Ramatuelle an der Côte d’Azur, oberhalb von St-Tropez, Lagerfelds Sommersitz. Es ist ein heißer Tag im August, Frederique, der Butler, schwarze Hose, weißes Jackett, schwarze Krawatte, deckt den Tisch auf der Terrasse: Er serviert geschälte Krabben, dazu in Scheiben geschnittene Zucchini und Tomaten. Zu trinken: gekühltes Wasser, eiskalte Pepsi light. Lagerfeld erscheint nach wenigen Minuten, von Kopf bis Fuß in Weiß. Nur seine Krawattennadel, in Form einer kleinen Koralle, leuchtet rosa. Er erkundigt sich nach der Anreise, beginnt mit Small Talk. Er ist ein geübter Gastgeber, der seinem Gast zum Essen Wein anbietet, obwohl er selbst keinen Schluck trinken würde. Ein nachsichtiger Gastgeber: Rauchen ist erlaubt, obwohl er selbst nicht raucht. Gute Bedingungen für ein Gespräch, zu dem kurz auch das Topmodel Baptiste Giabiconi, Lagerfelds Entdeckung, stoßen wird.
SZ-Magazin: Herr Lagerfeld, wie fänden Sie es, wenn wir über das Weibliche im Mann sprechen?
Karl Lagerfeld: Amüsant. Fragen Sie! Würden Sie sich als Mann bezeichnen?
Ja, als was denn sonst? Ich bin ebenso ein Mann, wie Sie einer sind. Über sexuelle Orientierungen spreche ich nicht, aber die alte Idee von Männlichkeit ist überholt. Jeder Mann hat etwas Weibliches an und in sich.
Sie sprechen von Androgynie?
Ich würde eher das französische Wort »l’ambiguïté« verwenden.
Das bedeutet Zweideutigkeit oder auch Zwitterhaftigkeit.
Ja, aber Zwitterhaftigkeit ist ein entsetzliches Wort. Dem Weiblichen steht das Männliche nicht mehr gegenüber, beide Seiten vermischen sich. Kennen Sie die Geschichte von dem jungen Italiener, der zur Musterung einberufen wurde?
Nein.
Der junge Mann wollte sich vor dem Militärdienst drücken, kam in die Kaserne und musste seine Angaben machen. Name, Geburtstag, Geburtsort, schließlich die Frage nach seinem Geschlecht. Und der in seiner sexuellen Orientierung noch etwas unentschlossene Junge sagt: maskulin, aber nicht fanatisch! Herrlich, nicht?
Ist das ein treffender Ausdruck für Sie: maskulin, aber nicht fanatisch?
Ja, diese Idee gefällt mir.
Ihr weibliches Vorbild soll Kriemhild aus der Nibelungen-Saga sein: Kriemhild, die Rächerin.
Solange man mich nicht hintergeht, bin ich der netteste Mensch der Welt. Ich fange nie einen Streit an. Aber wenn mir einer blöd kommt, ist es beinahe ein Sport von mir, den Stuhl der betreffenden Person auch zehn Jahre später noch wegzuziehen.
Karl Lagerfeld, die männliche Intrigantin.
Mir stehen Mittel zur Verfügung, davon träumen andere nur. Der Witz einer kleinen Intrige besteht ja darin, sich nicht als derjenige preiszugeben, der den Stuhl wegzieht! Man muss die Seife nur aufs Brett schmieren. Der Rest erledigt sich von selbst.
Was empfindet ein Mann wie Sie beim Anblick eines jungen Models wie Baptiste Giabiconi?
Das ist abstrakt, ein ästhetisches Gefühl. In etwa dasselbe, wie wenn Sie sich im Museum ein Gemälde anschauen. Baptiste hat etwas Einzigartiges, frei nach Jean Cocteau, ein übernatürliches Geschlecht der Schönheit.
Sie finden, er ist makellos?
Schauen Sie ihn an!
Baptiste Giabiconi, der für eine Woche bei Lagerfeld in Ramatuelle zu Besuch ist, wird von Frederique zum Tisch auf der Terrasse begleitet. Er begrüßt Lagerfeld mit Küsschen, reicht dem Gast die Hand.
Baptiste Giabiconi: Bonjour! Ich wollte nicht stören.
Bonjour, Monsieur Giabiconi, Sie stören nicht. Im Gegenteil. Wir haben gerade über Sie gesprochen. Karl Lagerfeld hält Sie für makellos schön.
Giabiconi: Haben Sie das gesagt, Herr Lagerfeld?
Lagerfeld: Ja, ja. Bei einem Shooting in Moskau vor ein paar Wochen sagte Naomi Campbell zu Baptiste: »Das ist nicht erlaubt! Wir haben alle irgendeinen Fehler, du hast keinen
einzigen.«
Welchen Makel hat denn Naomi Campbell?
Lagerfeld: Ihre Füße. Sie mag ihre Füße nicht.
Giabiconi: Ja, ich erinnere mich. Dennoch: Ein hübsches Gesicht und ein gut gebauter Körper sind nur Leihgaben, das sollte man nicht vergessen. Man kann nur daran arbeiten, seinen Look so lange wie möglich zu behalten. Aber am Ende gewinnt immer die Natur.
Wie man auf Ihren Fotos sieht, meint die Natur es ziemlich gut mit Ihnen. Vor einem Jahr haben Sie noch in einer Fabrik in Marseille gearbeitet. Was ist das eigentlich für ein Gefühl, von Karl Lagerfeld fotografiert zu werden?
Wenn ich mit Karl Fotos mache, habe ich das merkwürdige Gefühl, Teil einer tollen Idee, einer Vision zu werden. Ich handle vor der Kamera dann instinktiv.
Wie funktioniert das Zusammenspiel zwischen Ihnen beiden?
Das Wichtigste ist: Wir verstehen uns blind. Manchmal kann ich von ihm geforderte Posen instinktiv erraten. Wir haben aber auch schon Kurzfilme gedreht, um alle Möglichkeiten einer Pose zu entwickeln.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Sind Sie schwul, Herr Giabiconi?"
Finden Sie nicht, dass Lagerfelds Bilder einen sehr weiblichen Baptiste zeigen?
Das mag so sein, ist aber keine Absicht. Karl kann eine weibliche Seite bei mir auslösen, ohne dass ich das Gefühl habe, er tue meiner Männlichkeit unrecht.
Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?
Sicher.
Sind Sie schwul?
(lacht) Nein. Wäre ich schwul, würde meine weibliche Seite auf den Fotos wahrscheinlich anders rüberkommen. Es gibt übrigens relativ wenige erfolgreiche Männermodels, die schwul sind. Denen sieht man die Weiblichkeit nämlich meist auf den ersten Blick an.
Baptiste Giabiconi verabschiedet sich, er ist in St-Tropez verabredet.
Herr Lagerfeld, in den Medien war zu lesen, Baptiste wäre Ihre neue Muse.
Das ist Quatsch. Baptiste erinnert mich an die Jünglinge der griechischen Antike, wie ein Gemälde aus der Pinakothek. Männer und Frauen haben fast Angst vor ihm, sie bekommen Komplexe, weil sie sich mit ihm vergleichen.
Haben Sie sich ein bisschen in den Jungen verliebt?
Verliebt ist das falsche Wort. Er ist mein Schützling. Ich kann mich an ihm nicht sattsehen.
Viele Menschen, die Sie gut kennen, sagen, er hätte auch äußerlich eine große Ähnlichkeit mit dem jungen Karl Lagerfeld.
Na ja, ich weiß nicht, ob ich so niedlich war. Ich müsste Bilder aus der Zeit von mir suchen. Aber seine Persönlichkeit ähnelt meiner. Der einzige Unterschied: Ich hätte mich nie nackt fotografieren lassen. Doch Baptiste geniert sich nicht. Das ist ihm gleichgültig. »Wieso?«, fragt er, »jeder weiß doch, wie ein Junge gebaut ist.« Viele Leute haben ja etwas dagegen, nackte Männer zu sehen. Das finden die politisch unkorrekt.
Nehmen wir an, Sie würden eine Biografie schreiben. Wie würden Sie den Abschnitt betiteln, von dem Moment, in dem Sie Baptiste entdeckten, bis heute?
Diese Frage habe ich mir noch nicht gestellt. Aber Baptiste kommt mir manchmal fast vor wie mein Adoptivsohn. Wie ein Erbe. Ich muss meine Erfahrungen ja auch einmal weitergeben. Warum nicht an ihn?
Das dürfen Sie anderen Models aber nicht erzählen.
Um Gottes willen, nein! Die würden sich wahrscheinlich umbringen, wenn sie das wüssten.
Wäre Baptiste als Erbe denn fähig, all das aufzunehmen, was Sie ihm mitgeben könnten?
Eher als jeder andere. Sie haben ihn ja eben erlebt: Er ist ein sehr aufgeweckter, intelligenter junger Mann.
Der perfekte Sohn.
Ja. Nur: Ich habe ja nie Kinder gewollt.
Haben Sie es nie vermisst, eine Familie zu gründen?
Nein, nein. Wäre ich eine Frau, hätte ich schon Kinder haben wollen. Aber was ich nicht kenne, kann mir nicht fehlen.
Herr Lagerfeld, wenn Baptiste für Sie eine Art Erbe ist, was passiert eigentlich mit Chanel, wenn Sie nicht mehr sind?
Ich will natürlich nicht, dass diese tolle Firma vor die Hunde geht. Die Besitzer, die Familie Wertheimer, waren immer sehr nett zu mir, sie sagen: Wenn Sie Chanel nicht mehr wollen, Herr Lagerfeld, dann verkaufen wir. Das ist das größte Kompliment! Und ans Danach denke ich nicht, ich halte mich sowieso für unsterblich.
Während des Gesprächs mit Alexandros Stefanidis in St-Tropez nahm Karl Lagerfeld sogar zweimal seine Brille ab: einmal, als er aus einer silbernen Schatulle bunte Vitaminpillen pulte, und ein anderes Mal, als er von seiner älteren Schwester sprach, die mit ihrer Familie in Mittelamerika wohnt. "Die sind sehr fromm, rennen dauernd in die Kirche. Nichts für mich."
Karl Lagerfeld (Fotos)