Tagebuch: 20. März 1924/1930

Und immer wieder Frühling: 100 Jahre Zeitgeschichte in privaten Notizen.

    20. März 1924
    (Clara B., Geburtsjahr unbekannt)

    Ernakind blüht. Je älter das Blondchen wird, desto hübscher – (eitle Mutter – Du!) – wird das Mädelchen. Blanke Augen, rote Wänglein; dazu Arbeitslust. Aber wo steckt der Erlöser, der sie aus dem Steinmauer-käfig befreit? – Der Drang zur Musik setzt plötzlich wieder mit Allgewalt ein; doch fehlen, wie bei den Meisten, die Mittel. – Abends kam ein Kartengruß aus Schandau – Sächs. Schweiz – vom „Peter“ und seinem Frauchen. Dort im Forsthause sitzend, (wo auch wir, Erna und ich im vor.
    Jahre waren), schrieb er einen kurzen Gruß: ,,Liebe gute Freundin; auf Ihren Spuren wandernd, viel an Sie denkend, die Schönheit der Gottesnatur voll genießend senden viele herzliche Grüße Ihre Theodor Lessing u. Ada Lessing.“ – Gut, daß er froh ist.
    20. März 1930
    (Clara B., Geburtsjahr unbekannt)

    Erna kam heute erst 1/2 3 Uhr Nachm. vom Stempeln heim. Ich war sehr in Sorge um sie; aber ich hatte richtig geahnt: sie mußte sich bei einer Aushilfsstelle vorstellen; aber leider war diese schon am Morgen besetzt. – Die Chefs versäumen es stets, sofort den Nachweis anzuläuten, wenn sie engagiert haben. – Da mein Mädel in der Nähe der Wohnung einer Schwester meiner 3. Mutter war, so besuchte sie erstere ‘mal kurz, um zu fragen, ob die ,,Stiefgroßmutter“ noch am Leben sei, da sie nichts mehr von sich hören lasse. – Sie erfuhr nun, daß es ihr gut ginge, sie überhaupt infolge ihres fabelhaften Geschäftssinnes nie in Verlegenheit gerate. – Nun, wir wissen das zwar zur Genüge – aber dennoch sind wir beruhigt, daß sie noch lebt. Diese Stieftante erfreute E. mit einem noch guterhaltenen Paar Schuhe, die ihr zu eng – aber E. paßten. So hilft uns Gott wieder weiter. Und ich verdiene mir 50 Pf. für ausgekämmtes Haar.
    –Einen seltsamen Traum muß ich heute wieder verzeichnen: Der Reichspräsident v. Hindenburg, so träumte mir, besuchte mich, um mir Grüße aus Hannover zu übermitteln. Er sei kürzlich dort gewesen und wollte sich nun beeilen, mir diesen Auftrag auszurichten. Da wir im Geistes-leben alte Bekannte sind (siehe meine ,,Gereinigte Person der Wahrheit“), so wunderte mich das weiter nicht; aber erfreut über seinen Besuch, lud ich ihn ein, näher zu treten und bat ihn, auf dem Sofa im Eßzimmer Platz zu nehmen. Ernakind gesellte sich zu uns, und ich bat Freund Hindenburg mit uns eine Tasse Kaffee zu trinken, wenngleich ich ihm nur Malzkaffee vorsetzen könnte. Mit Dank nahm er an. Erna ging in die Küche und kam bald mit allem Zubehör herein, deckte den Kaffeetisch, und wir setzten uns zum gemeinsamen Genuß dieses edlen Gesundheitsgetränkes an den Tisch. Doch kaum hatten wir Platz genommen, als der ehemalige Reichskanzler, Fürst Otto v. Bismarck zur Tür hereinspazierte, sich grüßend verneigte und nur die Worte sprach: „Ich wollte eben nur meinen Freund Hindenburg abholen.“
    – Darauf waren plötzlich beide Herren wie weggeblasen – verschwunden.
    – Erna und ich sahen uns erstaunt an und – der Traum war zu Ende – ich dämmerte zum Bewußtsein hinüber.