Einmal hat sie mich angesehen, es war ein seltsamer Augenblick. Sie schaute zufällig in meine Richtung, als ich sie gerade fixierte. Es war, als hätte sie mich ertappt. Oder bildete ich mir das nur ein? Schaute sie knapp an mir vorbei? Mir wurde klar, was für ein absurdes Verhältnis das ist: Seit Jahren folge ich dieser Frau wie ein Stalker, studiere ihre Mimik und ihre Gesten, grabe in ihrer Vergangenheit und lege Dossiers über sie an – und finde doch keinen Zugang zu ihr. Noch nie haben wir ein Wort miteinander gewechselt. Noch nie habe ich ihr die Hand geschüttelt. Ich bin auch nicht scharf darauf.
»Bist du bei Beate?«, fragen Freunde, wenn sie wissen wollen, ob ich am nächsten Tag wieder im NSU-Prozess sitze. Oder sie erkundigen sich spöttisch: »Wie geht’s Beate?« Die Steigerungsform lautet: »Wie geht’s deiner Beate?« Zum Mitschreiben: Es ist nicht meine Beate, und die Frau, angeklagt wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Mittäterschaft an zehn Morden, zwei Sprengstoffanschlägen und 15 Raubüberfällen, heißt Zschäpe, geborene Apel.
Bei aller Distanz muss ich mir eingestehen, dass diese Frau mein Leben verändert hat – sie ist mir auf gewisse Weise näher, als mir lieb ist: Wenn sie in den Gerichtssaal kommt, warte ich dort schon. Wenn sie sich mal wieder hinsetzt und dem Gericht einen Brief schreibt, interessiert mich das. Und wenn ein Arzt sagt, es gehe ihr nicht gut, frage ich mich, wie schlimm es ist.
Es hilft wenig, wenn ich beteuere, dass ich mich mehr für den NSU als Komplex interessiere, für die Hintergründe des Terrors, für die Strukturen der Neonazi-Szene, für das Versagen von Polizei und Verfassungsschutz, als für die Wehwehchen oder sogar für die Frisuren dieser Frau. In sehr vielen Artikeln, die ich über den NSU geschrieben habe, spielt Beate Zschäpe keine oder nur eine kleine Rolle. Trotzdem: Sie hat sich breitgemacht in meinem Leben. Und im Leben vieler Leser. Ich soll ihnen erklären, wie die Frau tickt. Wenn ich das wüsste.
Wie alle anderen hatte ich gehofft, man käme der Wahrheit näher, wenn Zschäpe endlich aussagt. Dann, nach zweieinhalb Jahren des Schweigens, ließ sie ihren Verteidiger eine jämmerliche Erklärung vortragen. Darin behauptet Zschäpe, sie habe die Mordtaten zutiefst abgelehnt, es aber nicht geschafft, sich von ihren beiden Killer-Freunden zu trennen. Ich versuche, in ihrem Gesicht zu lesen, als der Anwalt ihre larmoyanten Erinnerungen vorliest: Nach dem ersten Mord sei die Stimmung eisig gewesen. Weihnachten sei ausgefallen, »es wurden keine Geschenke ausgetauscht, und Silvester verbrachte ich alleine in der Wohnung.« Auch ihr Geburtstag sei nicht gefeiert worden. Ich kann das Gesicht nicht deuten. Triumphiert sie? Leidet sie?
»Arme Beate«, höre ich meine innere Stimme sarkastisch sagen. Dafür könnte ich mich ohrfeigen. Erstens duze ich Zschäpe jetzt also schon selbst. Zweitens scheint es notwendig zu sein, dass ich einen Befangenheitsantrag gegen mich selbst stelle. Als Berichterstatter muss ich doch fair und sachlich bleiben.
Muss ich? Und wie soll das gehen? Vielleicht so: Ständig erkläre ich Freunden und Verwandten, dass auch diese Frau Rechte hat und dass das Urteil erst noch gesprochen werden muss. Das mache ich wirklich. Und die Freunde und Verwandten schütteln den Kopf. »Dass man sich mit der so lange aufhält!« – »Was das kostet!« Sie treibe nur ihre Spielchen mit den Anwälten, mit dem Staat, mit uns allen. Mag sein. Ich halte dennoch dagegen. Dem Terror kann man nur trotzen, indem man den Rechtsstaat in Ruhe arbeiten lässt. Regeln statt Rache.
In der Haut der Richter möchte ich nicht stecken. Mit wem können sie offen reden, ohne dass es zum Skandal wird? Als Journalist hat man es etwas einfacher. Ich bringe den Prozess nicht gleich zum Platzen, wenn ich gestehe, dass ich manchmal den naiven Wunsch habe, zu dieser Angeklagten zu gehen, sie zu schütteln und zu rufen: »Sieh, was du angerichtet hast!« Und dass es mich aufregt, wie sie auf ihren Anwalt einschnattert. Oder wie sie ihr langes Haar als Vorhang herunterlässt, sobald unangenehme Bilder an die Wände projiziert werden. Bilder voller Blut.
Zu Hause am Küchentisch mime ich wiederum den Besonnenen. Ich rüge meine Frau, als sie die Angeklagte eine »Nazi-Tante« nennt, die lüge, wie es ihr passe. So könne man das nicht ausdrücken, übrigens dürften Angeklagte lügen, sage ich. »Bist du jetzt ihr Verteidiger oder was?«, werde ich gefragt. Dass Beate Zschäpe Fähigkeiten hat, Menschen zu manipulieren, war mir klar. Aber dass sie, ohne es zu wissen, einen Keil in meine Familie treibt, kann ich nicht zulassen. So viel Macht darf ich ihr nicht geben. Es reicht schon, wie es in meinem Inneren zugeht. Da sind Abscheu und Entsetzen, aber auch Neugier und Zweifel. Je länger man über einen Menschen nachdenkt, desto mehr lernt man über sich selbst. Und keine noch so große professionelle Distanz kann verhindern, dass ich für lange Zeit und auf spezielle Art mit dieser Zschäpe, geborene Apel, verbunden sein werde. Das ist keine gute Erkenntnis. Ich kann allerdings nur ahnen, wie schrecklich sich das für die Familien der NSU-Opfer anfühlen muss: zu wissen, dass diese Frau jetzt und in Zukunft einen Platz hat in den eigenen Gedanken und Gefühlen.
Vielleicht wäre es einfacher, wenn Beate Zschäpe klarer in ein Schema passen würde. Wie ihr Mitangeklagter André E. zum Beispiel, der bräsig im Gerichtssaal hockt und sich seine Gesinnung auf den Bauch tätowieren ließ (»Die Jew Die« – Stirb Jude stirb). Mit André E. und dessen Frau Susann war Zschäpe in Zwickau ganz dicke, aber im Gerichtssaal schauen die beiden einander nie an. Einmal lief er in den Gerichtssaal mit einem Pullover, auf dem stand die Losung einer Neonazi-Organisation: »Brüder schweigen – bis in den Tod«. Und Schwestern?
Beate Zschäpe hat ihr Schweigen gebrochen, ohne selbst zu sprechen. Sie hat ein Geständnis abgelegt, das ratlos macht. Sie hat ihre Loyalität zu den toten Freunden Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt aufgekündigt, und zumindest das war dann doch überraschend. Sie hat sie als unverbesserliche Mörder dargestellt, denen sie auf unerklärliche Weise ergeben gewesen sein will. Sie hat sich in einer Weise kleingemacht, die beim Zuhören wehtut und in scharfem Kontrast zu dem görenhaften Getue steht, mit dem Zschäpe sonst auffällt. Und warum kann sie ihre Aussage nicht wenigstens selbst vortragen?
Einmal habe ich ihre Stimme gehört, ganz kurz. Es war an einem Tag im Juni 2015. Die Angeklagte sah müde und abgespannt aus, und es wirkte so, als wollte sie gerade wegdämmern, als der Richter Manfred Götzl sie unvermittelt ansprach. Ob sie noch bei der Sache sei? Ob sie noch folgen könne? Zschäpe schrak hoch. »Ja«, antwortete sie spontan, laut genug, dass man es auch oben auf der Zuschauertribüne hören konnte. Sie schaute leicht verdutzt. Ich auch. Das wars.
Am Anfang kamen viele zum Zschäpe-Watching ins Gericht und wollten sich vergewissern, ob da wirklich ein Mensch sitzt und nicht nur eine Medienfigur. Im Laufe der Zeit haben sich die Bilder von dieser Frau dann so in die kollektive Netzhaut eingebrannt, dass es viele nur noch nervt. Ich erschrecke, wie viele Details ich über Beate Zschäpe weiß, ohne dass ich je die Chance hatte, sie damit zu konfrontieren. Ich weiß, wo sie eine Narbe hat. Ich kenne ihre Handschrift und ihre Liebe zu Katzen und Hunden. Ich kenne das Haus, in dem sie vor dem Untertauchen in Jena gelebt hat, in einer kleinen Wohnung mit Waffen und Reichskriegsflagge an der Wand. Ich kenne auch den Keller mit den Vorführzellen im Gerichtsgebäude, in denen sie sitzen und warten muss, wenn Mittagspause ist.
Ich kenne ihre rosa Puschen, ihre Sonnenbrillen und ihre Urlaubsfotos. Ich kenne ihre früheren Freunde und Alias-Namen. Als »Liese« surfte sie im Internet, schaute Promi-News und Big Brother, suchte nach Biobauern und Fleisch von freilaufenden Tieren.
Ich weiß, welche CDs bei den Neonazis in Zwickau herumlagen, es war nicht nur Rechtsrock. Red Hot Chili Peppers, R.E.M., Dire Straits. Haben die das wirklich gehört? Ich stelle mir vor, wie Beate Zschäpe gefühlsduselig mitsummt, wenn Mark Knopfler Brothers in Arms singt: »We’re fools to make war on our brothers in arms.«
Was bringt dieses Wissen? Es zeigt, wie banal der Alltag im Untergrund war, aber es erklärt nicht, weshalb zehn Menschen sterben mussten. Muss man stattdessen die Neonazi-Propaganda lesen, die auf den Computern gefunden wurde? Oder das eklige Gedicht »Ali Drecksau, wir hassen dich«, das 1998 in der Garage gefunden wurde, die Beate Zschäpe angemietet hatte? Muss man sich die widerlichen Bekennervideos anschauen, deren Inhalt Zschäpe, wie sie behauptet, gar nicht kannte – obwohl darin Aufnahmen zu sehen sind, die sie nach Ansicht der Ermittler selbst aufgezeichnet hatte? Das alles muss man tun, aber man wird davon nicht schlauer, sondern nur traurig oder wütend.
Beate Zschäpe ist so alt wie ich, das macht es nicht besser. Als ich in den Neunzigern gegen Neonazis protestierte, marschierte sie auf den Demos der rechten Szene. Als sie untertauchte und ihre Freunde überlegten, ins Ausland zu fliehen, studierte ich in den USA, und die deutschen Neonazis schienen weit weg. Als der NSU mit dem Morden begann, war ich wieder hier und habe, wie die Behörden und alle anderen, nichts begriffen. Den rechtsextremen Hintergrund der Anschläge auf Türken habe ich nicht erkannt. Obwohl ich gerade an einer Studie über kollektive Identitäten türkischer Migranten mitarbeitete, habe ich auch nicht gesehen, was die Morde bei ihnen angerichtet haben.
Und Beate Zschäpe? Sie versteckte sich mit ihren Männern in Chemnitz, später in Zwickau. Angeblich eröffnete sie ihnen, dass sie sich jetzt der Polizei stellen wolle. Sie hat sich aber nicht gestellt. Die Jahre vergingen, weitere Morde folgten.
Zschäpes Ausflüchte wirken durchsichtig, aber ihr Fanatismus hält sich offenbar in Grenzen. Sonst würde sie, wie der Norweger Anders Behring Breivik, die Bühne des Gerichts für rechtsextreme Propaganda nutzen. Stattdessen druckst sie herum, und ich merke, wie mich das ärgert. Wahrscheinlich möchte ich es mir möglichst einfach machen. Aber den Gefallen, sich als glühende »Nazi-Braut« (Bild) zu bekennen, die Türken und Juden abgrundtief hasst, hat sie mir nicht gemacht.
Vielleicht hat sie gar nicht gehasst? Vielleicht war ihr alles nur schrecklich egal? Ich frage mich, ob ich solche Gedanken und Zweifel äußern kann, ohne gleich als Zschäpe-Versteher beschimpft zu werden. Ich kann nicht in die Seele dieser Frau schauen, andere können das auch nicht. Manche werden sagen, die hat doch keine Seele. Aber es ist kein gutes Zeichen, wenn ein Mensch, wie schlimm seine Taten auch sein mögen, dämonisiert wird. Dass Menschen die Menschlichkeit abgesprochen wird, ist doch die Logik von Rassisten und Nationalsozialisten. Dieser Logik darf man nicht folgen. Eine Zeugin, eine frühere Nachbarin des Neonazi-Trios, hat erzählt, sie sei Zschäpe mal begegnet, als diese gerade einen Döner gegessen habe. Das dürfe sie eigentlich nicht, ihrem Freund sei es nicht recht, habe Zschäpe gesagt. Aber sie habe so einen Appetit gehabt. Menschen sind vielschichtig und widersprüchlich und nie durchweg gut oder böse. Über Beate Zschäpe berichten viele Zeugen, sie sei ein lieber, offener und freundlicher Mensch. Man könne nichts Schlechtes über sie sagen. Viele dieser Zeugen sind allerdings auch nicht unbedingt lupenreine Demokraten.
Mir graut jetzt schon davor, dass all diese Leute in ein paar Jahren, zu Jahrestagen und Gedenktagen, vor irgendeine Kamera gestellt werden und wieder ein paar Geschichten über ihre Beate erzählen. Vielleicht redet sie sogar irgendwann selbst. Wenn sie alt ist, bin ich es auch. Der Zschäpe-Zirkus wird nie ganz vorbei sein. Und ich bin, so erschreckend das ist, ein Teil davon.
Foto: Daniel Delang