Inselkoller

EU-Bürger müssen sich seit dieser Woche darum bewerben, künftig in Großbritannien bleiben zu dürfen. Unser Autor hat die Insel freiwillig verlassen und ist zurück nach Deutschland gezogen. Ein Abschied von der Wahlheimat.

Ein Demonstrant trägt vor dem Unterhaus Aufkleber auf seiner Stirn mit der Aufschrift »Ich verlange eine Abstimmung über das finale Brexit-Abkommen!«, während die Abgeordneten über den Brexit-Deal diskutieren.

Foto: dpa

Um es gleich vorwegzunehmen: London ist und bleibt die großartigste Stadt der Welt. Wenn man einmal in London gelebt hat, ist jede andere Stadt ein Kaff. Nirgends findet man so viele unterschiedliche Stimmungen, Kulturmelangen und historische Schichten, soviel Pracht, Leben und Vielfalt derart komprimiert vereint. Das war es, was meine Frau und mich im Juni 2004 bewog, dorthin zu ziehen.

Der Schritt nach Großbritannien war sozusagen ein natürlicher. Ich bin von Hause aus Anglist, und meine Frau wollte nach einem Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen im Süd-Sudan nicht gleich wieder ins deutsche Gesundheitssystem einsteigen. Sie wurde stattdessen Kinderärztin im National Health Service, und ich wurde Korrespondent. Im Oktober kam in Islington – dem Wahlkreis des heutigen Labour-Chefs und Brexit-Fans Jeremy Corbyn – unser erster Sohn auf die Welt; 2007 und 2010 folgten zwei weitere. Alle drei Briten, Londoner, Boys aus Cricklewood. Großbritannien war jetzt unser zu Hause, wir hatten keine Pläne, dort wegzuziehen.

Dann kam der 23. Juni 2016, das Datum des EU-Referendums. In der Rückschau begann der Abschied von dem Land, das wir kannten, schon mit diesem Tag. Dabei veränderte die Entscheidung der Briten, die Europäische Union zu verlassen, meine eigene Sicht auf das Vereinigte Königreich sogar weniger grundlegend, als die vieler anderer, die aus allen Wolken fielen. Die Wirkung des britischen Exzeptionalismus hatte ich schon in meiner Oxforder Studienzeit in den Neunzigerjahren erlebt, in der ich genügend rabiate »Euroskeptiker« (wie man sie damals noch nannte) kennenlernte. Auch später, bei meinen Recherchereisen als Journalist, hatte ich genügend abfällige Bemerkungen über das »korrupte Brüssel« gehört, um zumindest zu ahnen, dass das Potenzial für »Leave« riesig war.

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Für viele, die mit Großbritannien vor allem fiktive Konfektionen wie »Sherlock«, »Notting Hill« und »Downton Abbey« verbanden, schien die Abkehr vom europäischen Projekt völlig inkompatibel mit dem Bild, das sie sich von der Insel gemacht hatten. Dabei halte ich die These von Colin Bond für bedenkenswert, die er in seiner Rezension des Damon-Albarn-Musikalbums »Merrie Land« formuliert, dass gerade Britpop und »Cool Britannia« mit ihrer Feier des Union Jack und einer spezifisch englischen laddishness den Weg für die Brexit-Mentalität ebneten. Die Sehnsucht nach einem mythischen England, das es nie gegeben hatte – bis dahin im Pop die Domäne des mit reaktionärem Gedankengut kokettierenden Nigel-Farage-Apologeten Morrissey – wurde damals massentauglich.

Es ist übrigens kein Wunder, dass besonders die Deutschen auf ihrer Suche nach einer kulturellen Heimat fern der eigenen nazikontaminierten Geschichte auf die Insel blicken. Das äußert sich zum einen in einer Keltenbesessenheit, deren rührender Folklorismus als eine Art unbelastetes Ersatzgermanentum herhalten muss. Zum andern ist die deutsche Wahrnehmung Britanniens von Historiendramen und von Fernsehserien wie »Downton Abbey« geprägt. Sie ein besonders gutes Beispiel für das Bild, das Großbritannien gerne von sich projiziert: Eine gütige Aristokratenfamilie an der Spitze einer stratifizierten Gesellschaft, in der alle, vom Lord bis zum Stallburschen, ihren Platz kennen. Das Empire ist intakt, mit England als seinem grünen, idyllischen Zentrum. Es ist eine Traumwelt, die so verführerisch ist, dass nicht nur das globale Publikum, sondern auch die Briten selbst ihrer nostalgischen Verklärung erlagen.

Die Gründe für Brexit waren vielfältig, Angefangen von der Empire- und Weltkriegsnostalgie der Oberschicht und Teilen der Mittelschicht bis zur diffusen, aber weitverbreiteten Wut über die zunehmende Ungleichheit innerhalb der britischen Gesellschaft bei der working class. Zusammen ergab das eine toxische Mischung. Wirklich verstörend war jedoch das Chaos, das der Brexit entfesseln sollte. Die Inkompetenz der politischen Klasse in Westminster, allen voran der leichtsinnige Roulettespieler David Cameron, die heillos überforderte Theresa May und der prinzipienlose Zyniker Boris Johnson. Dazu die geistige und emotionale Trägheit der breiten Bevölkerung – das alles übertraf die schlimmsten Befürchtungen, war zutiefst bedrückend und entfremdete uns zusehends dem Land, in dem wir lebten.

Ein bedeutender Faktor bei der Entscheidung, unsere Sachen zu packen, war die Art, in der Briten EU-Ausländer wie uns lange als Faustpfand in den Gesprächen mit EU-Unterhändler Barnier missbrauchten. Doch selbst, nachdem wir im vergangenen Sommer die Kinder von ihren Schulen abgemeldet, den Mietvertrag gekündigt und den Umzugswagen bestellt hatten, schien die Vorstellung irgendwie surreal, das einzige Heim, das wir je als Familie gehabt hatten, für immer zu verlassen.

Surreal erschien mir die Situation auf der Insel auch weiterhin von meinem neuen Wohnort in der norddeutschen Provinz aus. Die stets um sich selbst kreisenden, ergebnislosen Debatten im britischen Parlament und in der Twittersphäre, die jeden Realitätssinn hinter sich lassenden, immer nationalistischer und xenophober werdenden Forderungen der harten Brexit-Fraktion, die Untätigkeit der Labour-Opposition – all das ließen jede Hoffnung schwinden, das Ganze könnte doch noch glimpflich ausgehen.

Wie sehr sich Brexit-Britain allerdings tatsächlich im Vergleich zu unserem früheren zu Hause gewandelt hatte, wurde mir erst in dieser Woche zur Gänze bewusst: Vor ein paar Tagen wurde das »EU Settlement Scheme« freigeschaltet, mit dem EU-Bürger sich nun darum bewerben müssen, nach dem Brexit – ob mit oder ohne Abkommen - im Land bleiben zu dürfen. Die Freizügigkeit für Personen, die ihnen garantiert war, wird nach dem EU-Ausstieg nicht mehr gelten.

Viele der geschätzten drei Millionen EU-Ausländer leben schon seit Jahrzehnten in Großbritannien, sie haben Kinder und Ehepartner mit britischer Staatsbürgerschaft. Nun müssen sie alle möglichen Dokumente vorlegen, von denen sie bis vor kurzem nicht einmal wussten, dass sie sie hätten sammeln müssen. Zudem gibt es nur 13 Orte im ganzen Land, an denen man seinen Pass scannen lassen kann – das Online-Bewerbungssystem funktioniert nur auf Android-Telefonen, iPhone-Nutzer haben das Nachsehen. Viele klagen schon jetzt darüber, dass sie gar nicht in das Online-System hineinkämen, weil es überlastet sei – und manche wurden, obwohl sie alle korrekten Unterlagen einreichten, schon abgewiesen.

Da klang es wie Hohn, als der britische Innenminister Sajid Javid am vergangenen Montag verkündete, die Regierung werde auf die Bearbeitungsgebühr von 65 Pfund für den Aufenthaltsantrag verzichten. Das Absurde war doch, dass man es überhaupt je in Betracht gezogen hatte, EU-Bürger dafür zur Kasse zu bitten, ein automatisches Recht behalten zu dürfen, das ihnen ohne ihr Mitspracherecht entzogen worden war. Dass Javid das nun als Großzügigkeit verkaufte, war ein neuer Tiefpunkt.

Das Großbritannien, in das wir 2004 zogen, wirkte weltoffen, pragmatisch, tolerant – auch und gerade, weil es Teil der EU war. Es hätte Menschen nicht als Faustpfänder in hoffnungs- und planlosen politischen Auseinandersetzungen mit befreundeten Nationen missbraucht, die letztlich vor allem eine Auseinandersetzung Britanniens mit sich selbst sind. In den Konvulsionen der brexitären Selbstzerfleischung scheint dieses Land auf der Strecke geblieben zu sein.