie nichts außer einem Waffenlager. Im Nato-Hauptquartier in Brüssel meldeten sie hinterher, der ewig Gesuchte sei knapp entwischt. Und Generalsekretär George Robertson beeilte sich, dem Publikum zu versichern: »Wir sind auf Karadzics Spur und wir werden niemals aufgeben. Der Tag der Abrechnung kommt.« Im August sollte wieder einmal abgerechnet werden. Die SFOR schwärmte aus zur Razzia in Celebici - wieder ohne Erfolg.
Nun fährt die Sfor also ihre regelmäßigen Patrouillen und in der Gegend um Celebici sind dafür Soldaten der Bundeswehr zuständig. »Finger area« nennen sie dieses Einsatzgebiet, weil es wie ein ausgestreckter Finger nach Montenegro hineinragt. Für die Kontrolle dieses Irrgartens, der mit 400 Quadratkilometern größer ist als das Stadtgebiet Münchens, stehen dem deutschen Oberleutnant David Thomas nicht mehr als 19 Mann und sechs Fahrzeuge zur Verfügung. »Es gibt Wege, die kennen wir gar nicht«, sagt er bei der Fahrt über holprige Pfade. »Ganze Horden können durchziehen und man sieht sie nicht«, meinen die Soldaten. Wahrscheinlich ist es auch besser so.
Denn Karadzic wird scharf bewacht. Bis zu 200 schwer bewaffnete Bodyguards, so wird geschätzt, stehen ihm zur Verfügung. Mit denen werden es die SFOR-Patrouillen nicht aufnehmen können. Sie wollen es auch nicht - und in Wahrheit müssen sie es gar nicht. Denn den starken Worten im Westen zum Trotz lautet der in einem Anhang zum Dayton-Friedensvertrag festgelegte Auftrag für die SFOR lediglich, Kriegsverbrecher festzunehmen, wenn sie ihnen zufällig über den Weg laufen. Ab und an haben sie das Mandat sehr weit ausgelegt, haben richtige Rambo-Aktionen vollführt und 27 Gesuchte verhaftet, darunter Schwergewichte wie Momcilo Krajisnik, den zweiten Mann der Serbenrepublik. Doch zufällig ist ihnen Karadzic noch nie begegnet.
Für Oberstleutnant Anselm Tessmann, den Führer der deutschen Einsatzkräfte in Sarajevo, wäre das auch »ein Albtraum«. Denn »das Leben meiner Soldaten ist mir viel wichtiger, als Karadzic zu fangen", sagt er. Wenn er eine Prioritätenliste von eins bis zehn aufstellen soll über seine Aufgaben in Bosnien, rangiert die Jagd auf den serbischen Dr. Seltsam »bei zehn, eindeutig«. Die Bundeswehrsoldaten sehen sich viel eher in der Rolle einer Hilfsorganisation, die Häuser aufbaut und Wolldecken verteilt. Die Kriegsverbrecher überlassen sie lieber den Spezialkräften, den »Wollmützen«, wie Tessmann sagt. Vermummt gehen diese ans Werk. Sie kommen aus den USA, aus Großbritannien oder Frankreich, auch deutsche Einheiten vom Kommando Spezialkräfte (KSK) waren schon im Einsatz. Wenn sie eingeflogen werden, wissen das nur wenige. Wenn sie verschwinden, hinterlassen sie keine Spuren. Aber auch dieser geheimnisvolle Teil der SFOR-Truppe hatte bislang augenscheinlich keinen Erfolg.
Wundern kann das keinen. Denn zur Taktik bei den letzten Zugriffsversuchen auf Karadzic gehörte es, den Einsatz der Spezialkräfte weiträumig durch die normalen SFOR-Soldaten mit Panzern und schwerem Gefährt abzusichern. Und wenn die anrollen, dann bleibt genügend Zeit zu verschwinden. Die serbischen Meldeposten, sagen die Soldaten, sitzen überall entlang des Weges: in einem Kramerladen, in dem der Besitzer auf-fällig oft mit dem Handy telefoniert, wenn die Patrouille vorbeifährt; in einer wuchtigen Villa, in der sich die alten Kämpfer aus Kriegstagen als vorgeblicher Jagdverein eingerichtet haben. »Wenn man Karadzic nicht fangen will, dann muss man es genauso machen wie in Celebici«, sagt ein westlicher Beobachter, der anonym bleiben will.
Eine Kluft tut sich also auf: Auf der einen Seite stehen die Politiker im Westen, die schon fünf Milliarden Dollar nach Bosnien gepumpt haben und seit Jahren Karadzics baldige Verhaftung durch die SFOR ankündigen. Und auf der anderen Seite patrouilliert die inzwischen von 60000 auf 12000 Mann reduzierte Bosnien-Truppe, allein gelassen mit einer mission impossible. Dazwischen bleibt reichlich Raum für Spekulationen, Verschwörungstheorien und für große Sprüche von Radovan Karadzic, der sich bisweilen aus dem Untergrund vernehmen lässt mit der Drohung, er würde in Den Haag, so sie ihn fingen, viele westliche Politiker in arge Schwierigkeiten bringen.
Ziemlich raumfüllend sitzt ein Mann namens Munir Alibabic in der nächsten Szene dieser bitteren Posse in einem Lokal im lebhaften Zentrum der bosnischen Hauptstadt Sarajevo. Schwarze Lederjacke, goldene Uhr und ein schwer durchschaubares Boxergesicht. Seine Rolle ist die des Anklägers und verhinderten Aufklärers. Bis zum 21. Oktober vergangenen Jahres amtierte der Muslim als Chef des föderalen bosnischen Geheimdienstes und beim Haager Tribunal haben sie ihn geschätzt für seine Kooperationsbereitschaft. Dann wurde er gefeuert, von einem auf den anderen Tag, weil er angeblich streng vertrauliche Berichte in die Presse brachte. Er zieht den Brief heraus, der in knappen Worten seine Demission besiegelte, unterschrieben von Paddy Ashdown. Als höchster Repräsentant der internationalen Gemeinschaft besitzt der in Bosnien eine solche Machtfülle, dass ihn manche hier den "kleinen Tito" nennen. Die allermeisten in Sarajevo mögen ihn trotzdem oder gerade deshalb. Alibabic gehört nicht dazu.
»Ashdown hat mich in Wirklichkeit entlassen, weil meine Informationen bei ihm und bei der SFOR nicht willkommen waren«, klagt er. Bei diesen Informationen ging es um Karadzic, »wo er sich aufhält, wer ihn finanziert, wer in bewacht und wen er trifft. Wir waren niemals näher dran«, behauptet er. Und dann breitet er ein verschwörerisches Geflecht aus, das sich durch ganz Bosnien zieht bis in die Machtzentren der westlichen Hauptstädte.
Sein Stoff trägt einen spannenden Monolog: »Karadzic hält sich immer noch zumeist in der Celebici-Gegend auf oder in den Städten Foca, Cajnice und Visegrad, die in der bosnischen Serbenrepublik nahe den Grenzen zu Serbien oder Montenegro liegen. Seine Leibwache finanziert sich durch organisierte Kriminalität, durch Schmuggel, Korruption und Autodiebstahl. Jeder, der Geschäfte machen will in der Republika Srpska, muss zahlen, weil die von Karadzic gegründete Partei SDS immer noch alles bestimmt. Karadzic telefoniert nicht, weil er keine Spuren hinterlassen will. Regelmäßig trifft er die alten Gefährten aus der SDS.«
All dies deckt sich mit dem, was auch westliche Diplomaten in Sarajevo berichten. Damit jedoch erschöpft sich deren Gemeinsamkeit, denn fast jeder scheint eine eigene Agenda zu verfolgen. Mit Vorliebe klagt einer über den anderen, mehr oder weniger verdeckt schieben sie sich gegenseitig die Schuld zu für die vielen Pleiten in der Causa Karadzic. Die historisch mit den Serben verbandelten Franzosen müssen mit dem begründeten Vorwurf leben, ihr Major Hervé Gourmelon sei in Pale im Hause Karadzic ein und aus gegangen und habe 1997 die Zugriffspläne der Nato verraten. Gourmelon wurde aus Bosnien abgezogen. Zum angekündigten Prozess gegen ihn, so ist zu hören, sei es jedoch nie gekommen. Bei den Briten spielt der damalige Außenminister Douglas Hurd, der mit Milosevic geschäftlich schon in den frühen achtziger Jahren verbunden war, eine undurchsichtige Rolle. Jedenfalls sollen bei den Parlamentswahlen 1992 umgerechnet rund 150000 Euro an Spenden der Belgrader Sozialisten in die Kassen der britischen Konservativen geflossen sein.
Natürlich könnte nichts, nicht einmal der Stillstand, ohne die Amerikaner funktionieren. Der Verdacht richtet sich gegen Richard Holbrooke. 1996 hatte der Washingtoner Balkan-Diplomat mit Karadzic dessen Rückzug von allen Ämtern vereinbart. Seitdem ist er tatsächlich von der Bildfläche verschwunden. In einem Brief an das Magazin Ekstra in Banja Luka, der größten Stadt in der bosnischen Serbenrepublik, hat Karadzics Ehefrau im vergangenen Frühjahr behauptet, die USA hätten ihrem Radovan dafür die Freiheit versprochen. Die Spekulationen sprießen überall - in Den Haag ebenso wie bei den Serben und Muslimen Bosniens, die sich wenigstens darin einmal einig sind. Und sie ranken sich mit jedem Tag fester um den schwer zu erklärenden Fakt, dass Karadzic immer noch frei herumläuft. Widerlegt werden könnten sie nur durch seine Verhaftung.
Vom »fehlenden Willen zur Ergreifung Karadzics« jedoch will Paddy Ashdown nichts wissen. Seit Sommer 2002 ist er im Amt, ein britischer Gentleman, gestählt durch eine Jugend in Belfast, eine Einzelkämpfer-Ausbildung bei den Royal Marines und einer Politikkarriere bei den Liberaldemokraten. Nun sitzt er recht entspannt in seinem Büro in Sarajevo, mit Blick auf die immer noch zerschossenen Gemäuer des alten bosnischen Parlaments, und bekräftigt, dass die Jagd auf Karadzic für ihn »oberste Priorität" habe - weil es nämlich »keinen Frieden ohne Gerechtigkeit« gebe. Er hofft auf einen »Racheengel, der mit dem Hubschrauber landet und Karadzic nach Den Haag bringt«. So einfach, wie man sich das tausend Kilometer entfernt »im Lehnstuhl« vorstelle, sei das jedoch nicht. »Mehr als sieben Jahre Fehlschläge zeigen, dass dies nicht der richtige Weg ist.«
Statt des nie erfolgten entscheidenden Schlages setzt Ashdown jetzt auf eine »Kampagne, einen Prozess«. Er will Karadzic austrocknen, ihm »systematisch die politische und finanzielle Unterstützung entziehen«. Er will Druck ausüben auf die, die ihm helfen. »Statt auf eine günstige Gelegenheit zur Festnahme zu warten, müssen wir auf die günstige Gelegenheit hinarbeiten«, sagt er. Und wenn die Zeit reif ist, so glaubt er wohl, werde Karadzic seinen Verfolgern wie eine faule Frucht in die Arme fallen.
Doch der Gesuchte wird in seinem Versteck geschützt von einer Mauer des Schweigens, errichtet aus den Bausteinen Verehrung, Trotz und Angst. Der Verstoß gegen die serbische Omertà ist lebensgefährlich. Da war zum Beispiel der allzu neugierige Chefredakteur von Nezavisne Novine, der größten und kritischsten Zeitung in der bosnischen Serbenrepublik, der bei einem Autobomben-Anschlag beide Beine verlor; oder der Chef einer großen Versicherung in Pale, der erschossen wurde, nachdem er im Fernsehen über die Verquickung von Korruption, Kriminalität und Karadzic geklagt hatte; oder der Polizeichef in Sokolac, der offenbar mit dem Leben zahlte für die Äußerung, er sei es leid, immer seine Leute abzustellen, wenn Karadzic die Familie in Pale besuchen wolle.
Ashdown dürfte überdies wissen, dass er genau die Leute für die Umsetzung sei- ner sonstigen Pläne für Bosniens Zukunft braucht, auf die er nun Druck ausüben müsste. Denn Karadzics SDS ist bei den letzten Wahlen im Oktober wieder zur unumstritten stärksten Serben-Partei geworden. Sie dominiert die bosnische Serbenrepublik, wo die alten Kader alles kontrollieren bis hinunter in jedes Amt und jede Polizeistation. Und sie kann alles blockieren auf der Ebene des bosnischen Gesamtstaats, wo Mirko Sarovic, der Getreue Karadzics, im Staatspräsidium sitzt.
In Den Haag ist dennoch die Bühne bereitet für den Auftritt des wichtigsten Angeklagten neben Slobodan Milosevic. Es wartet eine neun Quadratmeter große Zelle: ein Bett, ein kleiner Schreibtisch, Kaffee- maschine, Fernseher und Videogerät. Es wartet Carla del Ponte, die Chefanklägerin, die immer nur den einen Satz sagt: »Die SFOR muss in Bosnien endlich etwas unternehmen.« Und in den Kellern lagert tausendfach das Belastungsmaterial: Zeugenaussagen auf Videos und Kassetten, Fotos, Berge von Papier. »Das Tribunal ist gerüstet«, sagt Christian Rohde von der Gerichtskanzlei.
Sie geben die Hoffnung nicht auf, dass er kommt. Doch die Zeit drängt. Das 1993 von den Vereinten Nationen geschaffene Ad-hoc-Tribunal - von den Amerikanern initiiert und mittlerweile von ihnen misstrauisch beäugt - trudelt seiner Schließung entgegen. Der Sicherheitsrat hat einen Plan abgesegnet, nach dem bis zum Jahr 2004 die Ermittlungen und bis 2008 die erstinstanzlichen Prozesse abgeschlossen sein müssten. Bis spätestens 2012 sollen die Berufungen durch sein und das Jugoslawien-Gericht soll seine Pforten schließen. Ein hochrangiger Tribunal-Bediensteter stellt sich das »perverse Szenario« vor, dass »Karadzic am Tor rütteln und sagen könnte, ich will hier rein«. Er fände keinen Richter mehr.
In Den Haag mag daran freilich niemand ernsthaft denken. Christian Chartier, der Sprecher des Gerichts, warnt Karadzic vor einer »falschen Kalkulation«. Aber auch er leidet darunter, dass man abhängig ist von der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. »Wir sehen, dass Karadzic nicht hier ist. Also ist das, was getan wurde, offensichtlich nicht genug«, sagt er. Und falls sie tatsächlich unverrichteter Dinge schließen würden, »dann müssen der Sicherheitsrat und die Staatsmänner die skandalöse Situation erklären, dass er immer noch frei ist«.