Die All-Wissenden

Vor 37 Jahren schoss die NASA die Sonden Voyager 1 und 2 ins All. Sie fliegen immer noch. Und in Kalifornien schauen ihnen ein paar alte Spezialisten eisern hinterher: Sie sind die Letzten, die sie noch steuern können. Besuch bei einer sehr besonderen Rentner-Gang.

Die Bodenstation, von der die Menschheit ihren ersten erfolgreichen Vorstoß in den interstellaren Weltraum befehligt hat, steht zwischen einer Hundeschule und einem McDonalds (*1). Fünf Uhr früh. Dienstbeginn. Draußen ist es noch dunkel, als Enrique Medina den Flachbau an einer Ausfallstraße von Los Angeles aufsperrt und in die Zentrale der längsten Reise der Raumfahrt tritt: acht Bildschirme, zwei Drehstühle, eine Wanduhr, gleich beim Kopiergerät. Einsatztag 13 325 hat begonnen.

Medina, ein knorriger Mann, klinkt sich in den Sprechverkehr, kurzes Knarzen, Stimmen. »Goldstone«, flüstert er. Dort, mitten in der Mojave-Wüste, stehen die Satellitenschüsseln, die über das Sonnensystem wachen. Medina meldet sich, Mission, Rufzeichen (*2), Name, dabei braucht er keine Kennung mehr. Sobald seine Stimme aus den Lautsprechern dringt, wissen sie in der Wüste: Enrique ist dran, der dienstälteste Raumlotse unserer dienstältesten Raumsonden.

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Auf einer Feuersäule stieg Voyager 2 in den Himmel, schoss mit 40 000 Stundenkilometern aus der Atmosphäre, erreichte Fluchtgeschwindigkeit und war frei von der Erde: Es war der 20. August 1977 – Einsatztag 1.

Medina steuert die Sonden seit 29 Jahren. Er ist 65, das ist Durchschnitt nach den Maßstäben der Mannschaft. Der Leitende Wissenschaftler ist 78. Der Programmierer 77. Der Leitende Ingenieur lacht nur, wenn man sein Alter wissen will.

Die Sonden fliegen seit 37 Jahren. Sie sind 32 Jahre über ihrer garantierten Laufzeit. Ihnen geht langsam die Energie aus, alle halbe Milliarde Kilometer bockt ein Bauteil, oder der Bordcomputer spinnt, die Ausleger der Sensoren sind steif und die Kameras blind.

Ihre Mannschaft ist aber zuversichtlich. Die Sonden machen es noch zehn Jahre, sagen sie, mindestens. Die Gutachter der NASA, die alle Missionen auf Gefahren abklopfen, wagen die daraus folgende Frage kaum auszusprechen: Wer gibt zuerst den Geist auf, Mensch oder Maschine?

An der Spitze einer Rakete des Typs Titan hob Voyager 1 ab, ließ die Erde links liegen und jagte ihrer Schwestersonde hinterher: eine mehr als 175 Millionen Dollar teure Maschine mit Parabolantenne, Radioisotopen-Batterie, semiautonomer Steuerung und beheizbaren Bordsystemen, einem Tank voll Hydrazin, acht redundanten Schubdüsen, Sonnensensor und einer goldenen Schallplatte, die in 55 Sprachen grüßte und Johnny B. Goode (*3) spielte – Einsatztag 16.

Zigarette. Zigarette wäre gut jetzt. Geht aber nicht. Sie dürfen schon seit Saturn nicht mehr in der Zentrale rauchen. Seit Uranus nicht mehr in ihren Büros. Medina muss immer hinters Haus auf den Parkplatz. Aber nicht jetzt. Er ist allein in der Zentrale. Vor seinen Augen schimmern die Bildschirme; dahinter gähnen im Dunkel, von grauen Stellwänden abgetrennt, die Büros der anderen. Sind nicht viele. An der Decke alte Schilder, die einst auf ganze Abteilungen hinwiesen, aber das ist vorbei. Sie sind nur noch zu zwölft. Die Schilder nahmen sie mit, als man sie aus dem Hauptgelände des Jet Propulsion Laboratory (*4) auslagerte; erst in eine Einkaufsstraße, dann in diesen Flachbau. Medina wartet. Die Wanduhr tickt. Die Wanduhr zeigt Weltzeit, danach richtet sich die Raumfahrt. Dann ist es soweit. Manöver-Einweisung.

»DSS-14«, sagt Medina und ruft damit die Wüste, »Minimumpeilung deaktivieren Dreizehn-fünfzig, kommen.« Es ist seltsam: Gerade eben saß da noch ein grauhaariger Herr im Rentenalter in der Zentrale – aber jetzt ist da diese Stimme, »… Rolle 70 Grad negativ … Sichtlinie Erde … AAI und Lage halten …«, so heiser und rau, sie könnte einem Kinohelden gehören, »… Observation auf Alphateilchen …Rolle 290 Grad negativ …«, und wer schnürt da wie ein Fuchs auf und ab, am Handgelenk eine Goldkette wie ein Gangster, um den Hals einen Schal wie ein Tänzer?
Medina.
»… und Rückkehr Marschflug, verstanden?«

Sie waren schon auf dem Weg zum Jupiter, da drehte Voyager 1 zum Abschied den Arm seiner Kamera zurück und schoss aus einer Entfernung von fast zwölf Millionen Kilometern das erste Selbstporträt der Erde mit ihrem Mond – eine schmale blaue Sichel in der Finsternis, hinter der ein kleiner Halbmond kauerte: Einsatztag 28.

Als die Sonne aufgegangen ist, treffen die anderen ein, Medina blickt kaum auf, wenn er grüßt. Sie erkennen einander auch so. Wenn es klimpert, ist es Tom Weeks, Lagekontrolle, der einst nach L. A. kam, um Rockstar (*5) zu werden; er trägt seine Schlüssel in einem dicken Bund und sein Haar als stolzer Heavy-Metal-Gitarrist noch immer in einer dichten Matte. Die leise Stimme, das ist Larry Zottarelli, der Programmierer; seine Hörgeräte täuschen, keiner kann die Maschinen besser verstehen. Da, Regina Wong, Instrumentendaten, hat damals noch selbst Hand angelegt an die Sonden, hier, Sun Matsumoto, Risikokontrolle, sie hat sie aus Legosteinen im Büro stehen. Und Suzy und Jeff und Glenda und Roger und, unverkennbar an seinem Schritt: Steve Howard, Bodensysteme.

Sie nennen ihn den »Space Cowboy«.

Nein, das hat nichts mit diesem dummen Song (*6) der Steve Miller Band zu tun. Das hat mit den Eagles und ihrem Lied über einen einsamen Reiter zu tun, Desperado. Howard, der in Cowboyhut und Stiefeln zum Dienst kommt, liebt dieses Lied. Er findet, die Arbeit auf der Ranch, die darin besungen wird, gleiche der Arbeit an den Sonden im All: ganz allein ganz weit draußen und dauernd was zu flicken am Zaun.

Jetzt erreichten sie Jupiter und schossen im Schwung um den Planeten an seinen Monden vorbei, da war Io, da war Ganymed, da waren Europa und Kallisto und schon schleuderte sie Jupiter mit seiner Schwerkraft wieder in den Weltraum – ein großes Geschenk, denn erst jetzt, nach Jupiter, hatten sie die Geschwindigkeit, um das Sonnensystem hinter sich lassen zu können. Voyager 1 erreichte sie als Erstes und setzte Kurs auf Saturn: Einsatztag 587.

»Und jetzt noch diese Jungs da, und wir sind sauber in der Telemetrie.«

Medina fliegt heute ein Manöver mit der 31. So nennen sie die Sonden: nicht mit ihren Namen, Voyager, nicht mit ihren Rufzeichen, VGR1 oder VGR2, sondern schlicht:
Die 31. Die 32. (*7)

Medina blättert durch ein Bündel Papiere, der Flugplan: Zeiten, Befehle, Codes. Gibt es in der Raumfahrt im Grunde nur noch digital, als Datei, auf dem Schirm. Aber Roger Ludwig – der Funker –, der sie abfasst, druckt sie eisern auf Papier. Sind die Sequenzen schöner sichtbar. Medina schlägt eine Seite auf, und da sind sie, Kaskaden von Kommandos, wie ein Kunstwerk:

043/13:57:09 AC9KXU 202 090 090 375 191
043/14:00:09 AI9TTD 202 270 090 465 191
043/14:07:41 AC9KUX 202 290 090 375 191
#24794 CCSL A090 El 1 091701
El 2 091878
El 3 091902
El 4 092011
El 5 092212

»Wunderbar, oder?«, sagt Medina.
Aber dann ist sofort der bullige Typ da, ohne den die NASA niemand von außen in die Zentrale lässt – Alles vertraulich! Aufschreiben verboten! – und deswegen sind diese Statusworte andere als in echt, sonst bekommt Medina Ärger mit den Schlipsen.

»Vertraulich, aha«, sagt Medina. »Was soll passieren – dass jemand die Sonden nachbaut? Das ist alles Zeug aus den Siebzigern! Die Elektronik gibt es gar nicht mehr!« Sie müssen ihre Rechner in der Zentrale inzwischen kennzeichnen, damit die Putzkolonne nicht aus Versehen was aussteckt, so alt sehen die Teile aus. Dabei sind die schon aus der Neuzeit: Ultra-2-Maschinen, die Howard geflickt hat, fast 20 Jahre alt.
»Es gibt eben Regeln«, sagt Medina entschuldigend, als der bullige Typ außer Hörweite ist.
Regeln? Für 31 und 32?
Warum 31 schon so lange da draußen überlebt, in der Tiefe des Alls, wo es so dunkel ist, dass die Sensoren die Sonne im Schwarz suchen müssen, wo es so kalt (*8) ist, dass die Temperaturfühler nichts mehr messen können, wo alles, was nicht dreifach mit Teflon, Mylar und Kapton zugedeckt ist, erstarrt und nur noch der Wind von verloschenen Sternen die Ausleger entlangstreift – warum 31 das überlebt?
Weil die Mannschaft Regeln von Anfang an beugte.

Saturn. Seine Ringe. Sind nicht Hunderte, sind Tausende, sie sahen es, 31 zuerst, dann 32, als sie um den Planeten schnellten, noch Fotos machten – und fertig: Mission Voyager offiziell abgeschlossen, Einsatztag 1030. So hatte die strikte Order der Entscheidungsebene gelautet: Sonden so auslegen, dass sie es bis Saturn schaffen, alles andere abwegig. Im Ursprung war die Idee, die Sonden von Planet zu Planet schwingen zu lassen, einen seltenen Lauf der Himmelskörper ausnutzend, der alle 176 Jahre auftrat. Die Vorgesetzten urteilten: Wolkenkuckucksheim.

Brav baute man daher wie befohlen: die Antennen sicherheitshalber ein bisschen stärker, die Sensoren ein klein wenig feiner und die Schaltkreise, kann nie schaden, robuster (*9)… und siehe, die Sonden durften, nach Saturn noch so gut in Schuss, mit neuem Auftrag weiter – 31 ab in die Tiefe des Alls, 32 noch auf einen Schwung zu Uranus und Neptun: Einsatztag 1031.

Selbstverständlich sind diese wilden Zeiten vorbei. Sicher, sie retten noch Rechner aus dem Trödel alter Raummissionen, Steve schreckt Schlipse damit, sein Ahne sei Jesse James (*10), Larry motzt außer Sonden auch Sportwagen (*11) auf und Tom hat sein Büro in eine vollgestopfte Höhle verwandelt, in der jeder freie Fleck mit Figuren aus Krieg der Sterne (*12) besetzt ist – aber davon abgesehen sind sie an der Seite der Sonden alt geworden.

Diese jäh auflodernde Begeisterung aber, wie Kinder sie kennen, die haben sie nach wie vor. Schon die Signale der Sonden dort auf dem Schirm zu haben, was für ein Wunder! Immerhin sendet 31 mit der Leistung eines Kühlschranklämpchens! Und das so weit von der Erde entfernt, dass Signale – mit Lichtgeschwindigkeit! – 17 Stunden 37 Minuten 27 Sekunden unterwegs sind, bis sie seinen Bildschirm da erreichen!
Macht Manöver knifflig. Sie steuern die Sonden wie mit einer Fernbedienung, die allerdings nur zeitversetzt funktioniert: Die Aktionen, die Medina gerade ablaufen sieht, hat die Sonde bereits ausgeführt, vor mehr als 17 Stunden, aufgrund von Befehlen, die Medina vor mehr als 35 Stunden gegeben hat, vorgestern also. »Gewöhnt man sich dran«, sagt er.

Vor seinen Augen ziehen die Werte der Bordsysteme vorbei, unzählige Reihen von Zahlen, blau hinterlegt. Blau ist die Farbe von 31. Werte von 32 stehen auf grünem Hintergrund. »So, jetzt feuern wir die Schubdüsen«, sagt Medina und zeigt in das Dickicht der Zahlen. War da was? Medina nickt. »Ist Schub in die entgegengesetze Richtung, damit wir uns nicht weiterdrehen.« Nichts zu sehen. Nur Zahlen, Zahlen, Zahlen. »Und jetzt noch diese Jungs da, und wir sind sauber in der Telemetrie.« Irgendwo im Wirrwarr springen drei Ziffern auf einen neuen Wert. »Na bitte«, sagt Medina. » 933 (*13). Kannst da in der Bedienungsanleitung nachschlagen, was das heißt.« Er deutet auf zwei Regalmeter vergilbter Kladden. »Oder du weißt es einfach.« Dann flüstert er leise, damit es der bullige Typ nicht hört: »Kreiselstabilisatoren sind aus.«

Uranus. 32 erreichte ihn allein, näherte sich auf knapp 80 000 Kilometer und entdeckte erst einen, dann noch zwei und schließlich elf neue Monde. Es waren acht Jahre vergangen, eine Reise, länger als jene von Kolumbus, von Magellan, Cook oder Darwin, und 32 war noch nicht am Ende, Einsatztag 2635 – neuer Kurs: Neptun.

Sie schätzen ihre Daten roh, nackte Zahlen, sonst nichts. Als Larry vor einem Jahr die Speicher der Sonden frisierte, tauchte er in Ebenen, die kein anderer Programmierer der NASA mehr kennt: Die Speicher sind 8-Spur-Bandrekorder, die Daten auf ein 328 Meter langes Magnetband schreiben, da kommt man nur mit Maschinensprache weiter. Auf dieser Ebene bewegen sie sich so sicher wie keiner sonst. Einmal lösten die Antennen in der Wüste Alarm aus – 32 war weg. Kein Signal mehr. Der Aufruhr war groß auf dem Hauptgelände. 32 sendet nicht mehr! Totalverlust! Da klemmte sich der Space Cowboy in den Sprechverkehr und fragte, ob die Wüste Stille empfangen hatte – oder vielleicht doch irgendetwas, vermutlich irregulär?

In der Tat, da war was: Datenstränge, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Die Wüste vermutete ein letztes Aufbäumen der Systeme, um ein Lebenszeichen abzusetzen. Sie ließen sie in dem Glauben und luden die Rohdaten auf ihre alten Rechner. Sie treten in solchen Fällen vollzählig an, Konferenz in Raum 100, einem braun getäfelten Kabuff. Die Daten sahen schlimm aus. Sie ließen ihre Rechner die entstellten Datenstränge ablaufen, die endlosen Reihen aus Einsen und Nullen entlang, und dann, irgendwo in diesem Strom, stießen sie auf etwas. Im Speicher des Flugleitrechners, der Signale zur Erde an die Antenne leitet, war in einem einzigen Befehlswort an einer einzigen Stelle ein einzelnes Bit versprungen, vom Wert 0 auf den Wert 1.
32 hatte Schluckauf.
War ruck, zuck behoben.

Neptun. Hurrikane fegten seinen Äquator entlang, so schwer und gewaltig, dass 32 die Augen der Wirbelstürme aus dem All sah, als sie an ihm vorbeiflog. Dann schwenkte auch 32 aus der weiten Bahn, auf der alle Planeten um die Sonne laufen, und folgte ihrer Schwestersonde in die Tiefe des Weltalls, Richtung interstellarer Raum: Einsatztag 3949.

Manchmal, wenn sie nachts ein Alarm der Systeme weckt, ist da die Angst: Ist es nun soweit? Stirbt eine der beiden?

Wenn, sie würden mit Stolz Abschied nehmen. Sie haben Vulkane auf Io gesehen. Blitze in den Himmeln des Jupiter. Die gefrorenen Ozeane auf Europa. Den vernarbten Krater von Valhalla auf Kallisto. Die Geysire von Triton, die Stickstoff speien, der als Schnee niedergeht. Kein Grund zur Klage.

Aber bisher reichte im Alarmfall auch meist ein Blick auf die Monitore, um festzustellen: Werte sind schlecht, aber keine Panik. Dennoch wissen sie, es geht zur Ende. 32 versteht sie nur noch auf dem Reserve-Empfänger, 31 fliegt mit dem Ersatz-Bordcomputer. Die Diagramme, die den Zustand der Bordsysteme zeigen, sehen aus wie Krankenakten: HYBIC-2, verminderte Leistung, CST-1, verliert Sensitivität, TCAPU-1, degeneriert, dann ausgefallen. Aber sie fliegen noch. »Sind zähe Dinger, alle beide«, sagt Medina.

Um auf den Tag des Todes vorbereitet zu sein, haben sie jedes denkbare Szenario (*14) durchdacht und Erste-Hilfe-Programme auf den Bordcomputer geladen: für den Fall, dass Bordsysteme keine Kommandos mehr empfangen, für den Fall, dass die Energieversorgung einbricht oder die Antennen ausfallen oder die Flugleitrechner oder der Hauptcomputer – auf Seite der Maschinen ist alles abgesichert.
Und auf ihrer Seite?
Schweigen.

»In der Arbeit sterben würde mir gefallen. Einfach tot umfallen, gleich hier.«

Sie haben ein Alter erreicht, in dem der Partner oder sie selbst oder beide das entwickeln, was nur junge Menschen Altersbeschwerden nennen. Sprechen sie nicht drüber. Schon gar nicht mit jemandem von außen.

Nur Larry sitzt in seinem Büro und sagt: »Die kurze Zeit, die ich noch zu leben habe? Darüber denk ich nach, ja.« Reisen wäre schön. Wollte er immer, Paris, Rom, Alia, das ist das Dorf in Sizilien, aus dem seine Ahnen stammen. Hat nie geklappt. Jetzt geht es nicht mehr. Die Ärzte sind dagegen. Nicht lange her, da waren sie in großer Sorge und schoben ihn im Krankenhaus in diese Maschine, ein gewaltiges Gerät mit Personal den ganzen Gang runter – und: nichts. Konnten den Grund der Schmerzen nicht finden. Ist er dann wieder an die Arbeit (*15).

»Ich mag den Gedanken, dass wir hier was Sinnvolles machen«, sagt er. »Früher haben Ingenieure zwei, drei Jahre bei einer Firma gearbeitet, und wenn du gescheit und ehrgeizig warst, bist du danach zu einer anderen.«
»Ich bin nicht gescheit. Ich bin nicht ehrgeizig.«
»Ich bin jetzt 55 Jahre dabei«, sagt er und dann lange nichts. »In der Arbeit sterben würde mir gefallen. Einfach tot umfallen, gleich hier.«

Am Ende von Einsatztag 4083 drehte 31 noch einmal den Arm der Kamera zurück, um ein letztes Bild von der Heimat der Menschheit zu schießen. Auf der Collage aus 60 Aufnahmen, die jeweils 640 000 Bildpunkte umfassten, fand man die Erde einen Fingerbreit neben der Sonne, ein winziger blauer Fleck, der nicht einmal einen einzigen der Bildpunkte ausfüllte und sechsfach vergrößert werden musste, um überhaupt sichtbar zu sein.

Von einem Abschied Larrys wollen sie nichts wissen. »Wir werden ihn nie in Rente gehen lassen«, sagt Tom Weeks. »Keinem hier ist gestattet, in Ruhestand zu gehen, solange die Sonden nicht im Ruhestand sind«, sagt Enrique Medina.

Sie haben diese Soldatentreue entwickelt, seit sie abseits aller Planeten segeln. Ihre letzte, die interstellare Mission, war eine gewagte Wette der Wissenschaft: Vielleicht würde es wenigstens eine Sonde schaffen, die Gefilde des Sonnenwindes zu verlassen, ein ständiger Strom aus Plasma, den die Sonne weit ins Weltall weht, wo er – am Rande des Raums zwischen den Sternen – noch eine Bugwelle aufwirft, ausläuft und verebbt.

Glaubte kaum einer dran, dass so alte Sonden das schaffen könnten. Es gab längst neue Missionen, es gab längst modernere Sonden, und eines Tages schmiss man sie vom Hauptgelände, wegen irgendwelcher Mars-Autos, die ein paar Wunderkinder planten. Ab dann waren sie die alten Maschinisten aus dem Industriegebiet. Alle zwei Jahre ab zur Entscheidungsebene, um Geld betteln. Alle zwei Jahre die Ansage, wie wertvoll die Arbeit, aber wieder weniger Etat. Wer konnte, floh. Wer blieb, wurde Familie. Zum 30. Geburtstag der Voyager gab es einen Empfang auf dem Hauptgelände, Lieutenant Uhura von Raumschiff Enterprise (*16) kam und überreichte Regina und Larry, die beide von Beginn dabei sind, eine Urkunde, mit Rahmen.

Doch dann schlüpfte 31 – dort oben, vor der schimmernden Kulisse der Sterne des Schlangenträgers, fast 19 Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt – durch das letzte Kräuseln des Sonnenwindes und erreichte, als erstes Objekt von Menschenhand, die unendliche Weite des Weltraums: Einsatztag 12 789.

Sie sind seitdem Sternenreisende. Und wenn sie noch einen Beweis dafür gebraucht hätten, dass 31 und 32 große Sachen alleine machen, jetzt hatten sie ihn: Sie sind nach Tarif 9-80 der Raumfahrtbehörde besoldete Sternenreisende, und Einsatztag 12 789, das war der 25. August 2012.
Ein Samstag.
Samstags hat die Mannschaft frei.
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*1 Nicht zu empfehlen. Die Mannschaft isst gerne in einem Hot-Dog-Grill, in dem es »Holy Aioli«-Burger für 6,99 Dollar gibt.
*2 Traditionell lautet das Rufzeichen des Chefs aller Raumlotsen in der Missionszentrale »ACE«. Haben sie beibehalten, obwohl der ACE seit Jahrzehnten allein ist.
*3 Und aus Bayern: die Arie der Königin der Nacht (gespielt von der Bayerischen Staatsoper unter Wolfgang Sawallisch).
*4 Ein weitläufiges Areal hinter L. A., an dessen Eingang steht: »Welcome to OUR universe«.
*5 Auf youtube.com den Bandnamen »Push« und das Lied »Ballerina + Tom Weeks« eingeben - Tom ist der Mann neben dem Sänger ohne Hemd, der die haut-enge Elastanhose trägt.
*6 »Some people call me the space cowboy …« The Joker

*7 Klingt aus ihrem Mund liebevoller, als es sich liest.
*8 Die Mannschaft schätzt: 20 Grad Kelvin, das sind minus 253 Grad Celsius.
*9 und befestigte am Schluss, als die Welt auf eine goldene Schallplatte achtete, im Inneren der Sonden sechs Alu-Plaketten, auf denen die Namen aller standen, die damals dazugehörten: 5400 Menschen.
*10 Jesse James tauchte unter dem Namen Thomas Howard in Tennessee unter und zeugte vier Kinder - von dort stammt Steve Howards Familie und er schwört, dass sein Großvater …
*11 Er hat einen schneeweißen 1955er Swallow Doretti - von der legendären Baureihe existieren weniger als 290 Stück.
*12 Und mit Superman. Und Batman. Die Sicherheitsleute standen vor dem Herzinfarkt. Seitdem weiß die Mannschaft: Sobald Weeks mit Pritschenwagen in die Arbeit kommt, steht eine Sicherheitsbegehung an. Diese findet dann eine vorbildlich aufgeräumte Arbeitsstätte vor. Danach räumen sie den ganzen Plunder vom Parkplatz wieder rein.
*13 Nein. Nicht das wahre Statuswort. Und selbst wenn Sie alle Statusworte wüssten - Sie brauchen mindestens eine Antenne mit 70 Metern Durchmesser, sonst hören Sie 31 nicht.
*14 Sun Matsumoto ist seit Jahrzehnten darauf geeicht, in Schreckensszenarien zu denken - das greift ins Privatleben über: Aufpassen beim Abspülen, sonst spritzt Wasser ins heiße Fett, Stichflamme, Feueralarm, Sprinkleranlage und am Ende steht die Küche in Flammen und das Haus unter Wasser. Macht ihren Mann wahnsinnig.

*15 Arbeit? Glücklich, wer so wie die Mannschaft über seine Arbeit sprechen kann: Sogar die schlechten Zeiten, sagen sie, waren gut hier.
*16 Raumschiff Enterprise hatte Voyager 1979 zu Kinohelden gemacht: In Star Trek: Der Film erreicht eine Energie-Wolke die Erde, in der sich eine Maschine verbirgt, V’Ger. Stellt sich raus, dass es Sonde 6 der Voyager-Baureihe ist.

Fotos: Noah Rabinowitz