Stillstand

Seit der Loveparade-Katastrophe ist Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland eigentlich nicht mehr haltbar. Jetzt droht ihm die Abwahl. Ein letzter Versuch, den Mann zu verstehen.

Hier ist Sauerland in seiner Lieblingsdönerbude. Mit dem Besitzer ist er befreundet, das Essen, sagt er, schmecke ihm dort ausgezeichnet.

Man kann nicht sagen, dass Adolf Sauerland auf der Flucht ist vor den Bürgern seiner Stadt. Aber auf der Hut ist er schon. Es sind nur wenige Meter vom Rathaus bis zur Geschäftsstelle der CDU in der Fußgängerzone, die man auch ganz gut zu Fuß gehen könnte. »Fahren geht schneller«, sagt Adolf Sauerland. Aber bequemer ist es eben auch, so hinter der Scheibe durch eine Stadt zu fahren, in der er schon mit Ketchup bespritzt wurde. In der ihm der Tod gewünscht wurde. Adolf Sauerland muss sich in Acht nehmen vor den Menschen der Stadt und dem, was sie über ihn erzählen.

Sauerland, 56, hat abgenommen in den Weihnachtsferien und trägt einen schönen Anzug an diesem Dienstag Ende Januar, nicht eines seiner Jacketts, die über ihm hängen wie ein Regenmantel, die ihn noch breiter und kleiner werden lassen. Die Leute in der Fußgängerzone schauen, als er um die Ecke biegt, es ist keine Abscheu zu lesen in ihren Gesichtern, eher ein Staunen, so als ob jemand plötzlich auftaucht, den man vor allem aus dem Fernsehen kennt, über den so viel Böses geschrieben wurde in den Zeitungen und im Internet. Adolf Sauerland verspürt keine Neigung, an diesem Tag für weiteren Gesprächsstoff zu sorgen. Vor dem Aufzug, der ihn nach oben zur CDU-Geschäftsstelle bringen soll, warten schon zwei Menschen, die kleine Kabine kommt. »Fahren Sie nur«, sagt Sauerland zu den anderen. »Mit mir sind wir zu schwer. Dann bimmelt es wieder, und morgen steht es in der Zeitung.« Er lacht nicht, als er das sagt, er tut sich nicht leid. Es ist wohl Routine geworden, auf der Hut zu sein vor seiner eigenen Stadt.

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Er ist seit vielen Jahrzehnten in der Politik, hat klein angefangen in der Bezirksvertretung, er weiß, wie das ist, sich hinzustellen und gegen andere anzutreten, auszuteilen und einzustecken, Wahlkampf zu machen also. Diesmal ist es aber anders, weil er da ja ganz allein steht auf der Bühne, weil die Duisburger beim Abwahlbegehren am Sonntag nicht zwischen ihm und einem anderen entscheiden können, weil es nur um ihn geht. Die Gegner brauchen 92 000 Stimmen, ein Viertel aller Wahlberechtigten. Eine Abwahl Sauerlands ist schwierig, seine Gegner müssten mehr Menschen mobilisieren, als Sauerland bei der letzten Wahl ihre Stimme gaben.

In diesen Tagen fährt man durch eine Stadt, in der überall die Plakate kleben, die einen Neuanfang wollen ohne ihn. In der aber kein einziges für ihn wirbt. Man hört und liest, was seine Gegner über ihn denken, und bekommt den Eindruck, als gebe es kaum Menschen, die ihn auch ganz gern mögen, wenigstens als Mensch. Es ist schwer, in diesen Tagen und Wochen kein Mitleid mit Adolf Sauerland zu bekommen. Wahrscheinlich ist genau das auch sein Kalkül.

Im Juli 2010 starben 21 Menschen bei der Loveparade in Duisburg. Damals diskutierten die Stadt und auch das ganze Land über Adolf Sauerland: Wie einer so heißen könne, der so lange nach dem Krieg geboren wurde? Warum er noch im Amt ist, nach all den Toten?

Manchmal sieht es so aus, als bestrafe sich da einer selbst, indem er so lange im Amt bleibt, indem er es erträgt, dass knapp 70 000 Menschen ihre Unterschrift gaben, damit das Abwahlbegehren möglich wurde und nun gegen ihn abgestimmt werden kann. Die letzten 18 Monate in Duisburg Adolf Sauerland zu sein war wahrscheinlich eine viel schlimmere Strafe, als ein Gericht sie jemals aussprechen würde, sollte es Sauerland für schuldig befinden für Fehler bei der Organisation der Loveparade. Warum also tut sich jemand das an? Den Hohn, den Spott. Und worum geht es dabei? Um Duisburg, so wie Sauerland es immer wieder sagt? Oder nur um ihn? Ist es der Kampf eines Einzelnen, der die ganze Stadt als Geisel nimmt? Vor Kurzem begann die Staatsanwaltschaft auch noch wegen des Verdachts der Vorteilsnahme gegen Sauerland zu ermitteln, es geht um ein Bauprojekt im Innenhafen, zwei Immobilienentwickler hatten großzügig an die CDU gespendet.

Adolf Sauerland am Steuer.

Wenn man mit Sauerland ins Gespräch kommen will, dann sagt sein Sprecher immer erst einmal, dass das wirklich schwierig sei und die Texte der Vergangenheit nicht eben dazu beigetragen hätten, dass man Hoffnung habe auf ein ausgewogenes Bild. Man werde die Sache also noch einmal diskutieren.

Der erste Sohn in der Familie wurde immer Adolf genannt

Eine Woche später, Anfang Dezember, lädt Sauerland dann erstmals in sein Eckzimmer im Rathaus, mit Holzvertäfelung und einem kleinen Laptop auf dem ansonsten recht leeren Schreibtisch. Wenn dieses Zimmer etwas aussagen soll über Sauerland, dann, dass hier geschafft und wegentschieden wird. Sauerland hat gerade Feuerwehrmänner für Jahrzehnte im Dienst geehrt und für jeden einzelnen ein paar Worte gefunden. Jetzt sitzt er in seinem Zimmer und witzelt sich in Fahrt. Erst muss sein Sprecher herhalten und dann ein paar Leute vom MSV, und plötzlich ist man ganz ernst beim Adolf angelangt, obwohl danach gar niemand gefragt hat. Der erste Sohn in der Familie wurde immer Adolf genannt. Und der Vater habe eben damit nicht aufgehört, nur weil der Krieg zu Ende war. Es ist wohl eine Art Entschuldigung, so wie sich Sauerland für so vieles entschuldigt hat in den vergangenen Monaten. Er hat sich für die Toten auf der Loveparade entschuldigt und dafür, dass die Entschuldigung nicht früher kam.

Die Sache mit dem Vornamen sei nie ein Thema gewesen in all den Jahren, sagen seine Freunde. Nicht privat und nicht öffentlich. Es ist jetzt Januar, Sauerland sitzt in einem kleinen Zimmer der CDU-Geschäftsstelle, vor ihm ein Teller Mettbrötchen und eine Broschüre, die die Erfolge seiner Amtszeit auflistet. Eigentlich wollte er ja keinen Wahlkampf machen, hatte die CDU-Wähler zum Boykott aufgerufen. Nun hat die CDU aber offenbar gemerkt, dass viele bürgerliche und ältere Wähler sich sonntags generell auf den Weg machen, wenn ein Wahllokal geöffnet hat, weil man das eben so macht. Ob dies der Grund gewesen sei für den Strategiewechsel, will ein Journalist von Sauerland wissen. »Wollen die Menschen ihr Kreuzchen für den Adolf machen?«, fragt er. Adolf Sauerland hebt den Zeigefinger. Obacht. »Sauerland, bitte«, so solle man ihn nennen. »Nicht, dass da ein falscher Zungenschlag reinkommt.« Jetzt muss er sich auch schon für seinen Vornamen entschuldigen. Dann verlässt er das Gebäude, versteckt ein Käsebrötchen hinter dem Rücken, damit die Kameras es nicht sehen und die Leute nicht anfangen zu reden. Das Leben als Kampf. So sieht er es selber ja auch. Nicht nur nach der Loveparade.

»In Duisburg müssen sie immer kämpfen. Der Charakter der Stadt prägt auch die Menschen«, sagt Sauerland. Er kommt aus Walsum, ist verheiratet und hat vier Kinder. Die Eltern haben in Walsum ein kleines Schreibwarengeschäft mit einem Reisebüro, in dem auch der SPD-Fraktionschef bis heute seine Urlaube bucht. Die Häuser sind niedrig, die Straßen eng, alles musste seinen Zweck erfüllen. Die Region boomte nach dem Zweiten Weltkrieg, weil Deutschland die Energie für den Aufschwung brauchte und man sie hier im Boden fand. Die letzte Zeche in Walsum hat vor drei Jahren dichtgemacht. Im »Walsumer Hof«, seinem Stammlokal, gehe es abends schon mal hoch her, hat er gesagt, es gebe einen guten Wacholderschnaps. Dabei hat er einem zugezwinkert. Sauerland selbst trinkt aber meist gar nichts an solchen Abenden oder höchstens ein Gläschen. Es gibt guten Fisch im »Walsumer Hof« – und wenn Sauerland abends zu Gast ist, hat das wenig zu tun mit Freizeit, dann kommen dort Menschen an seinen Tisch, die etwas wollen, seinen Rat oder seine Hilfe.

Tritt man wieder vor die Tür des Gasthofs, dann schaut man direkt auf den riesigen Kühlturm eines Kohlekraftwerks, das nun dort steht, wo früher das Bergwerk war. Die Kohle kommt nun aus fernen Ländern, mit dem Boot an die Anlegestelle ein paar Meter weiter.

Strukturwandel nennen sie das, was im Ruhrgebiet passiert, die Schließung der Zechen und Hochöfen. Duisburg hat eine Arbeitslosigkeit von zwölf Prozent und in den vergangenen 35 Jahren fast ein Viertel seiner Bevölkerung verloren. An vielen Ecken sieht es so aus wie in der DDR kurz nach der Wiedervereinigung. Die Zustände dort beschäftigen bis heute das ganze Land, weil gleiche Lebensbedingungen zu einer moralischen Frage geworden sind, zur Frage über das Gelingen der Einheit. Früher gab es hier wenigstens noch den Schimanski-Tatort, und manchmal schaute Wetten, dass ..? in der Rhein-Ruhr-Halle vorbei. Man hatte das Gefühl, Anschluss zu haben an das Land.

Die Rhein-Ruhr-Halle verkam allmählich, und auch sonst ging nicht viel voran. Im Jahr 2004 haben sie Sauerland zum Oberbürgermeister gewählt, der erste von der CDU seit fünfzig Jahren. Er fing an, durch Duisburg zu wirbeln, beauftragte den Architekten Sir Norman Foster damit, einen Masterplan für die Innenstadt zu entwerfen. Sauerland war kein schlechter Oberbürgermeister. Die Loveparade sollte zeigen, dass Duisburg wieder ganz oben mitspielte.

Jetzt steht die Stadt in einer Linie mit Eschede und Winnenden. Orten, denen ein großes Unglück widerfahren ist. Eschede und Winnenden konnten nichts dafür. Bei Duisburg liegen die Dinge anders.

Die Gedenkfeiern haben ohne ihn stattgefunden, die Gedenktafeln wurden ohne ihn enthüllt

Einer der seltenen öffentlichen Auftritte des Duisburger Oberbürgermeisters:
Adolf Sauerland bei der Einweihung einer türkischen Bäckerei.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen elf Mitarbeiter der Stadt, der Oberbürgermeister gehört bisher nicht dazu. Seinen Gegnern geht es aber vor allem darum, wie sich Sauerland verhalten hat nach der Tragödie. Er ist bis heute ein Stadtoberhaupt geblieben, das keinen Zugang gefunden hat zum schlimmsten Ereignis in Duisburgs jüngerer Geschichte. Der irgendwie am Rande steht und sich im besten Falle dafür rechtfertigt, warum er bisher so versagt hat bei der Aufarbeitung. Die Gedenkfeiern haben ohne ihn stattgefunden, die Gedenktafeln wurden ohne ihn enthüllt. Viele Opfer wollen ihn nicht treffen. Welchen Sinn also hat es, Oberbürgermeister zu sein, wenn man nicht da sein kann für seine Stadt?

Sauerland holt jetzt ein wenig Luft in seinem Büro. Nun, Ende Januar, das letzte Gespräch mit ihm, eine gute Stunde lang. »Ich wollte nichts tun, was die Angehörigen verletzen könnte. Die Betreuer der Opfer und Angehöririgen haben gesagt, dass eine Begegnung mit mir als ganz schwierig empfunden wird.« Die Begegnung mit seiner ganzen Stadt ist auch schwierig geworden. Man sieht ihn nur noch selten.

Wie soll so jemand den Heiler spielen, den die Stadt jetzt braucht? Einen, der die richtigen Worte findet für ein Gemeinwesen, das die Katastrophe bis heute nicht wirklich aufgearbeitet hat. Duisburg fehlen die Worte und einer, der sie ausspricht. »Die Stadt ist immer noch wie gelähmt«, sagt der Vorstandsvorsitzende eines großen Konzerns der Stadt.

Gelähmt war er selbst, sagt Sauerland. In den Wochen nach der Loveparade. »Das war damals wie unter einer Dunstglocke. Ich sah die Realität. Ich konnte aber die Gedanken nicht gerade richten.« Andere in der Stadt sind sich sicher, dass sie es mit einem Oberbürgermeister zu tun hatten, der selbst traumatisiert war. Nach einem Jahr wurde es zumindest insoweit besser, als dass Sauerland in eine Phase trat, in der er selbst erkannte, dass er als Oberbürgermeister nicht das geleistet hatte nach der Katastrophe, was die Menschen von ihm erwarten. Zum Jahrestag entschuldigte er sich auf allen Kanälen. Zur Gedenkfeier ging er wieder nicht.

Das Rathaus von innen, Sauerland schaut nach draußen; das war vor seiner Weihnachtsdiät, die Bäume sind noch grün.

In den folgenden Monaten wurde Sauerland wieder selbstbewusster, wurde vielleicht wieder mehr zu dem, der er vorher war. Das Abwahlbegehren kam ihm ganz recht. Man kann das Ganze auch als eine Befreiung sehen für ihn.

»Am Anfang war diese Abwahlbewegung ja eine rein bürgerschaftliche, deren Motive ich verstehen kann«, sagt Sauerland. »Heute muss man blind sein, um nicht zu sehen, dass da unheimlich viel Politik dahinter ist. Dadurch ist die Situation für mich auch einfacher zu handeln.« Er muss jetzt nicht mehr nur einstecken, er kann jetzt auch austeilen. Schließlich gehe es jetzt ja um einen Parteienstreit, nicht mehr um die Toten auf der Loveparade und die Gefühle der Angehörigen. So sieht er es.

»Der politische Gegner instrumentalisiert die Abstimmung. Ich bleibe im Amt, bis man mir nachweist, dass in meinem Bereich Fehler gemacht wurden«, sagt Sauerland. Er meint immer noch den Bereich, der juristisch nachprüfbar ist, zumindest einigermaßen. Die Planungen der Loveparade. Darum geht es aber eigentlich gar nicht. Es geht um sein Verhalten danach.

Sauerland wusste, wie man Gewerbegebiete plant und wie man mit den Menschen an der Bude schnackt. Über Fußball oder den Pegel des Rheins. Auf etwas wie die Loveparade war er nicht vorbereitet. Niemand war auf so etwas vorbereitet. Aber wenn so ein Unglück passiert, wachsen die einen über sich hinaus. Die anderen werden kleiner, als sie es waren. Das muss man nicht einmal als Vorwurf sehen. Sauerland weiß es auch selbst. »Ich kann nicht sagen, was man macht, weil solche Katastrophensituationen so spezifisch sind. Ich kann jetzt sagen, was man nicht macht in einer Situation, im Nachhinein.«

Im Nachhinein weiß Sauerland vieles besser, ist einsichtig. Er hat aber keine Idee, wie er in Zukunft mit dem zentralen Thema der Stadt umgehen soll. Es spielt auf Zeit, setzt darauf, dass die Menschen ihn als Opfer sehen. Er leidet, wahrscheinlich auch jede Nacht, so wie er es erzählt. Es ist aber die Frage, ob er mit den Opfern leidet. Oder doch nur mit sich selbst. Damit, dass ihm das passiert ist. Seit eineinhalb Jahren spricht Duisburg über ihn, spaltet die Meinung zu ihm die Stadt. Ist es das wert? Viele fragen sich, was Adolf Sauerland sich eigentlich erhofft von seinem Kampf. Ob er glaubt, dass eine gescheiterte Abwahl etwas ändern wird? Dass er bis 2015 im Amt bleibt und seine Gegner irgendwann umschwenken, seine Standhaftigkeit bewundern? Das ist wohl sein Kalkül. »Ich hoffe, dass der ein oder andere mich in Zukunft differenzierter sieht. Dass der ein oder andere sich für geschriebene Artikel entschuldigt.«

Bis dahin, so sieht es aus, muss die Stadt sich gedulden.

Fotos: Thomas Rabsch