Das Video haben inzwischen mehr als eine Million Menschen gesehen, obwohl es schwer erträglich ist: Der fünfjährige Thomas Perez wird in seiner Grundschule, der Jasper Primary School, in Georgia geschlagen – nicht etwa von einem rauflustigen Mitschüler, sondern von seinen Lehrern. Schulleiterin Pam Edge und ihre Stellvertreterin Lynn McElheney halten Thomas fest und legen ihn über einen Stuhl, während er versucht, sich loszureißen. »Mama, hilf mir!« schreit er, aber seine Mutter Shana Marie Perez scheint sich ungerührt ihrem Smartphone zu widmen, während die Schulleiterin dem Kind mit einem Holzscheit auf den Hintern schlägt. Der Kleine brüllt. In Wahrheit filmt die Mutter das Geschehen und stellt das Video online.
Auf Facebook wird sie später sagen, die Schulleiter hätten ihr gedroht: Wenn sie der Prügelstrafe nicht zustimme, würde sie verhaftet, weil ihr Sohn in dem Schuljahr schon 18 Schultage versäumte. »Ich konnte nichts tun, um sie daran zu hindern.« Das Vergehen ihres Sohnes diesmal: Er hat eine Mitschülerin bespuckt und ein Klassenzimmer verwüstet. Aber bringt man einem Fünfjährigen Gewaltlosigkeit bei, indem man ihm Gewalt antut? Das sogenannte »Paddling«, also die Schläge mit einem Holzscheit, wie überhaupt die körperliche Züchtigung ist in 19 amerikanischen Bundesstaaten legal.
Eltern, die das nicht wollen, können beantragen, ihr Kind von der Prügelstrafe zu befreien. Perez gab an, das habe sie zu Beginn des Schuljahres auch gemacht, aber die Schulleitung bestreitet das: »Wir können individuelle Fälle nicht kommentieren, aber wir wenn körperliche Züchtigung angewendet wird, dann nur mit dem Einverständnis der Eltern.«
Der Vorfall in Georgia ist über ein Jahr her, wird aber jetzt zum Schulbeginn wie verrückt geteilt. Bevor die Kleinen in diesen Wochen in die Schulen zurückkehren, entbrennt die Debatte neu, ob, wann und in welcher Form körperliche Züchtigung an kleinen Kindern sinnvoll ist. Dabei hat die American Psychological Association schon 2012 eindeutig festgestellt: »Viele Studien zeigen, dass körperliche Bestrafung wie den Hintern versohlen oder andere Mittel, Schmerz zu versuchen, zu mehr Aggression, antisozialem Verhalten, körperlichen Verletzungen und seelischen Problemen für Kinder führen können.« Die American Academy of Pediatrics »verurteilt die Praxis aufs Schärfste« und meint, die Beweise seien eindeutig, dass die Schläge mehr Schaden als Gutes anrichten. Auch die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen schützt Kinder »vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung«.
In Deutschland würde das, was an amerikanischen Schulen gängige Praxis ist, als Körperverletzung gelten. Das Züchtigungsrecht von Lehrern haben die Deutschen schon 1973 abgeschafft. Das »Recht auf gewaltfreie Erziehung« garantiert das Gesetzbuch seit 2000. Aber vor allem in den Südstaaten ist die schwarze Pädagogik nach wie vor Standard, unter anderem in Mississippi, Texas, Alabama, Arkansas, Georgia, Tennessee und Oklahoma. Selten sind die Prügel auch nicht: In Mississippi oder Arkansas zum Beispiel wurden bis zu zehn Prozent der Kinder schon mal in der Schule mit Schlägen »diszipliniert«.
Als Faustregel gilt: Je christlicher und konservativer die Gegend, desto häufiger die Prügel. Schließlich steht es in der Bibel. »Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er«, heisst es sogar im Neuen Testament. »Wo kommen wir hin, wenn ich nicht mal mehr machen darf, was in der Bibel steht?«, fragt entrüstet ein Vater in Kentucky. »Einmal den Hintern versohlen hat noch keinem geschadet«, kommentieren erstaunlich viele Eltern auf Facebook, während andere entsetzt beklagen, man lebe doch nicht mehr im Mittelalter.
Professor Dick Startz von der University of California Santa Barbara fand außerdem heraus, dass die Prügel nicht alle Hintern gleichmäßig treffen: Schwarze Kinder werden doppelt so häufig in der Schule geschlagen wie weiße. Den ultra-christlichen Schlägern kann man nur empfehlen, einen Blick in die Coleman Grundschule in Baltimore zu werfen. Die Schule liegt in einem Gebiet, das man als Problemviertel bezeichnen könnte: 80 Prozent der Schüler leben unterhalb der Armutsgrenze, viele bekommen daheim zu wenig zu essen, Gewalt und Drogensucht sind an der Tagesordnung. »Ich habe erlebt, dass ein Kind reinkommt, mir direkt ins Gesicht schaut und ohne jede emotionale Regung sagt: Mein Großvater wurde gestern erschossen«, erzählt Andres Gonzalez, Mitgründer der Holistic Life Foundation. »Man kann sich vorstellen, womit diese Kinder zu kämpfen haben.«
Die Schule hat gerade deshalb beschlossen, Gewalt nicht mit Gewalt zu vergelten. »Wir versuchen wirklich unser Bestes, die Schule zu einem Ort zu machen, an dem sich die Kinder sicher fühlen und wo wir auf ihre Bedürfnisse eingehen«, meint Schulleiterin Carlillian Thomas. Sie hat mit der Holistic Life Foundation ein Aufsehen erregendes, preisgekröntes Pilotprojekt eingerichtet: Jeder Schultag beginnt und endet mit 15 Minuten Meditation. Die Kinder sitzen still, Augen geschlossen, und konzentrieren sich auf ihren Atem. Wenn ein Kind aufmüpfig oder gar gewalttätig wird, schicken es die Lehrer in den »Mindful Moment«-Raum. Dort werden sie nicht mit Schlägen, sondern mit Lavendelduft und lila Meditationskissen empfangen.
Das wirklich Erstaunliche ist der Effekt: »Die Kinder kommen rein, vielleicht aufgewühlt, und dann nehmen wir diese negative Energie und fokussieren sie auf etwas Positives«, sagt Thomas in einer CNN-Dokumentation. »Statt zu raufen, lernen sie, Konflikte friedlich beizulegen. Seit wir das Programm eingeführt haben, mussten wir keinen einzigen Schüler mehr suspendieren.« Das Programm ist so erfolgreich, dass es bundesweit ausgedehnt werden soll. Das einzige Holz, das dann den Kinderhintern berührt, ist das Holz der Meditationsbank.