Die Schöne und das Biest

Einmal im Leben mit Krokodilen tauchen. Die Luft anhalten. Die Nähe des Todes spüren. Das war ihr Traum. Bis Denzel ins Wasser glitt.

Wenn Jungs im Norden Australiens ihre Mädchen beeindrucken wollen, schleichen sie nachts an einen Fluss und klauen ein Krokodilbaby aus seinem Nest – nur um ein Foto der Angebeteten mit Krokobaby im Arm zu schießen, gerade so lange, bis das Muttertier wutschnaubend aus dem Wasser geschossen kommt. Kräftigere Jungs lauern sogar ausgewachsenen Krokodilen auf, werfen sich auf ihre Rücken, binden ihnen die Schnauzen zu, ringen mit ihnen – und lassen sich dabei mit der Handykamera filmen: Ich habe diese Filme selbst gesehen, in einer Spelunke namens »Lazy Lizard«, nahe dem Kakadu-Nationalpark, 230 Kilometer südöstlich von Darwin im Northern Territory, einem der Bundesstaaten Australiens – viermal so groß wie Deutschland, aber nur 220 000 Menschen leben hier, noch mehr Krokodile: 250 000. Die sind überall, wo es Wasser gibt: in stehenden Gewässern, die man hier Billabong nennt, in Flüssen, an Meeresstränden, und manchmal verirren sie sich auch in die Swimmingpools der Menschen.

Tiere liebe ich schon immer. Seit ich vor fast 20 Jahren das Buch Die letzten ihrer Art von Douglas Adams und Mark Carwardine gelesen habe, faszinieren mich außerdem seltene und gefährdete Tierarten wie der Komodo-waran in Indonesien oder die Riesenkrokodile in Nordaustralien. Mit Reisen zu solchen Tieren tut man durchaus Gutes: »Menschen schützen nur etwas, wenn es einen Wert hat«, sagt Dr. Adam Britton, Zoologe an der Universität Darwin: »Wenn Touristen wegen eines Tiers in eine Region kommen, werden die Menschen dieses Tier schützen. Reisen Sie! Reisen Sie zu den Tieren!«

Meistgelesen diese Woche:

Die Jugendlichen nahe dem Kakadu-Nationalpark können nur mit kleinen Süßwasserkrokodilen schmusen. Klein ist ein Krokodil, wenn es nicht länger als drei Meter wird. Salzwasserkrokodile werden mehr als sechs Meter lang und wiegen bis zu einer Tonne. Sie sind die größten und gefährlichsten Reptilien der Welt und sehen aus wie Monster. Wenn sie ihren Herzschlag auf zwei Schläge pro drei Minuten senken, brauchen sie ein Jahr nichts zu fressen. Im Zweifel können sie aber auch in Sekundenschnelle mehrere Meter aus dem Wasser springen. Sie beobachten alles außerhalb des Wassers und merken sich wiederkehrende Vorgänge: Deswegen gehen Australier nie den gleichen Weg an einem Gewässer entlang und angeln nie zweimal an der gleichen Stelle.

Die Namen beider Arten sind irreführend: Salz- und Süßwasserkrokodile leben beide lieber im Süßwasser, Erstere halten es aber auch im Salzwasser aus. Die Australier nennen die Salzwasserkrokodile »Salties«, die Süß- oder wie man hier sagt: Frischwasserkrokodile »Freshies«, weil sie sich für alles gern Kosenamen ausdenken – nicht nur für sich selbst (»Aussie«).

Jäger hatten die Krokodile fast ausgerottet, bis sie 1971 geschützt wurden. Inzwischen sind es wieder so viele, dass jedes Jahr eine festgelegte Anzahl von Krokodileiern aus Nestern an Lederfarmen verkauft wird. Jäger dürfen nur noch »Problemkrokodile« töten, die Menschen angreifen: so wie »Sweetheart«, ein übel gelauntes Fünf-Meter-Krokodil, das Fischerbooten auflauerte. Heute steht es ausgestopft im Nationalmuseum in Darwin.

Als Schutz haben Wildhüter in der Nähe größerer Siedlungen riesige Käfige mit Ködern im Wasser versenkt – schwimmt ein Krokodil hinein, wird es an einem einsamen Platz wieder ausgesetzt. Wie ins Wasser geworfene Lastwagen sehen diese Käfige aus.

Schon am Flughafen von Darwin wird mir klar, wie tief ich in der Wildnis angekommen bin: Mein Mietwagen hat ein Funkgerät. Außerdem warnt mich der Mann von der Autovermietung: Immer Wasser dabeihaben, immer auf Reservekanister achten!


Das größte Krokodil der Welt

Ein paar Kilometer hinter Darwin zeigen bunte Schilder zur ersten Krokodiltour, von denen man im Nordterritorium unzählige buchen kann. Von einem Boot auf dem Adelaide-Fluss aus beobachte ich, wie sich riesige Salzwasserkrokodile meterhoch aus dem Wasser wuchten, um Fleischbrocken zu erwischen, die ihnen ein Ranger an einer langen Angel vor die Schnauze hält. Vor dem Bootshaus steht eine Nachbildung von »Krys«, dem größten Krokodil der Welt, angeblich 8,6 Meter lang, das in den Fünfzigerjahren getötet wurde. Forscher zweifeln, ob es wirklich so groß war, außer den Erzählungen der Jäger gibt es keine Beweise. Bei nächtlichen Bootstouren in den Nationalparks bekomme ich eine Lampe, um damit das Wasser zu erhellen: Unter der Wasseroberfläche leuchten Hunderte roter Augen. Die Wildhüter locken Frischwasserkrokodile aus dem Wasser, ich werfe ihnen Fleischbrocken in den Rachen; Hunderte Krokodile beobachten mich, sie sind offensichtlich interessiert an mir: »Täuschen Sie sich nicht: Wir sind nur Futter für sie«, sagt einer der Ranger. Sie kennen viele der Krokodile seit Jahren und haben ihnen Namen gegeben: Michael Jackson, Pink Lady, Mini Mouse. Welche und wie viele Tiere gerade in einem Gewässer leben, testen die Ranger mit Styroporkörpern, die sie im Wasser schwimmen lassen: Auf ihnen zeigen sich die verschiedenen Zahnabdrücke.

Vor jeder Bootstour halten die Wildhüter den gleichen Vortrag: »Niemals Gliedmaßen über Bord strecken! Sonst haben wir drei Tage Papierkram und Sie einen Arm weniger. Und falls wir in Seenot geraten: Finger weg von den Rettungswesten! Sie würden es nicht bis zum Ufer schaffen.«

Das Krokodil ist zur größten Touristenattraktion des Bundesstaates geworden. Man kann sogar in einem Hotel wohnen, das wie ein riesiges Krokodil aussieht, zur Rezeption gelangt man durch sein Maul. Kaufen kann man: Klodeckelüberzüge in Form von Krokodilköpfen, Spielzeugautos in Krokodilform, Krokodil-Schokoladeneier. Nur eines kann man im ganzen Nordterritorium so gut wie nie: schwimmen.

Die Menschen in Nordaustralien begegnen ihren Krokodilen mit einer Mischung aus Faszination und Respekt. Jeder hat seine eigene Krokodilgeschichte zu erzählen. Die Aborigines etwa glauben, das erste Krokodil sei ein Mann gewesen, dessen Rücken Feuer gefangen hat. Um sich zu löschen, sei er in einen Billabong gesprungen und als das Urkrokodil »Ginga« wieder herausgekommen. Danach hat es die Landschaft des Kakadu- Nationalparks geformt, indem es mit seinem großen Körper über die Erde gekrochen ist.

Wenn die Northern Territory News auf ihrer Titelseite eine Geschichte über eines der fast 250 000 Krokodile druckt, steigt ihre Auflage sprunghaft an: Mal marschiert ein Krokodil auf der Autobahn in Darwin Richtung Golfplatz, mal liegt eins am Sandstrand neben der Getränkebude. Tausende Schilder an Brücken, Wasserläufen, Billabongs warnen vor Krokodilen – und trotzdem kommt es immer wieder zu grausamen Unfällen. »Sie haben gestern getötet. Sie töten heute. Sie werden morgen töten«, hat die frühere Umweltministerin des Nordterritoriums Allison Anderson einmal gesagt.

In einem Krokodilpark in Darwin kann man ihnen dennoch ganz nahe kommen: In einem »Todeskäfig«. Der Krokodilpark warnt vor möglichen posttraumatischen Belastungsstörungen, Schock, Herzrhythmusstörungen. Mit einer Taucherbrille steige ich in einen Plexiglaszylinder, der fest mit einem Plexiglasdeckel verschraubt wird. Ein Kran senkt den Käfig in ein Becken mit Monster-Krokodilen: Durch Schlitze (»Stecken Sie um Himmels willen Ihre Finger nicht durch!«) dringt Wasser ein, schnell ist der Zylinder fast voll und ich fange an zu schwimmen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Denzel, das erste Krokodil, von einem Stein ins Wasser gleitet. Mein Herz pocht heftig. Dann halte ich die Luft an, tauche unter und sehe dieses U-Boot-große Ding auf mich zuschießen.

Ich weiß, dass um mich herum ein Käfig ist, und trotzdem bekomme ich Todesangst: Panik, Zittern, Ohrenrauschen, Herzrasen. Das Krokodil stößt mit einem lautem Rumms gegen den Zylinder.

Dann guckt das Krokodil. Es gibt kein Tier auf der Welt, das so gucken kann: tief, schwer, stumm. Wie aus der Zeit gefallen wirken sie, wie antike Statuen, die jemand vergessen hat, beiseitezuräumen: eine jahrtausendealte Art, lebensgefährlich, aber mit wunderschönen Bernsteinaugen.

Als Nächstes werde ich die Warane in Indonesien besuchen.

ANREISE
Qantas fliegt über Singapur nach Darwin, www.qantas.com; Mehr Infos: www.australiasoutback.de

KROKODILE GUCKEN
Springende Krokodile: www.jumping crocodile.com.au; Süß- und Salzwasserkrokodile bei der »Yellow Water Cruise« im Kakadu Nationalpark, www.kakadu.com.au; Krokodile bei Nacht: www.travelnorth.com.au; Schwimmen mit den Krokodilen im Todeskäfig: www.crocosauruscove.com

ÜBERNACHTEN
»Pine Creek Railway Resort« nahe der Stadt Katherine, www.pinecreekrailwayresort.com.au - ein Hotel in Eisenbahnwagons, DZ ab 95 Euro.

Fotos: Armin Smailovic; Illustration: Daniel Egnéus