Schön ängstlich

In Amerika erscheint mit Anxy das erste Hochglanzmagazin über psychische Störungen. Sind Neurosen und andere Zwänge die neuen Lifestyle-Accessoires? Ein Gespräch mit Gründerin Indhira Rojas.

Anxy wurde mitten in der Nacht geboren, als Indhira Rojas, 34, um drei Uhr keuchend aufwachte und das Gefühl hatte, einen unsichtbaren Metallring um die Brust zu haben: »Mein Herz raste, ich konnte nicht mehr atmen, und ich fragte mich: Was mache ich hier eigentlich?« Die quirlige Frau mit dem herzlichen Lachen und den blonden Strähnen in ihren dunklen Locken lehrte zu dem Zeitpunkt Design in San Francisco, leitete eine eigene Designagentur und hatte zusätzlich noch ein Gemeinschaftsbüro in ihrer Heimatstadt Santo Domingo in der dominikanischen Republik gegründet. »Ich rannte jeden Tag herum und hatte keinen Augenblick Zeit für mich. Ich war busy, busy, busy, und das hat mich verrückt gemacht.«

In diesen Morgenstunden vor gut vier Jahren wurde ihr klar, dass sie ein Workaholic war, ein Mensch, der sich in die Betriebsamkeit geflüchtet hatte. »Ich fühlte mich wertlos. Ich wollte keine Sekunde zur Ruhe kommen, weil ich mich allen Gefühlen hätte stellen müssen, die ich durch meine Geschäftigkeit kaschierte: Traurigkeit, Angst, Depression.«

Es sind Themen, die auch in Anxy zur Sprache kommen sollen, dem Magazin, das Rojas im Mai lanciert hat und das symptomatisch ist für einen neuen Umgang mit psychischen Krankheiten: Während Depressionen und Panikattacken lange tabuisiert wurden, bieten sie jetzt sogar Stoff für ein Lifestyle-Magazin.

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Bis dahin war es ein langer Weg: Rojas brauchte Jahre, um ihren Terminkalender zu leeren, ihren Burnout zu kurieren und zu erkennen, wie sehr sie versuchte, vor traumatischen Kindheitserinnerungen davon zu laufen. »Ich habe mich gefragt, wo eigentlich all die anderen Menschen sind, die ähnliche Probleme haben.« Die einzige Antwort, die Sinn für sie machte, war, dass auch die anderen sich verstecken. Dass auch die so tun, als sei alles in Ordnung, obwohl gar nichts in Ordnung ist. »Wir tragen diese Geschichten mit uns herum, die ganz entscheidend dazu beitragen, wer wir sind, und doch spüren wir zu viel Scham und Angst, um offen damit umzugehen.» Daraus entstand Anxy, als Anstoß für Gespräche über diese ganz persönlichen Themen.

Indhira Rojas

Psychologie-Magazine gibt es viele, im deutschsprachigen Raum ebenso wie in Amerika, aber Anxy ist anders: ein durchgestyltes Magazin ohne Psycho-Ratgeber; ein buntes Heft, das zwar mit der glatten Ästhetik einer Stil-Bibel daher kommt, aber mit einem gar nicht glatten Inhalt.

Es ist der Spiegel einer Gesellschaft, in der Psychotherapien so alltäglich werden wie der Besuch im Fitnessstudio: Das Thema des Weltgesundheitstags 2017 der WHO ist Depression. Das Wort Anxy gibt es eigentlich im Englischen nicht, aber Rojas sagte oft spielerisch, »ich bin anxy«, wenn sie »ängstlich« meinte, so entstand der Hefttitel.

Lange konnte sie nicht so locker über ihre Zustände sprechen. In ihrem Heimatland, der dominikanischen Republik, gebe es kaum psychologische Hilfe, erzählt sie. »In unserer Kultur macht man Probleme mit sich aus«, so wie es auch in der westlichen Welt lange gang und gebe war. Erst als sie mit 26 mit einem Stipendium zum Kunst-Studium nach Amerika kam und ihr dort als Teil der Ausbildung ganz selbstverständlich auch psychologische Beratung angeboten wurde, traute sich Rojas zum ersten Mal, ihr Trauma auszupacken. »Mit Hilfe meiner Therapeutin konnte ich toxische Verhaltensweisen identifizieren, und die Wucht der generationenübergreifenden Traumata in meiner Familie.«

Inzwischen spricht sie offen darüber, dass sie als Kind sexuell missbraucht wurde. Der Missbrauch begann, als sie sieben war und zog sich über Jahre hin, bis sie als Teenager von Zuhause fliehen konnte. »Der Missbrauch geschah in einem giftigen Umfeld von emotionaler Vernachlässigung, und ich weiß manchmal nicht, was von beiden schlimmer war.«

Immer noch aber schämt sie sich dafür, wütend zu werden. So ist es kein Wunder, dass sich die erste Anxy-Ausgabe der Wut widmet. Amtsvollstrecker oder Kellnerinnen erzählen, wie es ist, von Kunden angeschrien und bedroht zu werden. Schriftstellerin Margaret Atwood gibt Einblick, wie sie ihre Wut in Aktivismus umwandelt. Eine Tochter fotografiert ihre bipolare Mutter im Alltag. Ein Ex-Häftling dokumentiert seine Jahre in Einzelhaft. Eine junge Frau öffnet sich den verwirrenden Gefühlen, wenn der Stiefvater, der sie doch beschützen sollte, zum Täter wird.

»Wenn ich einen Raum mit 50 Frauen habe, weiß ich, dass statistisch gesehen 20 davon sexuelle Gewalt erfahren haben«, meint Rojas. »Also weiß ich, dass ich nicht die einzige im Raum bin, aber warum erkennen wir das als Gesellschaft nicht mehr an?« Bei Anxy geht es Rojas genau darum: diese Erfahrungen zu teilen und das Stigma auszuräumen. Sie vergleicht Anxy mit einer »Gruppentherapie auf Papier«, aber mit einem entscheidenden Unterschied: »Wir erzählen unsere Geschichte, ohne dass sie unbedingt eine Happy End oder eine Lösung anbieten muss. Es geht darum, zu teilen was uns widerfahren ist.«

Das Team von Anxy

Ihr Mann Jason English Kerr, ein 3D-Künstler, hat mit ihr in Berkeley das lila Cover gestaltet: einen stachligen dunkelroten Igelmenschen. Das Bild könnte auch auf den Titel eines Designheftes passen. Aber brauchen wir wirklich eine Zeitschrift, die Seelenkummer in Lifestyle-Optik abbildet? »Warum nicht?«, fragt Rojas zurück. »Ich bin nun mal Print-Designerin, und ich finde, genau das fehlt, wenn man sich anschaut, was es schon gibt. Weil unsere Emotionen komplex und chaotisch sind, heißt das ja nicht, dass auch das Design schlampig sein muss. Manchmal ist es gerade das Gegenteil: Die einfachsten Dinge rufen die komplexesten Gefühle hervor«, meint Rojas. »Je mehr das Magazin wie Kunst sein kann, desto mehr profitieren die Leser. Deshalb gehen wir ja auch ins Museum oder auf Kunstausstellungen: Wir wollen berührt werden, also kann ich auch mit diesem Anspruch eine Zeitschrift über psychische Gesundheit machen.«

Besteht da nicht die Gefahr, ernste Diagnosen schönzureden? »Die Leute zeigen bei uns ihr wahres Ich«, entgegnet Rojas, »wir versuchen nicht, komplexe Dinge zu verhübschen, sondern zu zeigen, dass es auch mitten im Chaos Schönheit gibt.«

Die erste Ausgabe hat sie über Crowdfunding finanziert, bei der zweiten soll es um Workaholics gehen und Jobs, die unsere psychische Gesundheit beeinträchtigen können. Sie erscheint im Oktober, fünf Monate nach der ersten (und ist, weil Rojas ein Lagerhaus in Berlin gemietet hat, auch in Deutschland bestellbar). Die Entschleunigung, die Rojas in ihrem Leben anstrebt, prägt auch das Magazin: Es gibt eine minimale Online-Präsenz, das gedruckte Heft erscheint nur zwei Mal im Jahr. »Ich wollte ein Projekt schaffen, das Grenzen kennt. Die sozialen Medien buhlen rund um die Uhr um unsere Aufmerksamkeit. Wir wollen kein Online-Automat sein, der ständig neue Inhalte ausspuckt. Die Zeitschrift ist wie eine Kapsel, in die man zwischendurch eintauchen kann.«

Das ist nun wirklich ziemlich clever: Sie hat aus ihrer Krankheit ihre Therapie gemacht. Und daraus eine Einsicht gewonnen, die sie mit allen teilen möchte: »Es ist möglich zu heilen.«

Fotos: Anxy Magazine, Michelle Le