Seitdem seine Frau tot ist, braucht Adam Schade einen Stock. Sein Gleichgewichtssinn ist gestört, beim Gehen verliert er die Balance. Ins Eiscafé »Cortina« kommt er eine Stunde zu spät, er war noch auf dem Friedhof und hatte darüber die Zeit vergessen. Wie so oft. Er trägt eine helle Hose, aus der auf einer Seite ein hellblaues Hemd hängt. Die blauen Augen des 88-Jährigen lassen erahnen, warum sich Elisabeth als 16-Jährige in ihn verliebt hat. Schade kommt seit dreißig Jahren in dieses Eiscafé. Heute das erste Mal ohne sie. Lucia Diomo, die Inhaberin des Cafés, begrüßt ihn mit einer herzlichen Umarmung. Schade macht einen kleinen Scherz, doch sein grollendes Lachen von früher, wird Lucia später sagen, ist ruhiger geworden, es ist zu einem Kichern verklungen.
18. April
Die Zeitungsseite mit der Todesanzeige liegt aufgeschlagen auf dem Wohnzimmertisch. Mit gekrümmtem Rücken sitzt Schade auf dem Sofa und liest – als gäbe es an der Meldung doch Zweifel. Zittrig steht er auf, schleicht für ein paar Augenblicke ins Schlafzimmer, dann in die Küche, schließlich ins Bad. Aber die Suche ist vergebens. Auf dem Weg zurück flüstert er: »69 Jahre haben wir fast jeden Tag zusammen verbracht. Jetzt bleibt mir nur die Leere.«
Elisabeth Schade ist nicht überraschend gestorben. Ihr Tod hatte sich angekündigt. Ende 1988 wurde ein Herzklappenfehler diagnostiziert. »Herr Schade, ich muss Ihnen eine traurige Mitteilung machen: Ihre Frau wird aller Voraussicht nach bald sterben«, sagte die Stationsärztin damals. Schade zuckte zusammen. »Kann man da nichts machen, Frau Doktor?« Die Ärztin druckste: »Vielleicht ein neues Herz. Aber die Patientin ist 68 Jahre alt … na ja … andere, jüngere Menschen brauchen auch ein neues Herz und bei Ihrer Frau wäre es – entschuldigen Sie den Ausdruck – eine Verschwendung.« Zuerst dachte Schade, er habe sich verhört. Dann stieg die Wut. Was bildete sich diese Ärztin eigentlich ein? Er holte Elisabeth aus dem Krankenhaus und sorgte dafür, dass sie in eine Herzklinik nach Heidelberg überwiesen wurde, wo ihr Anfang 1989 zwei künstliche Herzklappen eingesetzt wurden. Nach der Operation lebte sie noch 16 Jahre. Ihr Hausarzt Stefan Brückner spricht von einem Wunder. »Seine Liebe und aufopferungsvolle Hingabe haben sie die Jahre über am Leben gehalten.« Als Elisabeth bald nach der Operation im Rollstuhl saß und Pflege brauchte, ließ Schade niemanden an sie heran. Er kochte, wusch die Wäsche, fuhr sie spazieren und kaufte ihr im Eiscafé zwei Kugeln Stracciatella, wenn sie wollte. »Das ist ihre Lieblingssorte«, sagt er, um sich gleich darauf zu korrigieren. »Das war ihre Lieblingssorte.«
Schade ist immer noch zornig auf jene Ärztin, die damals die Operation als Verschwendung bezeichnet hatte. Trauer und Zorn jagen ihm die Tränen in die Augen. Mit einem karierten Taschentuch schrubbt er sie aus seinem von tiefen Falten gespaltenen Gesicht, so harsch, dass ein Fingernagel ihm unter dem rechten Auge eine dünne Wunde ritzt. Schade bemerkt die Verletzung nicht, holt tief Luft, aber die darauf folgenden Laute bilden eine fremde Sprache. Nur das Wenige, was er in diesem Moment im Stande ist zu sagen, bricht aus ihm heraus: »Ein seelensguter Mensch war sie! Ein seelensguter Mensch.« An einem Ende der Wunde hat sich ein Blutstropfen gebildet, der langsam über Schades Wange fließt. Seine Augen sind gerötet und glasig. Der Tropfen platzt auf seiner beigefarbenen Hose, als er es bemerkt, ruft er: »Ach, du lieber Himmel, Mutti, schau dir das an!« Schade nannte Elisabeth »Mutti«, sie nannte ihn »Vati«.
Seine Hände und seine Stimme zittern, als er über die Nacht spricht, in der sie starb. »Ich saß an ihrem Krankenbett und flehte: ›Mutti, mach doch die Augen auf und schau mich bitte noch einmal an. Bitte!‹ Da hat sie die Augen einen winzigen Spalt aufgemacht, stöhnte, und hatte Tränen in den Augen – und dann«, sagt Schade leise, »merkte ich auf einmal, wie’s mit dem Stöhnen und Atmen aus war, ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen.«
15. August
Heute wäre Elisabeth 85 Jahre alt geworden. Schade steht an ihrem Grab. Schweigend, weinend. Er kommt jeden Tag.
Elisabeth und Adam Schade haben sich auf einem Tanzabend kennengelernt. Sie war zierlich, hatte blonde Haare und blaue Augen. Er war Mittelstürmer des Fußballvereins und lernte Buchdrucker. Das war 1935, vier Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der ihr beschauliches Leben als Donauschwaben in dem nordserbischen Städtchen Werbass zerstörte. Er musste als deutscher Soldat 1942 an die Ostfront, sie kam 1944 in ein jugoslawisches Internierungslager. Ihre erste gemeinsame Tochter war damals knapp zwei Jahre alt. Schade hat sie nie in seinen Armen gehalten. Die kleine Annegret starb im Lager an einer Lungenentzündung.
19. August
Was sagen Sie Elisabeth, wenn Sie am Grab stehen, Herr Schade?
»Nichts Besonderes«, seufzt er. »Ich sag, ›Grüß di Gott, Mutti‹ – manchmal erzähle ich ihr, was so los ist in der Welt, dass überall Kriege wüten und Hunger die Menschen plagt. So wie bei uns früher. Meist sitze ich aber nur still da, 15, 20 Minuten. Alte Leute gehen an mir vorbei, aber sie sind alle wie bunte Schatten.«
Bunte Schatten?
»Ja, sie schleichen herum, aber insgeheim haben sie mit allem
abgeschlossen.«
Mit ihrem Leben?
»Wenn alte Menschen ihre Toten besuchen, haben sie meist selbst Sehnsucht danach.«
Sie auch, Herr Schade?
Schade schweigt.
Elisabeths Urne befindet sich hinter einer Wand, auf der ihr Name als letzter nach vielen anderen geschrieben steht. Günther Bach + Hermann Kasowski + Frederike Urle + Elisabeth Schade. Hunderte von Namen stehen an dieser Wand. In Deutschland sterben jährlich mehr als 800 000 Menschen.
»Wenn ich vom Friedhof nach Hause komme, grummelt es im
Magen, manchmal verfalle ich in Gedanken, öffne die Tür und rufe: ›Mutti, ich bin zu Hause!‹ Erst dann wird mir bewusst, dass sie gar nicht mehr da ist. Manchmal fühle ich mich so, als würde ich mit einem unsichtbaren Gegner ringen, dessen Schlägen man nicht ausweichen kann.«
12. Oktober
Heute ist Schades 89. Geburtstag. Er sitzt mit seiner Familie beim Griechen um die Ecke und isst gegrillten Kabeljau, dazu Salat, Elisabeths Lieblingsgericht. Elisabeth und Adam Schade haben zwei Kinder. Evelyn und Paul. Paul ist 57 und nach einem Schlaganfall linksseitig teilweise gelähmt. Seit einem Jahr wohnt er wieder in seinem alten Kinderzimmer in der elterlichen Wohnung. Evelyn, 59, hat zwei erwachsene Töchter, Elke und Carolin, die ebenfalls jeweils zwei Kinder haben. Schade ist also vierfacher Uropa. Er scherzt mit seinen Urenkeln, weil sie nach dem Essen auch ein Schnapsglas bekommen haben, mit Limonade statt mit Ouzo. Als alle auf das Geburtstagskind anstoßen, sagt er: »Ich freue mich wirklich, dass ihr gekommen seid. Schade nur, dass Mutti das nicht mehr erleben darf.« – »Aber Oma Elisabeth schaut doch vom Himmel auf uns herab, oder?«, fragt Urenkelin Kimberly in die kurz eingetretene Stille und Schade erstarrt. »Ja, das tut sie«, antwortet er schließlich und sieht wie Kimberly, ohne seine Antwort abzuwarten, nach dem letzten Tropfen im Glas schleckt. Zu Hause angekommen bittet ihn seine Tochter Evelyn, zu ihr zu ziehen, damit er sich mit den Urenkeln die Zeit vertreiben kann. Evelyn wohnt einige hundert Kilometer vom Friedhof entfernt. Schade lehnt ab.
2. November, Allerseelen
Menschen strömen auf den Friedhof. Auch Schade. Die Gedanken der meisten gehen nach unten, die Gebete nach oben. Auch Schade betet: »Was Du mir gegeben hast, lebt unauslöschlich in mir und wird mich bis an das Ende meiner Tage begleiten, Mutti. Du fehlst mir überall. Überall. Ich hoffe, es geht dir dort gut, wo du jetzt bist.«
3. November
Einmal die Woche schickt der Sozialdienst eine Kubanerin, die den 89-Jährigen im Haushalt unterstützt. Sie putzt auch dann die Fenster, wenn er es ihr verbieten will. Dann fühlt er sich überflüssig und schimpft: »Lass das, das kann ich selber machen!« Kurze Zeit später tut es ihm leid und er stellt ihr beim nächsten Besuch eine Packung Pralinen auf den Tisch. Für Tochter Evelyn sind solche Gefühlsausbrüche neu an ihrem Vater. »Ich kann mich nicht an eine einzige Situation in meiner Kindheit erinnern, in der sich unsere Eltern je lauthals gestritten hätten. Mein Vater war immer die Ruhe selbst. Zwischen ihm und Mutti lag immer ein besonderer Frieden – als wären sie füreinander geboren worden.«
14. November
Adam hat in einem Karton im Keller einen alten Brief von Elisabeth entdeckt. Der Brief ist 62 Jahre alt. Elisabeth hat ihn damals im Lager geschrieben. Schade hatte ihn kurz vor seiner Gefangen-nahme in Russland erhalten. Sie schreibt: »Wann werde ich Dich wieder sehen? Bist Du verletzt? (…) Im Lager erzählt man sich,
dass die Russen keinen deutschen Soldaten verschonen werden. Pass auf Dich auf! Hörst Du? Und komm bald zurück! (…) Mir geht es gut.« Dieser Brief war Schades einziger Kontakt zu Elisabeth für mehr als fünf Jahre – bis 1947. Nach seiner Flucht marschiert er zurück nach Deutschland, mehr als 3000 Kilometer. In Gedanken malt er sich aus, wie er sie wieder in seine Arme schließt, in Gebeten fleht er sie an, zu überleben.
1. Dezember
Schade und sein Sohn Paul leben jetzt gemeinsam in der Wohnung. 78 Quadratmeter, ein Wohnzimmer wie aus den frühen Sechzi-gern: mit einer dunkelgrünen Couch, einem dazugehörigen Sessel und dem ovalen Tisch, auf dem ein Foto von Elisabeth steht. Elisabeth saß stets im Sessel, Schade auf der Couch. »›Jetzt reicht’s, Vati‹, hat sie immer gesagt, wenn sie ins Bett wollte«, erzählt
Schade. Dann hob er sie aus dem Sessel in den Rollstuhl und fuhr sie ins Schlafzimmer, legte die Decke auf, half ihr beim Aussteigen und ins Bett und wünschte gute Nacht. »Manchmal haben wir auch zusammen Fußball geschaut, und sie fragte: ›Gibt’s noch Elfmeterschießen?‹ Und wenn es Elfmeterschießen gab,
blieb sie auf.«
Schade hat seit Elisabeths Tod 25 Pfund abgenommen. Seine Hosen rutschen ihm herunter, mit einem Gürtel schnürt er sie deshalb oberhalb des Bauchnabels zusammen. Es ist 23 Uhr. Schade ist müde, legt sich ins Bett, aber einschlafen kann er nicht. An der Grenze zwischen Traum und Wachen hat er immer das eindeutige Gefühl, dass außer Paul noch jemand in der Wohnung ist. Meist bleibt er ganz still liegen, fühlt mir der rechten Hand ins Leere und lauscht, aber er hört nur sein eigenes Herz, dem ein Schrittmacher den Rhythmus vorgibt. Seine Finger tupfen auf der Suche nach dem Wecker die Kommode ab und finden die kleine Leuchttaste. Halb fünf. »Manchmal höre ich sie im Schlaf rufen: ›Abusch! Abusch!‹ Erschrocken setze ich mich auf und antworte: ›Ja, Mutti, hier! Wo fehlt’s dir denn?‹ Aber ich habe nur geträumt«, erzählt Schade. »Abusch« heißt auf Ungarisch Vati. So hat ihn Elisabeth in ihren Träumen immer genannt, in ihren Albträumen vom Lager.
Silvesterabend, Mitternacht
Im dritten Programm stolpert Butler James zum 42. Mal übers
Tigerfell. Miss Sophie feiert ihren 90. Geburtstag mit ihren toten Freunden. 18 Minuten dauert der Sketch. Schade sitzt auf der Couch. Dinner for one. Er knipst den Fernseher aus. »Mutti und ich hatten schon geplant, wie wir unseren 90. Geburtstag feiern würden.« Dann macht Schade eine kleine Pause. Er blickt hinüber zum Sessel, wo früher Elisabeth saß und jetzt nur sauber gefaltet ihre Decke liegt. »Vom großen Menschen, der sie einst war, ist nur ein bisschen Asche geblieben.«
2. Januar
Schade bestellt im Eiscafé »Cortina« seinen Cappuccino und blickt in die Zeitung. Er liest mehr als früher, kennt auch die kürzesten Meldungen im Lokalteil. Seit Elisabeths Tod studiert er die Todesanzeigen immer als Erstes. Seine Lippen bewegen sich, seine Augen fixieren einen Text. Es ist das Gedicht für einen Gestorbenen, der lange an einer Krankheit litt:
Einschlafen dürfen, wenn man müde ist,
Und eine Last fallen lassen dürfen,
Die man sehr lange getragen hat,
Das ist eine köstliche, eine wunderbare Sache.
Schade liest das Gedicht mehrmals und sagt nach einer Pause: »Schönes Gedicht.«
28. Januar
Seit drei Wochen ist Schade bei seiner 94-jährigen Schwester Erika in München zu Besuch. Am Telefon klingt seine Stimme kräftiger als vor Weihnachten. Vielleicht liegt es an seiner resoluten Schwester, die ihren Mann vor ein paar Jahren verloren hat. Sie verbietet ihm während der Spaziergänge im Englischen Garten
den Gehstock. »Du bist doch noch gut unterwegs und nicht einmal neunzig!«, sagt sie. »Mit neunzig bin ich hier noch Fahrrad gefahren! Stell dich nicht so an!« Oder sie fordert ihn auf, für das Mittagessen auf dem Markt einkaufen zu gehen. Abends sitzen die beiden gemeinsam im Wohnzimmer und unterhalten sich oft über die Vergangenheit, vor allem über den Krieg und ihre gemeinsame Zeit in Werbass. Danach ist Schade meist so müde, dass er sich neben seine Schwester ins Bett legt und bis zum frühen Morgen durchschläft, ohne von Elisabeth geweckt zu werden.
9. Februar
Schade ist seit ein paar Tagen wieder zurück. Er hat ein paar Pfunde zugenommen, seine Hose passt ihm wieder besser. Eigentlich wollte er am nächsten Tag zu Elisabeths Grab gehen. Aber er verschläft. »Ich bin auf der Couch eingenickt und habe davon geträumt, wie ich meine Frau in die Arme schließe. Alles strahlte hell und warm. Es war ein wunderbares Gefühl«, sagt er.
4. April.
Elisabeth Schade ist seit einem Jahr tot. Schade sitzt in seinem Wohnzimmer und schaut sich ein Familienalbum an. Er erzählt fast zu jedem Foto eine kleine Geschichte: 1937, Werbass, heutiges Serbien. Adam Schade trägt kurze Hosen, er steht neben einem zwei Köpfe kleineren Mädchen mit blonden Zöpfen und grinst stolz in die Kamera. »Kurz nachdem dieses Foto entstand, haben wir uns das erste Mal geküsst«, sagt Schade. »Damals hatten wir unser ganzes Leben noch vor uns.« Sein Blick wandert zur Wohnzimmerwand, wo viele gerahmte Fotos hängen. Sie zeigen Elisabeth in ihrem blauen Lieblingskleid. Sie zeigen Evelyn und Paul als lachende Kinder. Sie zeigen Evelyns Töchter Elke und Carolin mit Schades Urenkeln auf dem Schoß: Timo, Ulrike, Marvin, Kimberly. Und Schade, wieder vertieft in den Bildband von 1937, sagt auf einmal leise: »Ach, wenn ich so zurückblicke, hatten wir doch ein schönes Leben, Mutti und ich. Gott hab sie selig.«