Anfang Mai fand in Moskau ein unwürdiges Spektakel statt. Es hieß Siegesfeier und die politische Crème de la Crème Europas und der Welt war zu Gast: US-Präsident George W. Bush, Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac und natürlich Bundeskanzler Gerhard Schröder, der sein Verhältnis zu Russlands Präsident Wladimir Putin so beschreibt: »Es ist eine Beziehung über das Politische hinaus.« Die Feierlichkeiten zum Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs waren der vorläufige Höhepunkt des Versuchs der russischen Regierung, den Stalinismus mit allen Mitteln zu rehabilitieren. Schon Monate vor dem 9. Mai wurde der Öffentlichkeit vermittelt, Stalin habe Russland den Sieg im Zweiten Weltkrieg gesichert, dieser Sieg sei nur dank seiner Weisheit möglich gewesen. Das Baltikum sei nicht okkupiert worden und der Molotow-Ribbentrop-Pakt zwischen der Sowjetunion und Hitler-Deutschland kein fataler Fehler gewesen, sondern ein vorzüglicher Schachzug. Eine Geschichtsklitterung, von der man gehofft hatte, sie sei gemeinsam mit der Sowjetunion untergegangen. Die Gehirnwäsche begann in der zweiten Jahreshälfte 2004 und sie dauert bis heute an. So schlug Boris Gryslow, Vorsitzender des russischen Parlaments und enger Vertrauter Putins, kürzlich vor, Stalins Geburtstag »richtig« zu feiern: unter Anerkennung der positiven historischen Rolle des Sowjetführers. Unablässig verkünden die von der Regierung kontrollierten nationalen Fernsehkanäle den Kerngedanken des Stalinismus: Der Einzelne ist nur ein »Schräubchen«, es zählt allein der historische Prozess. Doch tatsächlich geht es Putins Stab bei dieser Propaganda gar nicht um Stalin, sondern um die Rechtfertigung der Methoden des russischen Präsidenten selbst. Systematisch wird die Bevölkerung so auf einen alten Führertypus in neuem Gewand vorbereitet: einen vermeintlichen Demokraten, der für sein Volk kämpft, indem er einen Teil des Volkes ausrottet. Auch in Tschetschenien – so die Schlussfolgerung – brauchen die Russen »allein den Sieg« und sollen deshalb »nicht auf den Preis schauen«, wie es in einem berühmten Lied über den Großen Vaterländischen Krieg heißt. Nur dass der Sieg diesmal im Kampf gegen den »internationalen Terrorismus« errungen werden soll. Anfang Mai gab es noch einen weiteren Jahrestag zu feiern: den der Amtseinführung von Wladimir Wladimirowitsch Putin, dem zweiten Präsidenten Russlands und Nachfolger Boris Jelzins. Der Inthronisierung Putins im Kreml im Jahr 2000 war seine Wiederwahl im März 2004 gefolgt. Fünf Jahre ist er also nun im Amt, Zeit genug, um einmal die Frage zu stellen, was er bisher für unser Land geleistet hat. Die Antwort vorweg, auf einen Punkt gebracht: nichts Gutes. Unter Jelzin war Russland auf halbem Wege zu einer Demokratie, heute ist unsere Staatsordnung durch und durch autoritär-oligarchisch. Putin hat Jelzins Wirtschaftsfreunde durch eigene ersetzt und seinen Getreuen aus Geheimdienstzeiten nicht nur die lukrativsten Stücke aus dem Besitz der vormaligen Jelzin-Protegés zugeschanzt, sondern ihnen auch zu höchsten Staatsämtern verholfen. Mit dem Ergebnis, dass die Grenze zwischen Großunternehmertum und staatlichem Wirtschaftssystem, zwischen Business und Staatsdienst zusehends verschwimmt. Dabei entstand ein korruptes System, das alle Verwaltungsinstanzen, sämtliche Strukturen zum Schutz der Rechtsordnung und das gesamte Justizsystem befallen hat. Begannen die Gerichte unter Jelzin, sich als Institution zum Schutz der Rechte der Bürger und der Gesellschaft vor dem Staat zu entwickeln, sind sie heute wieder eine Abteilung des Kreml. Genauso wie die Generalstaatsanwaltschaft. Und auch die Medien, die vierte Säule in einer funktionierenden Demokratie, sind mundtot. All dies wird überschattet von dem Krieg in Tschetschenien, der die Gesellschaft Russlands insgesamt verändert. Er ist längst nicht mehr nur ein lokaler Konflikt, sondern ein Instrument zur Militarisierung des Landes. Der Grund dafür, dass dieser zweite Tschetschenien-Krieg, offiziell »Antiterror-Operation« genannt, nun seit mehr als fünf Jahren anhält, ist einfach: Putin und Tschetschenien sind untrennbar miteinander verbunden. Der Präsident verdankt sein Amt vor allem der Tatsache, dass im September 1999, weniger als ein halbes Jahr vor seiner Wahl, im Nordkaukasus – Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien – ein Krieg entfacht wurde. Denn nur ein Krieg konnte aus dem vollkommen unbekannten Funktionär Wladimir Putin, der kein Programm und keine Vision hatte, einen ernst zu nehmenden Präsidentschaftskandidaten machen. Auf diese Logik setzte nicht nur sein PR-Manager Gleb Pawlowski, sondern auch Putin selbst. So wie der Krieg Putin zum Präsidenten machte, machte Präsident Putin den Krieg.
Nach seiner Wahl hätte sich der Präsident an den Verhandlungstisch setzen und einen Friedensvertrag unterzeichnen können. Doch Putin führte den Krieg fort, betreibt ihn bis heute, hat die »Antiterror-Operation« zu einem endlosen Grauen werden lassen, bei dem die wichtigste Methode der Militärs darin besteht, wahllos Zivilisten zu verhaften und ohne Gerichtsprozess umzubringen. Der Krieg tobt seit fünf Jahren, Putin herrscht seit fünf Jahren. Die Zahl der Opfer in Tschetschenien lässt sich nur noch in zigtausenden benennen, genau hat sie niemand ermittelt. Zehntausende Soldaten und Offiziere verloren ihr Leben, ebenso hoch ist die Zahl der Verwundeten. Zehntausende Zivilisten in Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien wurden getötet oder verschwanden spurlos. Ein eingefrorener Krieg, in dem die Vernichtung eines Teils der Bevölkerung inzwischen zu einer alltäglichen, barbarischen Routine geworden ist. Während der ersten Kriegsjahre hegten viele – darunter auch ich – noch Illusionen: Vielleicht weiß der Präsident ja gar nicht, was dort geschieht? Vielleicht ist die Armee außer Kontrolle geraten und handelt auf eigene Faust, wenn sie die Tschetschenen als Menschen zweiter Klasse demütigt, willkürlich foltert, ausraubt, vergewaltigt, quält? Derartige Rechtfertigungsversuche haben sich längst als haltlos erwiesen: Alles, was die russische Armee in Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan angerichtet hat und bis heute anrichtet, steht unter Putins Kontrolle. Die Verfassung der Russischen Föderation macht ihn als Oberbefehlshaber der Streitkräfte zum Hauptakteur in dieser russisch-tschetschenischen Hölle. Es ist Putins Politik, sein ganz persönlicher, stecken gebliebener Blitzkrieg mit deutlich rassistischem Einschlag und der verheerenden Strategie einer »Tschetschenisierung« des Konflikts: Die Regierung hat in Grosny ein Moskautreues Marionettenregime installiert und hofiert die skrupellosesten, finstersten Gestalten Tschetscheniens. Wenn die russischen Geheimdienste, die dem Staat unterstehen und ihre Finanzen aus dem Staatshaushalt beziehen, nach wie vor Menschenraub betreiben, ihre Opfer ohne Ermittlungsverfahren und Gerichtsverhandlung foltern und umbringen, dann handelt es sich schlicht um einen vom Kreml dirigierten Staatsterrorismus. Diese Politik führt auch dazu, dass der tschetschenische Widerstand immer radikaler wird; dass eine ständig wachsende Zahl von Gewaltbereiten Rache üben will für den Tod oder das spurlose Verschwinden ihrer Angehörigen; dass in Russland fürchterliche Terrorakte geschehen. Während seiner gesamten Herrschaft, besonders aber in den letzten Jahren, nach den Geiselnahmen im Musical-Theater »Nord-Ost« 2002 und in der Schule von Beslan 2004, hat Putin alle Vorschläge für eine Beilegung der Tschetschenien-Krise vom Tisch gewischt. Putin, der immer mehr messianische Züge eines unfehlbaren Zaren an den Tag legt, akzeptiert nur seinen eigenen, längst diskreditierten Plan. Und der Westen lässt Putin nicht nur gewähren, sondern stützt ihn: »Für uns«, sagt Bundeskanzler Gerhard Schröder, »war, ist und bleibt die Solidarität mit Russland und seinem Präsidenten beim Kampf gegen den Terrorismus selbstverständlich.« Am 8. März 2005 versperrte Putin sämtliche Wege, die zu einem baldigen Frieden in Tschetschenien hätten führen können. In der Gebirgssiedlung Tolstoi-Jurt liquidierten eigens aus Moskau eingeflogene Spezialeinheiten des Inlandsgeheimdienstes FSB Aslan Maschadow, den Kopf des tschetschenischen Widerstands und 1997 rechtmäßig gewählten Präsidenten des Landes. Auf Anordnung Wladimir Putins wurden sämtliche Teilnehmer der Operation mit staatlichen Auszeichnungen bedacht. Die Tötung des Rebellenführers erklärte der erste Mann Russlands öffentlich zu einem großen Sieg der Streitkräfte und erteilte Weisung, Maschadows Leichnam nicht an seine Familie auszuhändigen. Warum nun ließ Putin Maschadow gerade zu diesem Zeitpunkt umbringen? Es gibt vor allem zwei Gründe, der erste entspringt einem politischen Kalkül, der zweite hat mit der Person Putins zu tun. Lange Jahre war Aslan Maschadow der virtuelle Führer des tschetschenischen Widerstands und genau in dieser Eigenschaft passte er Putin ins Konzept. Der russische Präsident wurde nicht müde, der Öffentlichkeit einzureden, Maschadow sei ein Nichts, vollkommen unbedeutend und ohne Anhängerschaft. Tatsächlich saß Maschadow, symbolisch ausgedrückt, irgendwo »in den Bergen«, und wer ihm unterstand, wen er befehligte, blieb im Dunkeln. Seine Befehle erteilte er per Internet, Journalisten und erst recht Politiker hatten keinerlei Zugang zu ihm.
Doch seit dem Herbst des vergangenen Jahres begann Maschadow sich für eine friedliche Lösung des Konfliktes zu engagieren, was auch im Westen wahrgenommen wurde. Im Januar dieses Jahres rief er einen einseitigen Waffenstillstand aus – den einzigen in mehr als fünf Kriegsjahren. Ende Februar fand in London ein Treffen zwischen den russischen »Soldatenmüttern« und Bevollmächtigten Aslan Maschadows statt, an der auch Abgeordnete des Europaparlamentes beteiligt waren. Am Ende der Zusammenkunft wurde das so genannte Londoner Memorandum unterzeichnet, das eine militärische Lösung des Konfliktes ausschließt und weitere Friedensbemühungen festschreibt. Etwas Derartiges hatte es in der gesamten Kriegszeit nicht gegeben. Und nach dem Willen Putins sollte es das auch nicht wieder geben. Der ehemalige Funktionär kann es nicht ertragen, wenn ihm jemand die Initiative entreißt und dafür auch noch Beifall bekommt. Putin versteht dies als Versuch, ihn zu düpieren, in den Augen der führenden Staatsmänner herabzuwürdigen. Eben dieser Charakterzug Putins wurde auch Michail Chodorkowski und dem Ölkonzern JUKOS zum Verhängnis. Chodorkowski hatte Putin herausgefordert, wenig später fand er sich im Gefängnis wieder, sein Unternehmen wurde zerschlagen, aufgekauft von denjenigen, die Putins Feldzug gegen Chodorkowski unterstützt hatten, um sich einen großen Teil des Unternehmens einzuverleiben. Chodorkowski zahlt damit die Zeche, stellvertretend für die gesamte so genannte Jelzin’sche Oligarchie, die sich unter Putins Vorgänger außerordentlich sicher gewähnt und darauf gesetzt hatte, ihre Positionen unter seinem Nachfolger festigen zu können. Doch je länger Putins Amtszeit währte, umso weniger mochte er nur als Nachfolger gelten. Er wollte selbst Zar sein, sogar ein noch größerer als »Zar« Boris Jelzin. Und begann sich derjenigen zu entledigen, die wussten, wie wenig die Putin-Herrschaft ihrer Substanz nach die eines guten Zaren ist. Und welche Rolle spielt das russische Volk? Wie reagiert die Öffentlichkeit? Die Zivilgesellschaft? Die Intellektuellen? Vor dem Hintergrund der Revolutionen in den ehemaligen Sowjetrepubliken wie der Ukraine, Georgien und Kirgisien? Nicht das blutige Gemetzel in Tschetschenien, nicht das Grauen der Terroranschläge wie dem von Beslan haben die Russen zumindest ansatzweise aus ihrer passiven Pro-Putin-Haltung herausgerissen. Sondern das unübersehbare Versagen der Putin’schen Außenpolitik gegenüber dem so genannten nahen Ausland, den GUS-Staaten, besonders der orangefarbenen Revolution in der Ukraine. Der politisch engagierte Teil der russischen Gesellschaft ist hin und her gerissen, auf wessen Seite er eigentlich stehen will: der des Volkes oder jener der Macht. Und die Gegner Putins bleiben in ihre Grabenkämpfe verstrickt und können sich nicht einig werden, auf welcher Basis eine vereinigte demokratische Partei entstehen soll. Ein fast sektiererisches Gezerre, das bereits mehrere Monate währt. Würde morgen in Russland eine Revolution ähnlich der in Kirgisien oder der Ukraine losbrechen, geschähe dies mit Sicherheit nicht in den Hauptstädten, sondern in der Provinz. An der Spitze der Opposition gegen das Putin-Regime stünden dann aber keine Demokraten, sondern ultrarechte russische Nationalisten. Dieses Versagen der demokratischen Kräfte ist umso fataler, als der Kreml gerade versucht, eine Verfassungsänderung durchzusetzen, die dem Präsidenten auch nach dem Ende der jetzigen Amtszeit 2008 die Herrschaft sichert; die Fortsetzung der Ära Putins; des ehemaligen Direktors des Inlandsgeheimdienstes; des Kämpfers gegen Oligarchentum und »internationalen Terrorismus«; des Hochgebirgsskiläufers und Judokas; des Mannes, von dem Bundeskanzler Schröder sagt, er sei ein »lupenreiner Demokrat«.
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