Meine Mutter arbeitet bei einer Import-Export-Firma in Belgrad. Sie interessiert sich sehr für alternative Medizin – New Age, Spiritualität und so weiter. Vor ungefähr zwei, drei Jahren stellten ihr Freunde einen hochinteressanten Mann vor. Es hieß, er sei gerade aus Amerika zurückgekommen, wo er als Psychiater gearbeitet habe, und er kenne sich mit New-Age-Behandlungen aus.
Bald darauf rief sie mich in London an, wo ich lebe. Sie sagte, er sehe ziemlich exzentrisch aus mit seinen langen Haaren und dem langen Bart. Sie schwärmte von diesem Mann, einem gewissen Dragan Dabic, genannt Dr. David, und sagte, ich müsse ihn unbedingt auch mal kennenlernen. Als ich das nächste Mal in Belgrad war, vor zwei Jahren, kam ich in das Büro meiner Mutter – und da saß er prompt. Ich fand, er sah aus wie ein Alt-Hippie. Ich habe nicht viel übrig für alternative Medizin, aber wir plauderten ein bisschen über Energie-Behandlung oder so was. Er beeindruckte mich nicht besonders, aber ich fand ihn auch nicht unangenehm.
Merkwürdig erscheint mir im Rückblick nur, dass es an ihm so gar nichts gab, woran man sich festhalten konnte. Selbst wenn man ihm direkt in die Augen sah – da entstand keine wirkliche Nähe. Und abgesehen von seiner exzentrischen Erscheinung gab es nichts Bemerkenswertes an diesem Mann.
Meine Mutter jedoch besuchte ihn regelmäßig. Er veranstaltete »bio-energetische« Seminare, da ging es um Heilung durch Handauflegen. Solche Wunderheiler gibt es ja überall. Anscheinend war er aber richtig gut. Meine Mutter schwärmte oft, er sei »so ein tiefgründiger Mensch«. Sie schwor, er habe einem autistischen Kind geholfen, in Kontakt zu anderen Kindern zu treten.
Und mein Vater sagte, wenn der Mann einem eine Massage gebe, könne man fühlen, was für eine Hitze er mit seinen Händen erzeugt. So viel zur Kraft der Suggestion.
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Seit klar ist, wer der Mann wirklich ist, finde ich, dass auch diese ganze alternative Medizin eine dunkle Seite hat. Man braucht keinerlei Diplom oder Zeugnis, um sie zu praktizieren. Fast immer wird bar bezahlt, man muss also nicht einmal ein Bankkonto haben.
Niemand weiß, wie viel man genau verdient. Kurzum – der ideale Job für einen Menschen auf der Flucht. Letzten Montag fragte mich mein Chef im Büro, ob ich schon die Karadzic-Bilder gesehen hätte. Ich schaute kurz im Internet nach – und konnte es erst nicht glauben. Aber da stand tatsächlich, dass der Flüchtige jahrelang unter dem Namen Dr. David gelebt habe. Ich rief meinen Vater an und der sagte nur: Er ist es.
Ich rief meine Frau in ihrem Büro an, erzählte ihr alles – und erfuhr erst da: Dr. David hat auch sie einmal behandelt. Und unsere zwei kleinen Töchter auch. Davon hatte ich gar nichts gewusst, das Ganze war im März passiert, im Haus meiner Familie in Belgrad, als ich nicht dabei war. Dr. David war sogar zu Familienfesten eingeladen worden! Er war tatsächlich so was wie der Familiendoktor. Es ist, als wäre Josef Mengele unser Hausarzt gewesen.
Man fühlt sich sehr merkwürdig in so einer Situation. Fast als hätte man selbst ein finsteres Geheimnis, das plötzlich gelüftet wird. Ich schaffe es kaum, diese zwei Personen unter einen Hut zu bringen: hier der Kriegsverbrecher, da der Hippie-Guru. Dass sie ihn jetzt entdeckt haben, lag, glaube ich, auch an seinem Charakter, es hat ihn zu sehr zurück ins Rampenlicht gedrängt.
Er ist ja sogar im Fernsehen aufgetreten! Er hielt Vorträge, zu denen die Leute strömten, vor ein paar Monaten erst hatte er 400 Zuhörer in Belgrad! Er veröffentlichte Artikel in Gesundheitsmagazinen und gab Kurse für alternative Medizin. Er hatte sich im Grunde schon wieder zu einer Art Anführer entwickelt.
Meine Mutter sagt, er habe in der letzten Zeit ziemlich nervös gewirkt. Vorletzte Woche wurde ja die neue Regierung gebildet, der alte Geheimdienstchef musste gehen, also wusste Karadzic wohl, dass seine Zeit abgelaufen ist.
Die ganze Welt hat nach diesem Kerl gesucht, auf seinen Kopf waren fünf Millionen Dollar Belohnung ausgesetzt. Wenn ich doch nur das wahre Gesicht unseres Hippiearztes erkannt hätte – ich hätte ihm ja was in den Kaffee kippen können.
Fotos: Sarah Lee/Guardian News & Media Ltd.2008; AP
Protokoll: Sam Wollaston
Aus dem Englischen von Max Fellmann