Gleich hinter dem Sigmundstor, diesem 131 Meter langen Loch im Mönchsberg, beginnt ein Freilichtmuseum, das den meisten besser bekannt ist als Altstadt von Salzburg. 2000 von insgesamt 150000 Einwohnern der Stadt leben hier noch. Aber kann man hier überhaupt leben?
Durchläuft man die Altstadt zu Fuß von der Getreidegasse rüber zum Dom, runter zum Residenzplatz und hinein in den Chiemseehof, dann reichten dafür 15 Minuten – allerdings nur um sechs Uhr morgens. Tagsüber, im Sommer vor allem, versperren die Reisegruppen den Weg, sie verstopfen die Getreidegasse, drücken sich vor Mozarts Geburtshaus herum, sie folgen ihren Führern und deren Regenschirmen in die schmalen Durchgänge zum Domplatz, zum Festspielhaus und hinunter zur Salzach. Es ist immer voll, es ist immer laut, und das, obwohl hier keine Autos fahren dürfen. Die Reiseführer haben Megaphone. Die Altstadt wirkt so ursprünglich wie Legoland. In diesem Freilichtmuseum sind an jedes zweite Haus Jahreszahlen gemalt, 1523 steht auf dem Franziskanerkloster, 1295 über der Buchhandlung Höllriegl, der Dom schmückt sich gleich mit drei Jahreszahlen: 774, 1628, 1959 – Errichtung, Erweiterung, Wiederaufbau. Die »Konditorei Fürst« weist darauf hin, dass sie bereits seit 1884 Mozartkugeln verkauft, ein anderes Haus wirbt damit, dass hier »Konstanze Mozart mit ihrem zweiten Mann und den Kindern gelebt hat«. Und selbst die schäbige Baracke gegenüber dem Festspielhaus preist sich mit dem Satz an: »Der Pavillon wurde den Festspielen anlässlich des 150 Jahres-Jubiläums der Salzburger Sparkasse von den Salzburger Sparkassen geschenkt.« Salzburg will imponieren. Jeder, der sich hier bewegt, soll merken, dass er historischen Boden unter den Füßen hat, dass er historische Luft atmet, selbst dann, wenn sie, wie am oberen Ende der Getreidegasse, stark nach McDonald’s riecht.
Das ist Salzburg, die offizielle, die 1996 von der UNESCO als Weltkulturerbe bezeichnete Version dieser Stadt, die von Weitem wie gemalt auszusehen scheint, hingeduckt zwischen Mönchsberg und Salzach, gekrönt von der Burg, der Feste Hohensalzburg: Gute 250 Meter währt der Zauber in der Länge, etwa 150 in der Breite. Und wer sich partout nicht beeindrucken lassen will, der schlägt sich in der Judengasse, der Verlängerung der Getreidegasse, schnell durch einen Durchgang zur Salzach hinunter und wird Zustimmung für die Bemerkung ernten, dass die Salzburger sich schon eine Spuckweite von Mozarts Geburtshaus entfernt herzlich wenig um ihre Altstadt kümmern – grau bis rußschwarz die Fassaden. Aber wer verlässt schon die Pfade der Reiseführer?
Jedes Jahr im August, wenn die Festspiele sind, wird aus Salzburg, der Provinzstadt, für vier Wochen die Kulturhauptstadt der Welt. Selbst wenn es nicht so wäre, würde Salzburg diesen Titel für sich beanspruchen. Und in diesem Jahr bietet er obendrein ein wenig Trost, weil man es auch beim dritten Anlauf nicht geschafft hat, die Olympischen Winterspiele in die Stadt zu holen. Stattdessen finden sie jetzt 2014 in Sotschi statt. Salzburg will sich nun überhaupt nicht mehr bewerben. Schwamm drüber. Bald ist August und Thomas Gottschalk wird hier promenieren und Familie Pierer, die halbe österreichische Bundesregierung und die ganze Münchner Society auch. »Ich bin Weltkulturerbe«, sagen Salzburger gern, vor allem dann, wenn sie schon längere Zeit in Wien leben. Und sie meinen das nicht nur ironisch. Aber sie wollen auf keinen Fall zurück.
Der Stadtteil Liefering gilt als Salzburger Problembezirk. Er liegt nördlich der Altstadt und besteht im Wesentlichen aus zwei Straßenzügen. Die Häuser sind hier vierstöckig, grau, sie wurden in Zeiten des frühen kommunalen Wohnbaus schnell hochgezogen. Verglichen mit Berlin-Marzahn oder dem Frankfurter Bahnhofsviertel sieht die Gegend zwar aus wie eine Wohnanlage für den gutbürgerlichen Mittelstand, doch in Salzburg wohnen hier die Menschen, die vom Reichtum der Festspiele nur wenig abkriegen. Sie sitzen schon am Vormittag bei einem Bier in einem Lokal, das »Kebab-Burger« heißt. Oder sie machen Musik. Gangsta-Rap wie die vier Jungs, die sich »SBG HotBoys« nennen und, seit sie eines ihrer Videos auf youtube gestellt haben, lokale Berühmtheiten sind. Wenn man mit »Little John«, »Danger« oder »Provider Marco« über Salzburg spricht, dann soll einem das ein Gefühl von Großstadt vermitteln. Die Jungs reden über Kriminalität und Drogen, die hier angeblich an jeder Straßenecke verkauft werden, sie reden über Polizeirazzien und Schlägereien und rappen über den »Dreck« und den »Shit« in »L-Town«, wie Liefering in ihrem Jargon heißt.
Gut möglich, dass ein Rapper aus Salzburg einen ebenso großen Minderwertigkeitskomplex hat wie andere Einwohner der Stadt. Wenn nicht gerade Festspiele sind, wirkt Salzburg hübsch, aber provinziell. Etwas mehr Menschen als in Regensburg leben hier auf einer Fläche kleiner als Passau. Salzburg ist eine Stadt ohne Übergänge: Egal welche Autobahnausfahrt man nimmt, immer fährt man durch Siedlungen von Einfamilienhäusern auf einen Felsen zu, den Mönchsberg oder den Kapuzinerberg, und auf einmal steht man in der Altstadt. Salzburg ist entweder Vorstadt oder Weltkulturerbe. Ja, gut, da sind noch die vierstöckigen Häuser von Liefering, ohne die hätten die Rapper gar nichts zu rappen. Tatsächlich hat es erst kürzlich in Liefering einen groß angelegten Polizeieinsatz gegeben. Dabei wurde eine Gruppe von Fahrraddieben geschnappt. Ob die SBG HotBoys ein Idol haben? Klar: »Dietrich Mateschitz«, sagt Little John. Er hat es geschafft und er macht auch ganz viel für Salzburg.«
Mateschitz gehört Red Bull. Der Energy-Drink, den es seit 20 Jahren gibt, hat ihm zu einem Privatvermögen jenseits der zwei Milliarden Euro verholfen und passt ganz gut zu Salzburg: Im Wesentlichen besteht der Erfolg nämlich aus einer kleinen Dose mit zuckersüßem Inhalt, die mit ziemlich viel Marketing-Aufwand zu einem globalen Player gepusht wurde. Zwei Lokale und ein paar Häuser besitzt Mateschitz in der Getreidegasse, dazu den Eishockey- und den Fußballklub, er ist Mäzen der Privaten Salzburger Medizin-Universität und neben dem Flughafen hat er sich mit dem »Hangar 7«, ein Denkmal gesetzt. Der Bau ist so ziemlich das Modernste, was Salzburg zu bieten hat: eine gewaltige Stahl-Glas-Konstruktion, die die Tragfläche eines Flugzeugs darstellen soll, und neben einem Café, einem Spitzenrestaurant und einer Ausstellungshalle auch die Flugzeugflotte des Besitzers, die »Flying Bulls« beherbergt. Galt früher Karajan, der Mann der Hochkultur, als König von Salzburg, so gebührt dieser Titel heute Dietrich Mateschitz.
Laut Umfragen wollen die meisten Österreicher hier leben. Und viele Deutsche: Ralf Schumacher etwa ist schon da, Hera Lind und Naddel Abdel Farrag auch. Ihnen allein sind sicher nicht die Miet- und Grundstückspreise anzulasten, die so hoch sind wie nirgendwo sonst in Österreich. Andererseits macht das nichts, weil Salzburg die österreichische Stadt mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen ist. Gut so, schließlich kosten Festspielkarten gern mal mehr als 400 Euro. Allerdings sind Salzburger selbst kaum zu sehen während der Festspiele, das Publikum ist »eher international«, das sagen auch die Künstler, die hier auftreten.
Es gibt eine Theorie, die heißt »Six Degrees of Separation«, und besagt, dass jeder Mensch auf der Welt über sechs Ecken jeden Menschen auf dieser Welt kennt. In Salzburg braucht es keine sechs Stationen. Da genügen zwei. Mit wem auch immer man sich unterhält, nach wenigen Minuten landet das Gespräch bei einem der beiden Pole, die Salzburg prägen: die Festspiele und Red Bull. Wer als Salzburger nicht selbst sein Haus oder seine Wohnung während der Festspiele vermietet, der kennt einen, meist mehrere, die es tun. Und schon ein paar Minuten später sind sie zu sprechen. Aber man darf sie nicht fotografieren und schon gar nicht ihre Namen erwähnen – denn alle vermieten ihre Häuser schwarz. Und außerdem: Was wäre, wenn die Nachbarn wüssten, dass man sein Haus im August vermietet? Würden die dann glauben, man stünde vor dem finanziellen Ruin?
Einheimische Künstler wiederum brauchen nur kurz, um von ihren eigenen Werken auf die Festspiele zu kommen, weil diese so dominant sind, dass sie jede kulturelle Betätigung in der Stadt aufsaugen. Und das stimmt, spätestens seit der Zeit, als die Festspiele begonnen haben, Teile ihrer Theaterproduktionen auch auf früheren Off-Bühnen aufzuführen. Selbst die Leute von der ehemaligen Arge, einem Kultur-zentrum, das vor einem Jahr besetzt und dann von der Polizei geräumt wurde, reiben sich an den Festspielen. Die Stadt, so sagen sie, hätte nur Geld für die Festspiele und würde deshalb alle anderen Kulturinstitutionen klein halten.
Gleich neben der Arge, oder besser neben dem Schutthaufen, der früher die Arge war, liegt ein Fußballplatz, den man eigentlich gar nicht mehr als Fußballplatz bezeich-nen kann. Mehr eine Wiese mit zwei Toren, es gibt keine Werbebanden, keine Sitzplätze, und die behelfsmäßige Stehplatztribüne wurde erst im Winter von den Fans und Spielern aus Holz zusammengeklopft. Hier spielt der Fußballklub, der SV Austria Salzburg 1933 heißt, obwohl er erst vor einem Jahr von den Fans der ehemaligen Salzburger Austria gegründet wurde. Vor zwei Jahren hat Dietrich Mateschitz den alten Verein übernommen und in Red Bull Salzburg umbenannt.
Nun verfügt der Verein über ein Budget von 50 Millionen Euro, so viel wie ein Mittelklasseverein in der deutschen Bundesliga und dreimal so viel wie seine schärfsten Konkurrenten in Österreich. Die Mannschaft wird trainiert von Giovanni Trapattoni, in ihren Reihen spielen Kicker, die selbst Bundesligisten wie Hertha BSC zu teuer waren, und über allem steht der Kaiser: Franz Beckenbauer fungiert als oberster Fußballberater von Red Bull. Spätestens in zwei Jahren soll der Klub in der Champions League für Furore sorgen, ein Klub aus der oft belächelten österreichischen Bundesliga, ein Klub, der in sein Stadion gerade einmal 18000 Menschen bringt.
Der neu gegründete Verein, SV Austria Salzburg 1933, ist so etwas wie der Gegenentwurf zu Red Bull, doch selbst der kommt ohne Red Bull nicht aus. Als der Klub Anfang Juni Meister in der untersten Spielklasse, der 2. Klasse Nord A, wurde, war die Stimmung unter den fast 5000 Fans gut. Während des ganzen Spiels wurde aller-dings nur ein einziger Schlachtgesang angestimmt: »Wer nicht hüpft, der ist ein Bulle.« Ist das Salzburg?
Doris Wild sollte es wissen, erstens lebt sie schon sehr lang in dieser Stadt und zweitens muss sie darüber täglich berichten: Wild ist Society-Fotografin. Sie sitzt im »Café Fingerlos«, einen Steinwurf vom Mirabellplatz entfernt, und nein, nicht in der Altstadt. »In der Altstadt findet man nie einen Parkplatz«, hatte Wild zuvor erklärt. Dabei fährt sie mit dem Fahrrad.
Wenn sie über ihren Job erzählt, dann redet sie auch über einen Spagat: Während der Festspielzeit arbeitet sie 16 Stunden am Tag. Sie fotografiert jeden Abend die Promis auf dem roten Teppich vor einem der drei Festspielhäuser, geht anschließend auf zwei bis drei Partys und marschiert am nächsten Morgen zu den Portiers der drei größten Hotels, um sich von ihnen erzählen zu lassen, wen sie eigentlich fotografiert hat: »Es kommen immer weniger Showstars und immer mehr Wirtschaftsleute. Die kenne ich auch teilweise gar nicht mehr.«
Den Rest des Jahres aber ist es in Salzburg sehr beschaulich. Galeristen wie Thaddeus Ropac sorgen vor allem zur Festspielzeit mit ihren Partys für Furore und Marianne zu Sayn-Wittgenstein-Sayn, in Salzburg nur als »die Fürstin« bekannt, lässt sich kaum noch blicken. Statt ihrer wird die Salzburger Society von Menschen dominiert, die man bestenfalls als C-Prominente bezeichnen kann – Baumeister, Spediteure und ihre Töchter, Wirte wie der umtriebige Markus Friesacher oder Michael Aufhauser, der mit seinem Tierschutzheim Gut Aiderbichl einmal im Jahr, natürlich zur Weihnachtszeit, eine Fernsehshow hat und das restliche Jahr über völlig zu Recht aus den Schlagzeilen verschwunden ist. Aus ihnen besteht elf Monate im Jahr die Crème de la Crème der Salzburger Prominenz, und deshalb berichtet Doris Wild abseits der Festspiele über Vernissagen ziemlich unbekannter Künstler, über Eröffnungen von Sparkassenfilialen oder Spatenstiche für irgendwelche Einkaufszentren.
Um nicht ganz ungerecht zu sein: Die Stadt hat schon etwas. Ihre Lage zum Beispiel, die ist ausgesucht ideal, auf halbem Weg zwischen München und Wien, einen Steinwurf vom Salzkammergut mit seinen Seen entfernt und auch nicht weit weg von der Adria. Dieser Platz hat Salzburg reich gemacht, schon zur Zeit der Fürsterzbischöfe, die Salzburg Jahrhunderte lang regiert hatten. Die Stadt war flexibel, nach allen Seiten offen, von allen Seiten beeinflusst, das sieht man auch an der italienischen Bauweise der Altstadt. Nie wurde die Stadt industrialisiert, sie lebte immer vom Handel, und darum muss sie auch heute keine Industrieruinen und keine großen Fabrikhallen verkraften.
Wenn man Salzburg verstehen will, das richtige, offizielle und traditionelle Salzburg, dann ist es vielleicht ganz gut, sich mit Heinrich Spängler zu treffen. Spängler ist Banker, Sprecher des Vorstands der Carl Spängler Privatbank, der ältesten Privatbank Österreichs, schon seit sieben Generationen im Familienbesitz. Soll heißen: Die Spänglers sind schon lang in Salzburg, sehr lang, und die Geschichte der Familie ist eng mit der Geschichte der Stadt verwoben: Als Salzburg noch von den Fürsterzbischöfen regiert wurde, hatten die Spänglers die Herrschenden zunächst mit Waren aus Italien versorgt und später mit Geld. Und im Prinzip machen sie das heute auch noch, auch wenn sich Salzburgs Herrscher doch ein bisschen gewandelt haben. Die Spängler-Bank gehört zu den Sponsoren der Festspiele, ihr Familienoberhaupt Heinrich ist der Präsident des Vereins der »Freunde und Förderer der Salzburger Festspiele«.
Heinrich Spängler ist ein kluger, ein besonnener Mann. Wenn er von seinem Büro gleich über dem »Café Bazaar« aus dem Fenster blickt, dann sieht er über die Salzach hinüber auf die gesamte Altstadt, das Weltkulturerbe, von der Feste Hohensalzburg bis fast zum Sigmundstor. Er erzählt, dass Salzburg nicht immer so schön war, dass vor »200 Jahren auf dem Residenzplatz noch Kühe geweidet haben«. Er erzählt von der besonderen Schnittstelle zwischen Nord und Süd und zwischen West und Ost, an der Salzburg liegt, sagt, dass die Salzburger so immens stolz auf ihre Stadt seien und sich durch unglaubliches Beharrungsvermögen auszeichnen. Dass sie die Festspiele, als Max Reinhardt sie geplant hatte, eigentlich abgelehnt haben – erst, als Gerüchte auftauchten, Reinhardt wolle sie in Zürich stattfinden lassen, hätten die Salzburger zugestimmt –, das war 1920.
Und heute, sagt Spängler, wäre Salzburg ohne die Festspiele nicht mehr vorstellbar: »Nach den Krankenhäusern sind sie der größte Arbeitgeber in der Stadt.« Tatsächlich sind knapp 3000 Leute während der Festspielzeit dort beschäftigt. Für eine nichtindustrialisierte Gegend wie Salzburg ist das ziemlich viel.
Und er schwärmt, wie wichtig Red Bull für die Stadt sei, weil es Moderne und Marketing verkörpere, somit eine Art Salzburger Urtugend. Ist Red Bull für Salzburg vielleicht sogar noch wichtiger als die Festspiele? »In diesem Haus ist das keine gute Frage«, sagt Spängler.
Warum? Die Spängler-Bank ist die Hausbank von Red Bull.
Vielleicht tut es Salzburg ganz gut, dass die Winterspiele 2014 in Sotschi stattfinden. Nicht nur, weil in Umfragen die meisten Salzburger dagegen waren, das Verkehrschaos fürchteten und Angst hatten, dass noch mehr Touristen in ihre Stadt pilgern und die Kaffeehauspreise noch mehr versalzen würden. Vor allem aber wäre ihre Altsstadt irgendwann geplatzt. Ein Großereignis immerhin bleibt ihnen neben den Festspielen: Im nächsten Sommer ist Salzburg einer der Austragungsorte der Fußball-EM.