Rote Karte. Als Daniele De Rossi im WM-Gruppenspiel gegen die USA dem Amerikaner Brian McBride den Ellbogen so hart ins Gesicht knallte, dass dieser blutend zu Boden ging, haben wir uns mal wieder über die Italiener gewundert. Eigentlich waren italienische Fußballer doch die Könige der Schwalbe. Niemand flog herrlicher in den Strafraum, auch wenn kein gegnerischer Fuß in unmittelbarer Nähe war. Niemand litt grandioser an einem Tritt in die Wade. Doch Brutalität war nie ihr Ding. Was ist los mit den Italienern? Und wo ist ihr Charme geblieben?
La vacanza = der Urlaub
Bei unserem letzten Besuch war Italien wie immer, nur unverschämt viel teurer. Und schlechter gelaunt als in der Erinnerung. Warum? »Unser Land ist wie eine Geliebte«, sagen Italiener. »Sie wird heftig begehrt, aber niemand will sie heiraten.« Auch das Begehren der Deutschen, neben den Engländern jahrzehntelang Italiens hingebungsvollste Verehrer, ist deutlich weniger geworden. In nur vier Jahren schrumpfte die Zahl deutscher Touristen um 16 Prozent, die ihrer Ausgaben in Italien um mehr als zwanzig Prozent. Das sind 1,4 Milliarden Euro, die in reizvollere Ferienländer flossen. Im jährlich erscheinenden Mercer-Bericht über Städte mit hoher Lebensqualität findet sich unter den Top 50 nur eine italienische Stadt: Mailand. Auf Platz 50. Dabei haben die Deutschen einst so gern ihr Geld für das Dolce Vita ausgegeben. Und heute?
Der Kellner im »Da Giulio« im Ferienort Sperlonga hat einen durchaus bemerkenswerten Gang. Und dass er das Tablett mit unseren Cappuccini erst einmal bei der jungen Schönen drei Tische weiter abstellt, um eine Runde mit ihr zu flirten, hätte uns vor ein paar Jahren nichts als entzückt. Aber nun verlangt er für die beiden lauwarmen Milchkaffees satte acht Euro und von unserem fragenden Deuten auf den zusammengefallenen Milchschaum will er nichts wissen. Kurz zuvor bat die Marktfrau mit dem erfreulichen Ausschnitt um zwei Euro fünfzig für drei Tomaten und packte sie resolut wieder aus der Tüte, als sie unseren Fünfzig-Euro-Schein sah. »Scusi, kein Kleingeld.« Dabei waren wir zu dem Schein erst an Geldautomat Nummer vier im Ort gekommen. An den ersten drei lernten wir den Satz »Fuori servizio, causa problemi tecnici« – »Außer Betrieb wegen technischer Probleme«.
Il problema = das Problem
Der Euro und Berlusconis katastrophale Wirtschaftspolitik haben die meisten Italiener ärmer gemacht. Und Italiener hängen am Geld. Dass sie Romantiker sind, war ein Märchen. Ihr Talent und ihr Spaß daran, Romantik und Vitalität darzustellen und so die Umgebung zu unterhalten, waren unschlagbar. Sie pfiffen den blonden Frauen nach, sangen aus Backstuben und Schreinereien und balgten sich in den Trattorien lauthals um die Rechnung. Was Menschen aus zurückhaltenderen Nationen für schiere Lebensfreude hielten, waren allerdings eher Rituale als froher Mut. Eine Untersuchung der italienischen Ärzte-Gesellschaft ermittelte vor drei Jahren, dass von den 58 Millionen Italienern zwölf Millionen unter Ängsten und Depressionen leiden.
Seither ist das Wirtschaftswachstum auf null Prozent gesunken, Italien zum höchstverschuldeten Staat der EU und die Hoffnung auf bessere Zeiten mit jedem Jahr kleiner geworden. In Italien liegt die Jugendarbeitslosigkeit nun bei 23,6 Prozent. In den Trattorien, auf den Piazze und an den Stränden, den einstigen Paradeplätzen ausgelassener italienischer Selbstdarstellung, nimmt der Besucher zunehmend wahr, was er nie mit Italien in Verbindung brachte und nie bringen wollte: Verdrossenheit.
Sgusciare tra le maglie della legge = durch die Maschen des Gesetzes schlüpfen
»Quittung?«, fragen Ladenbesitzer beim Kauf von Kühlschrank, Vespa oder Lederjacke jeden Kunden, dessen Gesicht ihnen vertraut ist. Natürlich will niemand eine Quittung. Denn wer nichts Registriertes verlangt, zahlt keine Mehrwertsteuer, der Verkäufer kassiert schwarz. Kleiner, alltäglicher Staatsbetrug. In vielen italienischen Köpfen ist das ein Synonym für Gerechtigkeit.
Das Wort Staat wird in Italien mit derselben Miene ausgesprochen, mit der wir »Furunkel« sagen. Staat bedeutet Abzocker, Erschwerer, Verhinderer. Also muss man schlauer sein als der Staat. »Niemand hier hält sich an die Regeln, das ist das Problem«, seufzt Immobilienhändler Vito Collina und parkt seinen alten Mercedes im Halteverbot bei der Spanischen Treppe. Sein Handschuhfach ist voll gestopft mit Strafzetteln. Das Auto läuft auf den Namen seiner Tante in Viterbo. Die Tante ist seit acht Jahren tot.
Collina erklärt voller Stolz, wie das Sys-tem funktioniert. Der römische Polizist findet heraus, dass der Wagen in Viterbo gemeldet ist, schickt die Daten den dortigen Kollegen. Nach drei Monaten wird das Minidossier unbearbeitet wieder nach Rom gesandt und dort archiviert. Kein Beamter macht sich die Mühe, wegen Strafzetteln beim Einwohnermeldeamt oder bei der Versicherung nachzufragen. Der Trick sei, sagt Vito Collina, die Versicherungsprämien für die tote Tante pünktlich zu zahlen. Er zieht mit dem rechten Zeigefinger den unteren Lidrand des rechten Auges leicht herunter. Ein Zeichen für furbizia, Ausgefuchstheit. Angesichts der Armut im Lande erscheint sie allerdings bloß noch wie egoistische Schlaumeierei.
L’arte di arrangiarsi = die Kunst, sich zu arrangieren
Als die Prozesswelle gegen korrupte Politiker und Parteien Anfang der neunziger Jahre ans Licht brachte, dass vom kleinen Gemeinderat bis zum Premier alle die hohle Hand gemacht hatten, erfuhren die Italiener nichts Neues. Sie hatten Politiker nie anders kennen gelernt. Mit Ungläubigkeit und dann mit Begeisterung sahen sie zu, wie die Richter Ernst machten. Italiens Parteien kippten wie Dominosteine.
Als die Staatsanwälte um Antonio Di Pietro auch normalen Bürgern Fragen nach ihren Finanzen und Steuerrechnungen zu stellen begannen, schlug die Begeisterung in Angst um. Denn Tangentopoli, der politische Schmiergeldskandal, unterschied sich von ihrem Alltag meist nur durch die Höhe der Beträge. Ansonsten war es die gleiche Geschichte, die auch der Friseur in Rom erzählt. Selbstverständlich schneidet er den Quartier-polizisten die Haare gratis. So wie ihnen der Metzger gegenüber das Filet für den Preis einer Wurst verkauft. Dafür parken beide straffrei direkt vor ihren Läden.
Das halbe Leben ist so organisiert: ein Netzwerk mit klaren Verabredungen, mit dem sie sich gegen Bürokratie und Gesetze verteidigen. Niemand nennt es Bestechung, weil es niemand als Bestechung empfindet. Jeder Italiener hat sein Netz, mehr oder weniger feinmaschig, das über das übliche Maß an Kungelei in anderen Ländern weit hinausgeht.
Selbst Untersuchungsrichter sind dagegen machtlos, wie das Beispiel des inzwischen zurückgetretenen Sportchefs von Juventus Turin zeigt. Luciano Moggi, mutmaßlicher Drahtzieher der kurz vor der WM aufgedeckten Fußball-Korruptionsaffäre, antwortet auf die Fragen der Staatsanwälte mit einem Achselzucken: Was habe er schon getan, außer persönliche Beziehungen zu Schiedsrichtern gelegentlich zu nutzen? Hatte nicht der ehemalige Justizminister Roberto Castelli bei den Prozessen gegen seinen Chef und Ministerpräsidenten Berlusconi ebenfalls unliebsame Richter durch wohlwollende ersetzt, um das Schlussresultat zu gewährleisten? Berlusconi selbst hat in so großem Stil bestochen und betrogen, dass es auch bei treuesten Italien-Fans nicht mehr als charmante Gaunerei durchging. In Deutschland oder den USA wäre ihm schon der erste Skandal zum Verhängnis geworden. Die Italiener hätten ihn Anfang April fast wiedergewählt. Ein weiteres Zeichen für ihr paradoxes Verhalten, das im Einzelfall hinreißend komisch sein kann, im Fall Berlusconi aber kaum nachvollziehbar ist.
La cultura = die Kultur
Italien lebt von der Vergangenheit, und das nicht gut. Pompeji, Kaiserforen, Renaissancekuppeln, Barockbrunnen, Sixtina, San Marco: In keinem Land ist mehr Weltkulturerbe auf engerem Platz zu finden. Dante, Da Vinci, Galilei und Michelangelo waren Giganten, die jeder verehrt. Aber sie sind alle schon sehr lange tot.
Als wir einem Bekannten in Rom von Frank Gehrys Opernbau in Los Angeles erzählten, fragte er mit unverhohlenem Desinteresse: »Besser als das Kolosseum?« Wir waren so platt, dass wir weitere Römer um ihre Meinung zu Gehrys Oper baten. Alle fragten ungläubig, ob sie besser sei als ihr Kolosseum. Die Vergangenheit dominiert nicht nur die Städte, sondern auch die Köpfe. Es ist nicht Arroganz. Es ist eine abgrundtiefe Überzeugung, dass das Beste, was sein kann, in Italien vor langer Zeit schon war. Was hat das Kulturland Italien im 20. Jahrhundert Einzigartiges hervorgebracht außer dem Neorealismus und einem himmlisch orgelnden Zwölfzylinder von Ferrari mit Pleuelstangen aus Titan? Die letzte große italienische Neuerung kam vor mehr als zwanzig Jahren aus der Toskana nach Deutschland: Rucola. Aber selbst der Reiz dieses Krautes lag eher in der wohlklingenden Melodie des italienischen Namens. Setzten wir Rucola unseren Großeltern vor, sagten die bloß: »Oh, wie schön, Rauke.«
La famiglia = die Familie
1860, als aus unzähligen Fürstentümern Italien wurde, stand die Nation vor einer ungleich schwierigeren Aufgabe: Italiener zu erschaffen. Vieles deutet darauf hin, dass der Versuch fehlgeschlagen ist. Der amerikanische Anthropologe Edward Banfield prägte in Zusammenhang mit Italien den Begriff des »amoralischen Familismus«. Er definierte ihn als »die Unfähigkeit von Dorfbewohnern, zusammen etwas für ihr gemeinsames Wohl oder einen guten Zweck zu tun, der über das unmittelbare materielle Interesse der Kernfamilie hinausgeht«. So etwas wie Bürgersinn ist im Land, das vor zweitausend Jahren die Basis legte für das moderne westliche Rechtsempfinden, praktisch nicht vorhanden.
Was zählt, ist die Familie – doch auch die schrumpft: Dieses Land der Kindernarren hat mit 1,27 Kindern pro Frau die nach Spanien niedrigste Geburtenrate Europas. Dabei lieben die Italiener ihre Kinder. Doch der Staat macht es ihnen nicht leicht: Nur für rund fünf Prozent des Nachwuchses stehen staatliche Krippenplätze zur Verfügung, gerade mal 0,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fließen in die Familienpolitik, die Kinderzulagen sind lächerlich. Viele Mütter möchten nicht nur berufstätig sein, sie müssen es sein. Mehr als ein Kind ist nicht drin. Von dem wird allerdings kaum mehr abgelassen.
Villa Mamma = das Zuhause bei Mutti
Ein Drittel der Söhne Italiens zieht mit 34 erstmals aus dem Kinderzimmer in eine eigene Wohnung. Aus Sparsamkeit, aus Bequemlichkeit. Auch wenn die erwachsenen Kinder Arbeit haben, sparen sie Geld, wenn Miete und Essen umsonst sind. Der Nachwuchs hat teure Bedürfnisse. Auf der Gesäßtasche der Hose soll nicht irgendein Name stehen.
Mit 34 ist einem Mann in der Regel nur noch schwer beizubringen, wie eine Waschmaschine und ein Bügeleisen funktionieren. Und vor allem nicht, weshalb er plötzlich Dinge tun soll, die sonst immer Mamma freudig für ihn erledigt hat. Die fehlende Mithilfe des Ehemanns im Haushalt, ermittelte die florentinische Wissenschaftlerin Letizia Mencarini, sei neben Geldmangel der Hauptgrund, warum Frauen nach dem ersten Kind abwinken. Außerdem verbringen Italiens Väter weniger Zeit mit ihren Kindern als alle übrigen Europäer. Wenn es Krach gibt, flüchten sie, wie Untersuchun-gen zeigen, zu Mamma – und auch wenn sie sich, inzwischen grau meliert, mit Mitte vierzig scheiden lassen.
Gli uomini = die Männer
Was Italien unter gestandenen Männern versteht, genießt anderswo seit Jahren den Ruhestand. Italiens neuer Regierungschef Romano Prodi ist mit 66 Jahren nur drei Jahre jünger als Ex-Premier Berlusconi. Auch kein Youngster: der neue Staats-präsident Giorgio Napolitano, 81, dessen Vorgänger Carlo Azeglio Ciampi mit 85 – eine große Ausnahme unter italienischen Politikern – auf eine zweite Amtszeit verzichtete. Sänger Adriano Celentano ist mit 68 noch immer der wilde TV-Querkopf. Italiens prominentester Manager, Arbeitgeberpräsident und Fiat-Chef Luca di Montezemolo, war sensationelle 44 Jahre jung, als er 1991 Ferrari-Präsident wurde. Bis heute gilt er als vitales Wunderkind der italienischen Wirtschaft. Nächstes Jahr feiert er seinen Sechzigsten.
Und jener Italiener, der legendäre Liebhaber, der elegante Schlenderer, der hingebungsvolle Schlemmer? An seiner Genussfreude und seinem Talent zur unaufdringlichen Schönheit hat sich nichts geändert. Niemand kann erklären, warum seine Jeans immer noch sitzen wie maßgeschneidert und seine Anzüge lässig wie Jeans, warum er lächelnd genau das sagen kann, was man gehofft hat. Aber auch er spart, kehrt immer häufiger in den Lokalen einer wild expandierenden Fastfood-Kette ein, die »Pastarito-Pizzarito« heißt und auch so schmeckt. Frauen sieht er nach wie vor an, wie sie nördlich der Alpen nicht angeschaut werden. Die erotische Unternehmungslust allerdings scheint in den langen Jahren unter Mammas Laken gelitten zu haben. Nach einer im Frühjahr vom Pharmakonzern Pfizer veröffentlichten Studie haben italienische Paare unter allen Liebenden in Europa am wenigsten Sex: 5,75 Mal pro Monat. Achtzig Prozent der befragten Italiener sind damit unzufrieden.
Jeder weiß, was Not täte, um Italien wieder wettbewerbsfähig zu machen: mehr Arbeitseinsatz, mehr Risikofreude, weniger Bürokratie. Die Frage ist, ob das die Liebe wiederbringen würde. Vielleicht ist es dafür auch schon zu spät und die freudige italienische Begrüßung klingt nun eher wie ein Abschied: Ciao, bella.
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