SZ-Magazin : Herr Engelhard, Ihr Beruf ist es, nachts in München in einen Zug zu steigen und die Fahrgäste bis zum Morgen zu betreuen. Was ist so schön daran?
Werner Engelhard: Ich bin am Tag ein freier Mensch, ich kann bei Helligkeit ins Kolosseum in Rom gehen oder in mein Lieblingscafé in Amsterdam. Und das Publikum im Zug ist international, das mag ich.
Wann schlafen Sie?
Nachts meistens zwei Stunden in meinem Abteil, nachdem die letzten Passagiere zugestiegen sind und bevor die ersten wieder aussteigen.
Das reicht?
Nein. Zwischen der Ankunft morgens gegen neun und der Rückfahrt abends gegen acht schlafe ich ein paar Stunden im Hotel, das die Bahn bezahlt.
Was für Leute fahren im Nachtzug?
Das ist nicht so leicht zu beschreiben. Es fahren kaum noch Geschäftsleute, und es sind auch viel weniger Rucksacktouristen und Städtereisende geworden. Es ist jetzt irgendwas dazwischen: Einige machen Verwandtenbesuche, andere holen ein Auto ab. Und es gibt natürlich Gruppen, die auf Abiturfahrt gehen oder eine Klassenreise machen.
Warum fahren kaum noch Geschäftsleute?
Weil der Nachtzug nicht mehr wie früher um sechs Uhr morgens in Amsterdam oder Mailand ankommt, sondern erst nach neun Uhr. Das ist für viele zu spät.
Sind die Züge langsamer geworden oder fahren sie später los?
Sie sind langsamer geworden. Weil man beispielsweise warten muss, bis die Trassen frei sind oder bis der Zug aus Wien kommt. In Verona werden beide Züge gekoppelt und fahren dann gemeinsam weiter nach Mailand. Anders würde sich das nicht mehr rentieren.
Hat sich das Publikum im Laufe der Zeit geändert?
Ja, früher wusste man sofort, wann die Schulferien begannen, da war Mords was los. Heute muss man schon genau hinsehen, um zu merken, dass ein paar mehr Familien mit Kindern unterwegs sind als außerhalb der Ferien. Es war normal, mit dem Zug in den Urlaub zu fahren. Heute nicht mehr.
Welche ist Ihre Lieblingsstadt?
Rom hat Paris abgelöst, weil es in Rom wärmer ist. Aber grundsätzlich kann ich sagen: Es gibt sicher keine Sehenswürdigkeit in all den Städten, die ich noch sehen müsste.
In welcher Stadt waren Sie am häufigsten?
Inzwischen in Amsterdam, viele Hundert Male.
Warum »inzwischen«?
Weil ich bis 2013 wahrscheinlich öfter in Kopenhagen war, aber dann wurde dieser Nachtzug ab München abgeschafft, wie Ende 2014 auch der nach Paris.
Warum wurden diese Züge abgeschafft?
Ach, da spielen viele Gründe eine Rolle: Billigflieger sind schneller und kosten oft weniger als der Zug, Fernbusse sind auch billiger, da tut sich die Bahn trotz aller Sonderangebote schwer, schon weil beim Zug für jeden Kilometer Trassengebühren anfallen. Fernbusse müssen vielleicht im Ausland Autobahngebühren zahlen, in Deutschland aber nicht. Außerdem sind Schlafwagen personalintensiv: Auf einen Schaffner kommen maximal 35 Leute pro Waggon. Tagsüber im ICE passen sechzig Leute in einen Waggon, die keinen eigenen Schaffner brauchen.
Fürchten Sie, dass man Sie bald nicht mehr braucht, weil alle Nachtzüge abgeschafft werden?
Nein, das glaube ich nicht. Erstens bin ich schon 63 und gehe bald in Rente, zweitens will die Bahn an den noch bestehenden Verbindungen festhalten. In vielen Ländern ist das anders, da gibt es kaum noch Nachtzüge.
Wie sieht Ihre Arbeitsnacht genau aus?
Ich prüfe, ob jeder auch im richtigen Abteil sitzt, frage, was sie zum Frühstück möchten, ob sie jetzt etwas zu trinken haben wollen. Ich erkläre in jedem Abteil die Notfallmaßnahmen, die Fluchtwege, wo die Notbremse ist. Auf der Fahrt nach Amsterdam steigen Leute in Augsburg und Stuttgart zu, um 2 Uhr 30 werden in Mannheim schließlich noch frische Semmeln für das Frühstück geliefert. Dann habe ich Pause, bis die Ersten um 4 Uhr 45 in Koblenz aussteigen.
Steigen auch Leute zu, die weder eine Fahrkarte noch ein Bett oder eine Liege gebucht haben?
Ins Flugzeug kommt niemand ohne Ticket. In den Zug schon. Aber es kommt selten vor – und die meisten melden sich gleich. Das Problem ist nur: Ich kann jedem eine Fahrkarte verkaufen, aber wenn kein Bett mehr frei ist, nutzt auch das ganze Geld nichts.
Sind die Leute, die ein Bett oder eine Liege gebucht haben, nachts häufig laut?
Eigentlich kaum. Manche können nicht schlafen, laufen rum, aber die meisten sind in ihrem Abteil und wollen in Ruhe gelassen werden. Manche betrinken sich, die kriegt man morgens nicht wach. Im Liegewagen kommt es öfter vor, dass sich ganze Gruppen betrinken und laut werden.
Was machen Sie dann?
Wenn sie partout keine Ruhe geben, drohe ich, dass die Fahrt am nächsten Bahnhof zu Ende ist und ich die Polizei rufe. Das hilft meistens schon.
Beschweren sich Leute bei Ihnen, weil es stinkt?
Im Liegewagen kommt das schon vor. Ich gehe dann zu der betreffenden Person und bitte sie, sich die Füße zu waschen und die Socken nicht wieder anzuziehen. Das klappt in der Regel.
Und wenn sich jemand durch Sex im Nachbarabteil gestört fühlt?
Deswegen hat sich noch nie jemand bei mir beschwert. Vielleicht weil im Schlafwagen vor allem Ältere fahren, die nicht mehr so viel Sex haben. Oder die Nachbarn klopfen so lange an die Trennwand, bis Ruhe ist, aber das kriege ich nicht mit. Die Jüngeren fahren meistens Liegewagen, kann sein, dass es die nicht stört.
Liegt es vielleicht daran, dass ein Schlafwagenabteil ein bis maximal drei Betten hat, also mehr Privatheit möglich ist als im Liegewagen, wo sich oft sechs fremde Menschen ein Abteil teilen?
Im Liegewagen gibt es auch Vierer-Abteile. Aber ich glaube, das ist nicht der Grund, warum sich noch nie jemand bei mir beschwert hat. Wahrscheinlich denken alle so wie ich: Was willste schon machen?
Sagen wir, jemand bekommt einen Herzinfarkt: Fragen Sie über Mikrofon, ob ein Arzt im Zug ist?
Ja. Auch auf die Gefahr hin, dass alle geweckt werden. Fast immer kommt auch einer. Ist es sehr schlimm, sage ich dem Lokführer Bescheid, der informiert den Fahrdienstleiter der nächsten Betriebszentrale. Und der entscheidet, an welche Stelle er am schnellsten einen Sanitäter beordern kann. Das muss kein Bahnhof sein, das kann auf freier Strecke sein.
Ist man als Schlafwagenschaffner automatisch auch Liegewagenschaffner?
Ja.
Kann man sich aussuchen, wo man arbeiten will?
Nein, das bekommt man zugeteilt. Ich fahre hauptsächlich Liegewagen, seit ich Zugführer bin.
Was hat das miteinander zu tun?
Der Zugführer geht bei jedem Halt auf den Bahnsteig, schaut, ob alle eingestiegen sind, und signalisiert dem Lokführer: Jetzt können wir fahren. Das widerspricht der Tätigkeit als Schlafwagenschaffner, denn der kümmert sich nur um seine Gäste. Das ist ein Fulltime-Job.
Stimmt es, dass Schlafwagenschaffner als Zeichen, dass sie schlafen, ein Handtuch an die Tür knüpfen?
Ja, auch wenn das eher selten passiert. Wenn der Waggon ausgebucht ist, kann das dazu führen, dass der Schlafwagenschaffner sein Ruheabteil im Liegewagen hat, also weit weg von seinen Passagieren. Manchmal wird aber ein Abteil kurzfristig storniert, oder die Leute tauchen nicht auf, dann nimmt der Schaffner das frei gewordene Abteil und signalisiert mit dem Handtuch, wo er sich hingelegt hat. Die Kollegen müssen ihn ja finden können, wenn was ist.
Fahren Sie lieber Liege- oder Schlafwagen?
Ist mir beides recht. Der Liegewagen spiegelt jedoch öfter die politische Realität ab. Mailand zum Beispiel ist ein Drehkreuz für Schlepper, die die Flüchtlinge auf die Züge verteilen – mit gültigen Fahrkarten, aber fast immer ohne Pässe oder ohne gültige Pässe. Einmal waren im Liegewagen – bis auf vier, fünf Passagiere – alle sechzig Betten mit Flüchtlingen aus dreißig Nationen belegt, alle ohne gültige Papiere.
Eigentlich braucht doch keiner mehr einen Pass, der von Mailand nach München reist, oder?
Auf italienischen Fahrkarten steht extra: Nur gültig zusammen mit einem Ausweis. Aber viele, vor allem Schwarzafrikaner, haben keinen Ausweis. Ich kann denen schon sagen: Sie dürfen hier nicht mitfahren. Aber ich bin kein Polizist. Auch das ist am Flughafen anders als bei der Bahn: Wenn einer eine gültige Fahrkarte, aber keinen Pass hat und nicht freiwillig geht, kann ich ihn nicht rausschmeißen.
Sagen Sie dann trotzdem der Polizei Bescheid?
Manchmal, aber oft ist die italienische Polizei nicht willens, die zu holen. In Rosenheim kommt dann deutsche Polizei, wie immer bei Zügen aus Italien. Das ist vielen Flüchtlingen egal, Hauptsache, sie sind in Deutschland.
Sehnen Sie sich manchmal nach alten Zeiten zurück?
Als die Leute noch Zeit hatten, das war schon angenehm. Die Zugfahrt war bereits Teil der Reise, heute wird sie als etwas Lästiges empfunden. Wenn ich mich früher entschuldigen musste, dass wir Verspätung haben werden, sagten viele: Dann bringen Sie mir noch einen Kaffee. Heute heißt es: Was soll ich jetzt machen, ich hab doch schon die Stadtrundfahrt im Internet gebucht! Die Kunst des Reisens ist verlorengegangen.
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Essen
Der Schlafwagenschaffner Werner Engelhard empfiehlt in seiner Lieblingsstadt Rom die Pizzeria »La Cuccuma« in der Nähe des Bahnhofs, tolles, günstiges Essen: Via Merulana, 221 | San Giovanni, 00185 Rom, Italien, Tel. 0039/06/77 20 13 61
Übernachten
»Hotel Piemonte«, zentral am Bahnhof, Zimmer leicht altmodisch, aber angenehm: Via Vicenza, 32/C, 00185 Rom, Tel. 0039/06/445 22 40, hotel piemonte.com, DZ bei Hotelvergleichsportalen ab 38 Euro.
Unbedingt
Den Orangengarten auf dem Aventin-Hügel mit Blick auf die Kirche Santa Sabina und den Vatikan besuchen.
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Foto: Fritz Beck