Sie war 16 und das Wundermädchen, das bei den Olympischen Spielen 1972 in München die Goldmedaille im Hochsprung holte: Ulrike Meyfarth. Damals wollten Tausende sein wie sie – so fröhlich wirkte sie, so unkompliziert und auch süß, mit den stufig geschnittenen braunen Haaren, die ihr Markenzeichen wurden. Sie schien aus dem Nichts zu kommen und hob an einem Sommerabend ab: zur Heldin einer Nation und einer Generation. Das war der Blick von außen.
In ihr drinnen aber sah es anders aus: Ulrike Meyfarth war von ihrem Olympiasieg 1972 überfordert. Und hat heute, 40 Jahre später, ihren Frieden damit noch nicht gemacht. Sie konnte den Sieg nicht genießen, sagt sie, er machte sie sogar unglücklich: weil sie sehr groß und sehr unsicher war und überhaupt nicht gemacht für das Berühmtsein. Und weil sie nur halb stolz sein konnte auf die Medaille, die ihr in den Schoß zu fallen schien. Nur Talent und Glück hätten sie so weit gebracht, da war sie sich sicher. Mit Leistung hatte das wenig zu tun, sie hatte sich ja nicht einmal gequält für den Sieg.
In den vielen Jahren, die folgten, kämpfte sie mit sich und gegen sich und gegen die Erwartungen der anderen, die, wie sie selbst ja auch, Großartiges von ihr erhofften. »Dabei musste ich mich selbst erst mal einholen.« Vier Jahre später, 1976, konnte sie, die Olympiasiegerin, sich nicht einmal qualifizieren für Montreal. Und 1980 boykottierte die BRD die Olympischen Spiele in Moskau, weil die Sowjettruppen in Afghanistan einmarschiert waren.
»Zwölf Sommer Einsamkeit vergingen«, schreibt sie in einem Buch. Und endlich, 1984 in Los Angeles, gewann Ulrike Meyfarth ihre zweite Goldmedaille. Wenn sie nun darüber redet, über Los Angeles und ihren Triumph, hellt sich ihr Gesicht auf. Doch leider sagt sie, spreche man sie immer auf 1972 an, nicht auf 1984.
So wie jetzt, zum 40. Jubiläum der Olympischen Spiele in München. Alle wollen sie wieder alles über den Sieg von 1972 wissen. Man mag kaum glauben, dass Ulrike Nasse, wie sie inzwischen heißt, noch wie traumatisiert ist von dem, was nach dem Sieg in München kam. »Nichts war mehr so, wie es sein sollte«, sagt sie mit Nachdruck. Und gleich noch einmal, doch jetzt haut sie jedes Wort raus wie ein Geschoss: »Nichts! War! Mehr! Normal!« Wenn sie aufgeregt ist, fahren ihre Hände über den Tisch, wischen unsichtbare Krümel weg.
Nur an den Wettkampf selbst erinnert sie sich gern, an das ungeheure Gefühl dabei: »Die Situation war einmalig, das lief ab wie im Film. Ich hab gesehen, wie mein Name auf der Anzeigentafel immer höher kletterte. Und wie das Publikum hinter mir stand. Aber als ich die 1,90 Meter einmal gerissen habe, haben sie gebuht. Die können auch anders, dachte ich da.«
Ein wunderbares Bild war das, wie sie mit dem damals neuen Fosbury-Flop rückwärts über die Latte sprang. Unfassbar spannend, als nur noch drei Springerinnen im Wettbewerb waren, eine davon Ulrike Meyfarth, ein unbekanntes Mädchen aus einem Kaff bei Köln. Und alle drei schafften die 1,88 Meter. Die Favoritin, die Österreicherin Ilona Gusenbauer, scheiterte dreimal an 1,90 Meter, die Bulgarin Jordanka Blagoewa auch. Da war Ulrike Meyfarth Olympiasiegerin – sie übersprang die 1,90 Meter im zweiten Versuch.
Und machte dennoch weiter, ließ 1,92 Meter auflegen, Weltrekord damals. Und rollte wie mühelos auch darüber. Das Publikum tobte, sie hüpfte von der Matte, strahlte, winkte, der dunkle Haarschopf wippte auf und ab, die Leute schlossen sie in ihre Herzen, alle schienen glücklich. Es war der 4. September, 19.05 Uhr, der Abend vor dem Attentat auf die israelische Olympiamannschaft.
Eine Stunde nach ihrem Sieg und der Hymne stand Ulrike Meyfarth im lindgrünen Trainingsanzug im Fernsehstudio und sollte erklären, wie es zu dieser Leistungsexplosion kam. Sie trat von einem Bein aufs andere, kaute an ihrer Lippe, lachte verlegen und hätte sich am liebsten hinter dem Strauß roter Rosen, den man ihr im Namen von Bundeskanzler Willy Brandt überreichte, versteckt.
Wenn ihre beiden Töchter heute das Video auf Youtube sehen, »laufen sie schreiend aus dem Zimmer«, erzählt sie. Es ist ihnen peinlich, wie piepsig ihre Mutter da spricht. Und sie selbst ist sich auch peinlich: »Aber ich gehe mal davon aus, dass sie das sonst nicht so schlecht finden, was ihre Alte da früher vollbracht hat.« Sie lacht. Wenn sie entspannt ist, spricht sie leicht rheinländisch, sagt »datt« und »watt«. Wenn sie entspannt ist, sieht sie jung aus, fast unverändert, sogar die Haare sind bis heute stufig, im Ulrike-Meyfarth-Stil eben, geschnitten. Sie sagt, sie habe ein paar Experimente gemacht mit kurzen Haaren und Dauerwelle, »da hab ich wie ein Pudel ausgesehen. Und ich bin ja eher konventionell«.
Das Leben nach der Sportkarriere ist ihr gut gelungen, das findet sie auch. Sie arbeitet in der Kinder- und Jugendabteilung von Bayer 04 Leverkusen, des Clubs, in dem sie selbst jahrzehntelang trainiert hat. Das Büro teilt sie mit vier anderen Trainern, angenehme Atmosphäre, sagt sie. Seit 1987 ist sie mit dem Rechtsanwalt Roland Nasse verheiratet, sie trägt seinen Namen, die Töchter Alexandra und Antonia sind 24 und 19.
Sie ist schlank, und man kommt kaum nach, solche Riesenschritte macht sie. Wegen ihrer Größe, 1,86 Meter, haben die anderen sie schon als Kind aufgezogen, »langer Lulatsch« und »Klappergestell« gerufen. Als die anderen Mädchen flirteten, las sie viel, malte und stromerte herum im ländlichen Wesseling bei Köln, wo sie aufwuchs. Nur beim Sport fühlte sie sich wohl in ihrem Körper, sie lief schnell, holte Ehrenurkunden bei den Bundesjugendspielen. Im Leichtathletik-Verein entdeckte sie ihr Talent für den Hochsprung und probierte alle Techniken und Sprünge aus, die es damals so gab: den traditionellen Straddle, bei dem man sich bäuchlings über die Latte wälzt; den Schersprung, bei dem man mit gestrecktem Oberkörper und den Beinen voran springt; und den Flop, mit dem Dick Fosbury 1968 die Olympischen Spiele in Mexiko gewann. Das Neue dabei: Man sprang rückwärts und zog die Beine schnell nach. Der Flop wurde ihr Sprung. Mit 14 schaffte sie es über 1,68 Meter, holte den deutschen Schülerrekord, mit 15 wurde sie Deutsche Vizemeisterin bei den Erwachsenen, da sprang sie schon 1,80 Meter.
Es war diese neue Technik, der leichte, elegante Flop, sagt sie, mit dem sie ihre zehn Jahre älteren Konkurrentinnen übertraf, die den Straddle sprangen. Damals trainierte sie nur dreimal in der Woche nach der Schule, mehr nicht, und eigentlich hatte man sie nur mitgenommen zu den Olympischen Spielen, damit sie Erfahrungen sammelte. Und weil sie im eigenen Land stattfanden.
Die Olympiasiegerin wurde dann groß empfangen in der Schule, dem Gymnasium Rodenkirchen. Die Lehrer sagten, sie wollten der Ulrike helfen, mit dem plötzlichen Ruhm zurechtzukommen. Aber die Ulrike ging nicht raus auf den Schulhof in der Pause. Sie genierte sich, fühlte sich ständig beobachtet, und manchmal standen wildfremde Jungs vor der Tür. »Das ist für ein Mädchen in dem Alter, in dem man ja kein Selbstbewusstsein hat, total schrecklich.« Ihre Stimme wird rau, sie räuspert sich, fühlt sich noch heute unwohl bei diesen Erinnerungen. »Ich war ein Außenseiter. Meine Unbefangenheit war verloren gegangen.« Und dann, wieder: »Nichts! War! Mehr! Normal!«
Ein Lehrer fragte sie, warum sie überhaupt noch weitermachen würde im Sport, sie hätte doch alles erreicht. Ihr Trainer sagte, sie könnte sich jetzt nicht mehr erlauben, nur 1,80 Meter zu springen. Keiner war da, der ihr geholfen hätte, das Erdbeben, das über sie hereinbrach, zu verarbeiten. »Es ist einfach, hochzukommen«, sagt sie, »aber schwierig, oben zu bleiben. Und die Leistung beständig bringen zu müssen. Nur: Darüber redet keiner.«
Sie blieb nicht oben. Das zahlte man ihr heim: »Unsere Ulrike bringt nichts mehr«, schrieben die Zeitungen oder spekulierten: »Ist Ulrike schwanger?« Vier Jahre nach München scheiterte sie mit 1,78 Meter bereits in der Qualifikation für Montreal. Sie war am Tiefpunkt.
Und arbeitete sich langsam wieder hoch, trennte sich von ihrem Trainer, fing an, Sport zu studieren, und traf auf Gerd Osenberg, einen der erfolgreichsten deutschen Leichtathletiktrainer. Mit ihm machte sie einen Plan, Stufe eins: viel Training, Stufe zwei: sehr viel Training. Das war es, was Ulrike Meyfarth brauchte in ihrem Leben: Verlässlichkeit, realistische Pläne, Struktur und Berechenbarkeit. Denn es war das vollkommen Unverhoffte beim Sieg von 1972, das ihr so zugesetzt hatte. Das Unverhoffte, das ihren Aufritt so unvergesslich machte wie Boris Beckers Sieg mit 17 in Wimbledon, 1985. Aber das Unverhoffte wollte sie nie mehr.
Zwischen 1981 und 1984 wurde sie viermal Sportlerin des Jahres, gewann 1982 die EM und sprang zwei Weltrekorde, 2,02 Meter und 2,03 Meter. Bald war sie wieder ganz oben und gewann 1984 in Los Angeles ihre zweite Goldmedaille. Das war endlich eine, die sie in ihren Augen auch verdient hatte. Jetzt konnte sie aufhören. »Wenn man nicht aufhören kann, das finde ich abschreckend.«
Ihren Mann lernte sie auf dem Ballaballa-Karnevalsball beim Kölner Sportverein RotWeiß kennen, mit ihm geht sie bis heute jeden Sonntagvormittag, »wenn andere in die Kirche gehen«, auf den Sportplatz, joggen, ein bisschen Krafttraining. Früher kamen die Töchter mit, tobten über Kästen und Matten. Die eine wird nun Tänzerin, die andere hat gerade Abitur gemacht.
Man muss mit gutem Beispiel vorangehen, sagt Ulrike Nasse, darum hat sie immer für Bewegung gesorgt, für Struktur, gemeinsames Abendessen und Tatort-Gucken. Normalität. »Das ist das höchste Gut für einen Menschen«, sagt sie, »dass er das erlebt. Weil er das weitergeben kann.«
Foto: Thomas Rabsch