Bayern beginnt einige Meilen hinter dem Internationalen Flughafen von Los Angeles, in dem unwirtlichen Vorort Torrance. Direkt hinter der Shell-Tankstelle, in einem gottverlassenen Industriegebiet, steht das »Alpine Village«, also das »Bergdorf« mitten im asphaltierten kalifornischen Flachland. Märchenkönig Ludwig II. grüßt mit einer überlebensgroßen Büste am Eingang, da schlägt das Bayern-Herz im Exil sofort höher. Im »Oktoberfest One Stop Shop« kann man die kalifornischen Shorts gegen ein Dirndl oder Lederhosen eintauschen: Trachtenhüte, Masskrüge, Gamsbärte, also die Grundausrüstung der bajuwarischen Hochkultur, alles da. O'zapft is!
Wenn in München das Oktoberfest zu Ende geht, geht es in Amerika erst so richtig los. Wer von Zicke Zacke Zicke Zacke noch nicht genug hat, muss sich nur in den Flieger setzen: Das größte Volksfest der Welt ist Bayerns beliebtester Export-Artikel. Allein in Los Angeles und Umgebung gibt es gut 40 »Oktoberfeste«, auf denen mehr oder weniger original bayerisches Bier und Brezn kredenzt werden; in ganz Amerika sind es Tausende. (Dass das Oktoberfest eigentlich im September stattfindet, hat sich in Amerika noch nicht herumgesprochen. Logisch, es heißt schließlich nicht Septemberfest!)
Das »Alpine Village« in Torrance verspricht, das älteste, größte und beste Oktoberfest der Gegend zu veranstalten. Seit den Hippie-Tagen von 1968 versammeln sich die Bierjünger in dieser Enklave der blau-weissen Rauten. 3000 passen auf die Bierbänke im Zelt unter die schwarz-rot-gelben Nationalfarben, und es ist jedes Wochenende rappelvoll. »Spread the Gemütlichkeit!«, fordern »Festmeister Hans & Gretel«, und bieten das unschlagbare Angebot, die Amis mit einer originalen deutschen »Oompah-Band« im Bierzelt das »Shunklen« und das »Chicken Dancing« zu lehren. Klar, das sind die bayerischen Königsdisziplinen, da muss ich hin! Denn ist man erst lange genug aus der Heimat weg, dann sehnt man sich plötzlich zurück nach Dingen, für die man sich zu Hause nur mäßig begeistern konnte: Schloss Neuschwanstein, überfüllte Festzelte, lauwarme Biersuppe und Blasmusik.
Schloss Neuschwanstein leuchtet auf einer Foto-Tapete im Hintergrund, die zwölf »Böhmischen Strassenmusikanten« aus Köln blasen ihre Trompeten, »Festmeister Hans«, 39, tanzt auf den Tischen und heizt mit einer Version von Princes »Let's go crazy!« ein, bis wir ihm Dollarnoten in die Strümpfe stecken. Der »Festmeister« mit seinem aufgezwirbelten Schnauzer und den Original-Lederhosen müht sich redlich, den Leuten anständiges bayerisch beizubringen: »No, not eins, zwei, gesoffen!«, ruft er, »Das muss heissen: Oans, zwoa, g‘suffa!«
Festmeister Hans aka »Mister Oktoberfest himself« muss es wissen. Er heisst zwar eigentlich John Baumgärtner und ist in La Crosse, Wisconsin, geboren, hat aber immerhin deutsche Vorfahren (einen Urgroßvater aus Passau) und war auch schon mal auf der Original-Wiesn, nämlich 1993, während er als 16-jähriger Austauschschüler in Amberg seine ersten Deutschvokabeln paukte. Auch in La Crosse mit seinen vielen deutschen Einwanderern gibt es ein jährliches Oktoberfest, und John erinnert sich, dass er das schon als Kind nie verpasste: »Da zogen wir alle unsere Lederhosen an und los ging's«, sagt er in seinem entzückend amerikanisch-hochdeutschen Dialekt.
»Ab und zu wird dann scho a weng was bairisch rauskommen«, versucht er sich am Bayerischen, aber meistens rutscht ihm doch ein hochdeutsches »wie gesacht« oder ein preussisches »Habe die Ehre« raus, weil er ein Jahr in Bonn studiert hat. Es gibt Gerüchte, ein gewisser Franz Baumgartner, Lohnkutscher und Unteroffizier der Nationalgarde, habe 1810 das allererste Münchner Oktoberfest initiiert (das damals noch ein Pferderennen war), und Johns Eltern haben ihm erzählt, der Franz sei einer ihrer Vorfahren, aber so richtig bestätigen konnte er die These, die Wiesn sei ihm sozusagen schon in die Wiege gelegt worden, nie.
Dafür moderiert er fachgerecht den »Steinholding Contest«, also den Wettbewerb, wer unter den zunehmend beschwipsten Gästen die meisten Masskrüge stemmen kann, und seine Frau »Frollein Gretel« (eigentlich Kolby Baumgärtner) bringt den Leuten endlich das »Shunkeling« bei: Ganz nah an den Nachbarn heranrücken, Schulter an Schulter! Alle Arme in die Höhe! Einhaken!
Zur Melodie von »Love Shack« lernen wir den amerikanischen Trinkruf: »Bang! Bang! Goes the Stein, Babe!« „Stein" nennen die Amis die Masskrüge, die hier allerdings aus Plastik sind, aber bis Mitternacht kann jeder zumindest die wichtigsten deutschen Vokabeln: »Jawohl!«, »Prost!« und »Holleri«, damit kommt man ja in Deutschland schon ziemlich weit.
Die Japaner im Publikum tragen eindeutig die besten, echtesten Dirndl, die Amis Polyester und Plastik, die Mexikanerinnen sehr kurze Lederhosen, der Rest ist Fasching. Es ist ein wenig irritierend, eine Armee aus Dutzenden zerlumpten Gestalten mit rasierten Halbglatzen in den ersten Reihen zu finden, die mit ihren aufgemalten Narben, selbstgebastelten Speeren und abenteuerlichen Helmen aussehen, als seien sie direkt aus Mad Max entflohen. Eine junge Frau im Lumpenrock, das Gesicht zur Hälfte blutrot bemalt, trägt gar ein totes Huhn auf der Schulter. Das, erklärt John-Hans, sind die »Wastelander«, die Anhänger des Videospiels, das nach der nuklearen Apokalypse im Niemandsland spielt, denn an diesem Abend findet im Oktoberfest-Zelt die »Beer-pocalypse« statt. Aber ehrlich gesagt, wie Beer-pocalypse sieht auch die Theresienwiese nach dem letzten Abend aus.
Man könnte nun natürlich aufzählen, was es auf der amerikanisierten Wiesn alles NICHT gibt, also: keinen Trachtenzug, kein Riesenrad, kein Toboggan, kein Schichtl, kein bayerisches Weissbier, keine Schweinshaxn. Nun gut, im Laden nebenan verkaufen sie Leberkas in der Dose, selbstgebackenen Christstollen und Tannenzäpfle, das »Original-Bier aus dem Schwarzwald«, ansonsten lässt sich nur hoffen, dass die Oktoberfest-Besucher die auf weichen Brötchen servierte lauwarme Bratwurst mit Sauerkraut nicht wirklich für ein Parade-Beispiel teutonischer Kochkunst halten. Festmeister Hans preist das im Zelt beliebte Wiener Schnitzel als »Einstiegsdroge für die deutsche Küche«. Auf die trockene Nachfrage, seit wann Wien in Deutschland liegt, muss er selber lachen.
Aber das ist alles Nebensache, denn eines ist dann doch genau wie auf der richtigen Wiesn: »Am Anfang spiele wir eher klassische Blasmusik, später Schlager und amerikanischen Pop mit Blaskapelle«, erklärt Hans. »Später, wenn die Jüngeren kommen und mehr trinken, geht die Party richtig los. Sobald man ein paar Bier hat, läuft das alles flüssig.«
Und wie das Flüssige läuft! Spätestens ab der zweiten Mass verabschieden sich die Geschmacksnerven sowieso. Gerade die Amis, die bekanntlich sonst ihr Bier aus Cocktailgläsern trinken, lassen sich von der schieren Menge an Warsteiner und Craft Bier leicht überwältigen, und die ersten Bierleichen werden hinausgetragen. Die, die noch aufrecht sitzen können, schunkeln zu Nenas »99 Luftballons« und »In München steht ein Hofbräuhaus«. Wir sind nun alle untergehakt, und als die Umsitzenden herausfinden, dass ich wirklich eine waschechte Bayerin bin, bin plötzlich ich die Attraktion des Abends. Ein Ansturm dringender Fragen prasselt auf mich ein. Wie viele Dirndl besitze ich? Wie viele Mass vertrage ich? Wie oft gehe ich jedes Jahr auf die Wiesn? Wahrheitsgemäße Antworten würden meine neuen Freunde nur enttäuschen. Ich trage inzwischen einen Stofflöwen mit blauweißen Pfoten auf dem Kopf, den mir ein Sitznachbar gekauft hat, und erweise mich als würdige Vertreterin des bayerischen Volksstammes. Statt des in Amerika üblichen »Cheers« singe ich die bayerische Nationalhymne der Bierseligen, bis sie alle am Tisch fehlerfrei nachgröhlen können: »Ein Prooo-sit, ein Prooo-oho-sit der Gemüüü-ühü-tlichkeit!« Endlich, endlich fühle ich mich in Amerika ganz wie zuhause.
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