Wir saßen auf der Terrasse, auf dem Tisch standen eine Schüssel mit Bauernsalat, gebackener Feta, Zaziki, gegrillte Lammkoteletts, mit Reis gefüllte Paprika und zwei Flaschen Retsina. Meine Mutter hatte eine alte Platte mit griechischen Volksliedern aufgelegt. Theodorakis. Es war Mitte August in Thessaloniki. Und es war nicht das erste Mal, dass ich in dieser Runde von elf, zwölf Griechen über Deutschland erzählte.
Viele meiner Verwandten kennen Deutschland. Allerdings das Deutschland der Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre, die alte Bundesrepublik. Das neue Deutschland kennen sie nur aus den Nachrichten. »Die Deutschen sind unsere Freunde«, sagte ich und erntete Kopfschütteln. In Deutschland mag das Thema »Griechenlandhilfen« etwas in den Hintergrund gerückt sein, man streitet sich nicht mehr wie noch vor wenigen Wochen über die Griechen und ihre Finanzen, sondern über die Integration von Türken und Arabern.
In Griechenland aber hat die Empörung darüber, wie die deutschen Medien über den »Fall Griechenland« berichtet haben, nicht nachgelassen. Viele Menschen fühlen sich falsch verstanden – und für mich war es das erste Mal, dass ich in dieser Runde Deutschland verteidigen musste.
»Wenn sie unsere Freunde sind, warum beschimpfen sie uns als Betrüger, Schmarotzer und Taugenichtse, warum schreibt die Bild-Zeitung solche Lügen über uns?«, fragte meine 74-jährige Tante Eleonora, die 24 Jahre in den Lagerhallen von Bosch in Stuttgart Böden geschrubbt hat und die Deutschen damals für ihre Ehrlichkeit, ihren Anstand lieb gewonnen hatte.
»Nicht nur die Bild«, fügte mein Onkel Platonas hinzu, der in München studiert hat und täglich die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Internet liest, »auch die FAZ, der Stern, und hast du Aphrodite mit dem ausgestreckten Mittelfinger im Focus vergessen?« – »Woher kommt auf einmal diese himmelschreiende Arroganz?«, fragte mein junger Cousin Sokrates, der im Oktober seinen Job als Bauzeichner verloren hat und bei den Demonstrationen in Athen auf einen Bild-Reporter stieß, der einen »Bettel-Test« machte: Der Mann saß in Hemd, Sakko und Fliege frohgelaunt vor dem griechischen Parlament und trug ein Schild, auf dem stand: »Deutscher braucht dringend Hilfe«. Vor ihm stand ein Pappbecher.
Der Reporter fragte, ob ihm mein arbeitsloser Cousin ein paar Euro zustecken würde, jetzt, da sich Deutschland bereit erklärt hatte, Griechenland Geld zu leihen. Sokrates, der zu den Demonstrationen getrampt war, weil er sich kein Busticket leisten konnte, stülpte seine Hosentaschen nach außen, der Reporter lächelte wissend. Er fand das witzig. »Wenn sich Freunde in einer deiner schwärzesten Stunden über dich lustig machen, weil du keine Arbeit und kein Geld hast, dich öffentlich demütigen, möchte ich nicht wissen, was die Deutschen mit ihren Feinden machen«, sagte Sokrates. Es klang nicht böse. Es klang verletzt. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Aber wir wissen ja, was sie mit ihren Feinden machen.«
Er blickte auf das gerahmte Schwarz-Weiß-Foto unseres Großvaters, das über der Eingangstür hängt. Für Sekunden sprach niemand ein Wort.
Mein Großvater starb durch einen Schuss in den Kopf. Eine Kugel bohrte sich in seine Schulter, ungefährlich, eine andere in sein linkes Auge, tödlich. Sommer 1941. Sein Körper sackte zusammen, der Mann, den ich nie kennenlernte, fiel auf die Knie und dann zur Seite. Er hatte die Wasserleitung zu einer Militärbaracke sabotiert. Das Erschießungskommando fand vor dem Haus meiner Großeltern statt. Das ganze Dorf sollte dabei zusehen.
Mein Vater hatte damals gerade laufen gelernt. Er tappte in die sich ausbreitende Blutlache und weinte. Bevor der Offizier der Waffen-SS den Schießbefehl gab, erlaubte er meinem Großvater noch ein letztes Wort: »Es lebe das freie Griechenland!«
Die monatelange Medienkampagne gegen die Griechen hat das Verhältnis meiner Familie zu Deutschland angeknackst, in Frage gestellt. »Weißt du«, sagte meine Tante Eleonora, die 1941 sechs Jahre alt war, »es dauert Jahre, vielleicht Jahrzehnte, um aus Todfeinden wieder Freunde zu machen. Aber manchmal genügen nur ein paar Sekunden, und es ist, als hätte es diese Freundschaft nie gegeben.« Sommer 2010. Ich griff nach einem der Koteletts. Theodorakis hatte aufgehört zu spielen.
Highway to Hellas - Besuche in Talkshows
Am 5. Februar, lang vor der Hetzkampagne gegen die Griechen, habe ich im SZ-Magazin einen Text mit dem Titel »Highway to Hellas« geschrieben. Es ging um die selbst verschuldete Krise, in die Griechenland geschlittert war. Ich schrieb, dass griechische Politiker Statistiken manipuliert hatten, um in die Eurozone zu gelangen. Ich schrieb über den Schuldenberg von 300 Milliarden Euro, über Fakelakia (Korruption), Rusfeti (Vetternwirtschaft) und Stin Mavri (Schwarzarbeit), ich beschuldigte griechische Politiker, die Krise sei hausgemacht, Ergebnis von dreißig Jahren politischen Versagens.
Ich belegte die Passagen mit anschaulichen Beispielen, mal amüsant, mal desillusioniert. Und ich hatte mit Protest seitens meiner griechischen Verwandten gerechnet. Aber es kam ganz anders, mein Onkel Platonas sagte damals: »Natürlich ist das unangenehm für uns alle, unsere Verantwortung als griechische Bürger liegt darin, dass wir unfähige Politiker gewählt haben, die diese Krise verursacht haben.« Kollegen beglückwünschten mich für den »unterhaltsam« geschriebenen Artikel, ich wurde in Talkshows eingeladen, bei Beckmann und Kerner, und durfte die Beispiele aus »Highway to Hellas« vor laufender Kamera wiederholen. Zum Amüsement der Zuschauer, augenzwinkernd.
Und: Ich gefiel mir in der Rolle. Erst später begriff ich, dass »Highway to Hellas« anderen Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsendungen als Steilvorlage diente, um den Ruf der Griechen gleichsam in den folgenden Wochen zu desavouieren. Ich las fast jeden Tag gehässige Schlagzeilen und war erstaunt, mit welch ungeschminkter Begeisterung viele Politiker, Kollegen und auch Leser in ihren Online-Kommentaren auf die Griechen einprügelten: Mit despektierlichen Pauschalurteilen, mit abschätzigen Behauptungen, mit anstößigen Vergleichen: »Betrüger in der Euro-Familie« titelte der Focus, »Ihr Bettel-Griechen griecht nix von uns«, schrieb die Bild. »Ihr seid offenbar nur bereit zu arbeiten, wenn Ihr dafür Schmiergeld bekommt«, behauptete der Stern. Mit diesen Attacken aus dem deutschen Lager hatte ich nicht gerechnet. Aber kaum jemand schien sich daran zu stören, kaum jemand war die Verteidigung der Griechen ein paar Zeilen wert.
Die Renten-Lüge
Natürlich war die Krise in Griechenland nicht nur in Bild, FAZ, Stern und Focus ein Dauerthema – auch im Fernsehen prasselten viele Statistiken und Zahlen auf den Zuschauer nieder. Doch auch als seriös geltende Politmagazine griffen auf unseriöse Vergleiche zurück. In Spiegel TV vom 25. Februar hieß es: »Die griechische Staatskasse wird von ungewöhnlich generösen Rentenzahlungen ausgezehrt. Fast hundert Prozent des letzten Gehalts winken. Bei solchen Zahlen müssen deutsche Rentner – mit weniger als der Hälfte – ganz tapfer sein.« Die Kollegen von Spiegel TV hatten damals hundsmiserabel recherchiert. So wie ich auch. Denn auch in meinem Text stand damals eine Zahl, die ich aus einem OECD-Bericht übernommen hatte: Griechische Beamte erhalten 97 Prozent ihres letzten Gehalts als Rente. Was für ein Fehler!
Besser recherchiert sind nun diese Fakten: Griechische Staatsbeamte gehen keinesfalls mit 97 Prozent ihres letzten Gehaltes in Rente. Sie gehen mit 97 Prozent ihres Grundgehaltes in Rente. Aber dieses Grundgehalt beträgt nur 55 Prozent ihres Monatseinkommens. Denn die restlichen 45 Prozent bestehen aus staatlichen Zahlungen in Form von Weihnachts- oder Ostergeld. Im Klartext: Griechische Beamte bekommen nur die Hälfte ihres letzten Gehaltes als Rente, so wie fast jeder andere europäische Rentner auch. Von »Luxus-Renten«, wie Bild nicht müde wurde zu betonen, kann also keine Rede sein, im Gegenteil: Als arm gilt in Deutschland ein Rentner, wenn er weniger als die staatlich garantierte Grundsicherung in Höhe von etwa 600 Euro zum Leben hat.
Die griechische Durchschnittsrente liegt mit 617 Euro gerade mal 17 Euro über dieser Armutsgrenze. In Mittel- und Nord-Europa erhalten Rentner im Schnitt fast doppelt so viel Rente wie in Griechenland, in Deutschland beträgt die Durchschnittsrente 1176 Euro. Und: Die Griechen gehen auch nicht alle mit 55 Jahren in Rente, wie man fast überall lesen musste: Das mittlere Renteneintrittsalter in Griechenland liegt bei 61,4 Jahren, in Deutschland bei 63 Jahren, der europäische Schnitt sind knapp 60 Jahre.
Die Griechen-Schelte
Die FAZ schrieb am 13. März allen Ernstes: »Die Griechen stammen nicht von Griechen ab« und verwies darauf, dass in den vergangenen zweitausend Jahren viele andere Volksstämme in das Land eingewandert seien. »Wir sind gar keine Griechen!«, rief mein Onkel Platonas in die Runde am Tisch. Er lachte säuerlich und fragte mich: »Weißt du, welche Botschaft hinter dieser Theorie steckt?« Die Antwort lieferte er selbst: »Es ist die alte völkische Idee, es gäbe nur reinrassige Völker. Das ist eine Idee, die in den Sommer 1941 gehört, nicht in den Sommer 2010«, sagte er und kippte den letzen Schluck Retsina in seinem Glas den Rachen hinunter. »Folgte man dieser Idee, wären bis zu dreißig Prozent der Deutschen auch keine Deutschen, oder?«
Nach einer Studie der »Bundeszentrale für politische Bildung« hat jeder fünfte Deutsche ausländische Wurzeln. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung in Deutschland wird bis zum Jahr 2030 von heute sieben auf weit über zwölf Millionen steigen.
Die pauschalen Verunglimpfungen der Griechen als »Pleite«- und »Bettel«-Griechen, als faules, steuerhinterziehendes und korruptes Volk von Februar bis Juni dieses Jahres waren kein guter und auch kein schlechter Journalismus. Es war gar kein Journalismus. Es war reine Demagogie. Der ehemalige Chefredakteur der Bild am Sonntag, Michael Spreng, schrieb am 8. Mai in seinem Blog über die Berichterstattung der Bild: »In einer seit dem Kampf des Springer-Verlages gegen die Ostverträge beispiellosen Kampagne {...} versuchte Bild die Leser gegen die Griechen in einer Form aufzuwiegeln, die an Volksverhetzung grenzte.«
Bundestagspräsident Norbert Lammert sah sich aufgrund unredlicher Berichte genötigt, eine Art Entschuldigungsbrief an seinen Kollegen in Athen zu schicken, SPD-Chef Sigmar Gabriel sprach in der Zeit von einer dezidierten »Anti-Griechenland-Kampagne« und im Bundestag sagte er: »Ich schäme mich für das Bild, das hier seit Wochen über Menschen in Griechenland gezeichnet wird. Es sind doch nicht die normalen Arbeitnehmer, Rentner, Jugendlichen und Familien, die diese Krise zu verantworten haben. «
Schwarzarbeit, Steuerhinterziehung und Korruption in Deutschland
Schwarzarbeit, Steuerhinterziehung und Korruption in Deutschland
Mein Onkel Platonas ist Grundschullehrer im 14. Dienstjahr, sein monatliches Nettoeinkommen beträgt 1370 Euro, das sind knapp 40 Prozent weniger als das Nettoeinkommen deutscher Lehrer nach 14 Dienstjahren. Er gehört zur griechischen Mittelschicht, wohnt mit seiner Frau und den zwei Söhnen im Haus seiner Eltern, fährt einen sechs Jahre alten Toyota und kauft einmal die Woche bei Lidl ein. Der letzte Familienurlaub liegt drei Jahre zurück. Es ging mit dem Toyota auf den Peloponnes. Camping. »Dass uns die Deutschen vorgeworfen haben, ein Volk von faulen, in der Sonne liegenden Taugenichtsen zu sein, hat mich wütend gemacht«, sagte Platonas und biss in ein Stück Wassermelone, die meine Mutter gerade als Nachtisch aufgeschnitten hatte. »Gibt es in Deutschland denn keine Schwarzarbeit, Steuerhinterziehung und Korruption?«
Vorwurf Schwarzarbeit
Laut Schätzungen des Bundesfinanzministeriums liegt der Ertrag der Schattenwirtschaft in Deutschland bei 350 Milliarden Euro (Griechenland knapp 45 Milliarden). Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln geht davon aus, dass mindestens jeder fünfte Deutsche schwarzarbeitet.
Vorwurf Steuerhinterziehung
Ich erinnere mich, es ist gar nicht so lange her, da haben sich Tausende Deutsche selbst beim Finanzamt angezeigt, weil sie Angst hatten, ihr Name würde auf einer CD aus der Schweiz stehen. Seitdem kaufen einzelne Bundesländer eifrig angebotene CDs aus der Schweiz an und die Quoten der Selbstanzeigen steigen und steigen. Bundesweit.
Vorwurf Korruption
Es ist ein deutsches Unternehmen, nämlich Siemens, das in den größten Korruptionsskandal in Griechenland verwickelt ist. Der ehemalige Griechenland-Chef von Siemens wird von der Staatsanwaltschaft in Athen per Haftbefehl gesucht. Der Mann hält sich in Deutschland auf, seine Villa steht am Starnberger See, seine deutsche Staatsbürgerschaft schützt ihn vor Auslieferung.
Im März hat sich das deutsche Vorzeigeunternehmen Daimler in den USA vor Gericht vollständig schuldig bekannt und 185 Millionen Dollar Strafe wegen Bestechung in 22 Ländern gezahlt. Es gab in der jüngeren Vergangenheit aber noch viele andere spektakuläre Korruptionsfälle in Deutschland, zum Beispiel bei Volkswagen, wo Betriebsräte Fernreisen und sogar Liebesdienste geschenkt bekamen, um neuen Arbeitsverträgen im Konzern ihre Zustimmung zu geben. Es gab die Amigo-Affäre in Bayern, den Berliner Spendenskandal, die Leuna-Affäre nach der Wiedervereinigung, die Neue- Heimat-Affäre, die Flick-Affäre und bis heute stellt der ehemalige Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, der illegale Parteispenden angenommen hat, sein Ehrenwort über das Gesetz des Landes, das er 16 Jahre lang regierte.
Das griechische Sparpaket
Wann immer der im Oktober 2009 neu gewählte griechische Ministerpräsident Georgios Papandreou in den vergangenen Monaten bei seinen europäischen Freunden in Brüssel, Paris oder Berlin auftauchte, um für politische Unterstützung zu werben, bekam er als Antwort: Du musst noch mehr sparen. Papandreou tat wie geheißen. Seit Dezember 2009 hat seine Regierung drei Sparpakete durchs Parlament gejagt. Zusammengefasst sind diese Sparpakete das rigoroseste, härteste und vielleicht auch unmoralischste Bündel von Gesetzen, das je in einem Land der Europäischen Union, ja weltweit, verabschiedet wurde.
Das vielerorts bejammerte deutsche Sparpaket ist dagegen ein seelenreinigendes Wohlfühlprogramm. Wenn Deutschland ein ähnliches Sparprogramm wie Griechenland umsetzen würde, müsste es nicht nur die geplanten achtzig, sondern rund 165 Milliarden Euro an Staatsausgaben einsparen und gleichzeitig 96 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen erzielen.
Was bedeuten diese Sparpakete also für den »kleinen Mann auf der Straße«
in Griechenland? Zwanzig Prozent der Griechen leben laut OECD heute schon unter der Armutsgrenze, das durchschnittliche Gehalt in Griechenland liegt bei 700 Euro. Wenn man von 700 Euro 20 bis 30 Prozent abzieht (beschlossene Lohnkürzungen), dazu die erhöhte Mehrwertsteuer (von 19 auf 23 Prozent innerhalb von zwei Monaten), die erhöhte Benzinsteuer (Liter Super, im Juli in Thessaloniki: 1,69 Euro), die erhöhten Steuern auf Tabak und Getränke (Café Frappé im Januar in Athen 2,80 Euro, im Juni 3,60 Euro) abzieht, wenn man bedenkt, dass Griechenland mit 5,5 Prozent die höchste Inflationsrate in Europa hat und die Lebenshaltungskosten schon jetzt höher als in Deutschland sind, bleibt nicht mehr viel übrig, um eine Familie anständig zu ernähren. Anders aus-
gedrückt: Ein ganzes Land wird per Verordnung auf Hartz IV gesetzt.
Und dennoch: Deutschen Politikern fielen weitere Sparmaßnahmen ein: Am 4. März schrieb die Bild: »Verkauft doch eure Inseln, Ihr Pleite-Griechen!« und zitierte damit – mit Verlaub – zwei dämliche Aussagen von politischen Hinterbänklern, die auch mal ihren Namen in der Zeitung lesen wollten. Vielen Deutschen gefiel dieser Lösungsansatz. Kaum ein Spruch zur Krise fiel danach ohne einen Verweis auf die vielen schönen Inseln. Gönnerhaftes Lächeln inklusive. Im Text schrieben die Bild-Kollegen: »Gebt uns Korfu, dann gibt’s Kohle.«
Zur Erinnerung: Am 14. September 1943 bombardierte die deutsche Luftwaffe Kerkyra, (so lautet der griechische Name von Korfu) zerstörte Kirchen, Wohnhäuser des jüdischen Viertels Evraiki, das Insel-Parlament, das Theater, die Bibliothek und viele andere denkmalgeschützte Gebäude. Wie viele Menschen damals beim Bombenangriff starben, ist nicht klar.
Aber verbrieft ist: Am 11. und 15. Juni 1944 wurden 1700 der 1900 griechischen Juden Korfus nach Auschwitz deportiert, nur 122 von ihnen überlebten das Vernichtungslager. »Gebt uns Korfu, dann gibt’s Kohle«? Auch wenn es nur als Witz gemeint war, wie mir zwei Kollegen der Bild hastig am Telefon versichern wollten – es war ein makabrer Scherz. »Immer diese alte Nazi-Moralkeule«, antwortete einer der beiden, »das hängt mir zum Hals raus! Vergiss das doch mal, hast du denn überhaupt keinen Humor?«, fragte er mich. »Nein«, antwortete ich, »in diesem Fall nicht. Aber du kannst ja den Töchtern und Söhnen der 260 000 gefallenen oder ermordeten Griechen auf Kerkyra, Kreta und im übrigen Griechenland gern einen humorvollen offenen Brief schreiben, die Geschichte abhaken und sie auffordern, ihre toten Verwandten endlich mal zu vergessen.« Die Leitung knackte. Der Kollege hatte aufgelegt.
Westerwelles Reise nach Athen
Schade, dabei hätte ich ihn gern noch gefragt, warum Bild im Februar dieses Jahres, als die Schuldenkrise Griechenlands ihren ersten Höhepunkt erreichte, als die ganze Welt bereits ahnte, dass Griechenland vor dem finanziellen Ruin steht, nicht über die Athen-Reise von Bundesaußenminister Guido Westerwelle berichtet hatte. Vielleicht lag es am erstaunlichen Grund des Besuchs: Westerwelle verlangte von der griechischen Regierung den Kauf von mehreren Dutzend Düsenjets des Typs Eurofighter. Ein Milliarden-Deal.
Ist das nicht eine seltsame Politik? Auf der einen Seite verlangt Deutschland in Person von Bundeskanzlerin Angela Merkel einen eisenharten Sparkurs von Griechenland und auf der anderen Seite drängt ihr Außenminister, Deutschlands Vizekanzler, das Land zum Kauf veralterter Düsenjets.
Hintergrund: Griechenland gibt 4,7 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Waffen aus. Das ist eindeutig zu viel. Viel zu viel, sagen auch die Griechen. Nicht einmal die USA geben im Vergleich so viel Geld für ihr Militär aus. Aber: Wer profitiert eigentlich davon? Neulich veröffentlichte das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri einen Bericht, nach dem die deutschen Rüstungsexporte ins europäische Ausland in den Jahren 2004 bis 2008 gegenüber dem Zeitraum von 1999 bis 2003 um 123 Prozent zugenommen haben. Hauptabnehmer: Griechenland und die Türkei, die zusammen rund ein Drittel der deutschen Panzer, Fregatten und U-Boote kauften.
Die NATO-Partner Griechenland und Türkei leben im Dauerclinch, rüsten sich gegenseitig hoch, eine Art Kalter Krieg auf Balkanniveau. Deutschlands offizielle Rolle in diesem Streit ist die des Schlichters. Hinter den Kulissen sieht es anders aus. »Deutschland ist die Brennstoffzelle für den griechisch-türkischen Rüstungswettlauf«, sagt der Berliner Rüstungsexperte Otfried Nassauer.
»Die Party auf Pump ist vorbei«
So lautete eine der Schlagzeilen, wenn es in den vergangenen Monaten um den Schuldenberg des griechischen Staates ging. »Die Griechen haben über ihre Verhältnisse gelebt«, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel im April im Bundestag. »Das muss ein Ende haben« forderten die Kommentatoren der Meinungsblätter. Aber die Griechen zuckten mit den Schultern: »Welche Party?«, fragte mich meine Tante Eleonora, kurz bevor ich sie nach Hause bringen wollte. Eleonora hat zwar nie geraucht, ist aber seit Jahren lungenkrank, muss täglich zur ambulanten Behandlung ins Städtische Krankenhaus von Thessaloniki, wo sie an eine Maschine angeschlossen wird, die ihr die Zufuhr von Sauerstoff erleichtert. Sie ist nicht mehr besonders gut zu Fuß.
Tante Eleonoras Rente liegt bei knapp 600 Euro (die Rente, die sie nach 24 Jahren als Putzfrau bei Bosch aus Deutschland bezieht, einberechnet). Große Partys ließen und lassen sich damit nicht feiern.
Mein Onkel Platonas erhält in seinem 15. Dienstjahr als Lehrer aufgrund der beschlossenen Lohnkürzungen seit dem 1. Juli statt 1370 Euro nur noch 1107 Euro. Er hält jetzt die Luft an, um seinen Gürtel enger zu schnallen. Wie lange das gut geht? Er lachte und setzte, als er schon auf der Straße stand, zu einem Sirtaki an. »Wir haben schon Schlimmeres erlebt, auch das werden wir meistern!«, rief er mir zu und drückte seinen Sohn Sokrates fest an sich.
Mein Cousin bekommt seit seiner Kündigung im Oktober rund 290 Euro Arbeitslosengeld. Ein neuer Job ist bei der miesen Wirtschaftslage nicht in Sicht. Die Arbeitslosengeldzahlungen enden in Griechenland nach exakt einem Jahr. Danach zahlt der griechische Staat keinen Cent mehr, Sokrates ist dann auf seine Familie angewiesen. »Ich werde schon etwas finden«, sagte er mir zum Abschied. »Mach dir keine Sorgen!«
Also, von welcher Party war noch mal die Rede? Ach so, ja, da war noch was: das deutsche Sparpaket. Anfang Juni stand Angela Merkel wieder im Bundestag, diesmal ging es nicht um das griechische 300-Milliarden-Defizit, es ging um Deutschlands Schuldenberg von mehr als 1700 Milliarden Euro. Und siehe da, Merkel verwendete wieder diesen Satz, nur änderte sie diesmal das Subjekt, statt »die Griechen«, sagte sie: »Wir alle haben über unsere Verhältnisse gelebt.«
In Blogs, auf Twitter und Facebook regte sich schnell Protest. Gewerkschaften kündigten Widerstand an. Viele Deutsche schimpften auf ihre Regierung und fragten sich empört: »Wir sollen über unsere Verhältnisse gelebt haben?!« Die Antwort des offensichtlich hellenischen Twitterers »Kostakis79« kam postwendend: »Liebe Freunde, willkommen in Griechenland!«