VORGESCHICHTE
Als er sie das erste Mal sieht, am Fuße des Tafelbergs, ist sie eine von vielen. Aber sie fällt ihm gleich auf. Wir schreiben das Jahr 1672. So kam sie zu uns.
Paul Hermann ist in Eile. Nur zehn Tage dauert der Aufenthalt am Kap der Guten Hoffnung. Zehn Tage, um Vorräte zu beschaffen und die Kranken zu versorgen. Etliche Männer sind verendet auf der viermonatigen Überfahrt von der friesischen Insel Texel, er hatte ihnen nicht helfen können. Und als er dieses Schiff des Todes endlich verlassen kann, da findet er sie – das blühende Leben.
Es ist kein Zufall. Paul Hermann, 26 Jahre alt, geboren in Halle an der Saale, zu Hause an der Universität im niederländischen Leiden, hat sich auf diese verfluchte Reise gemacht, weil er nicht nur Doktor der Medizin ist, sondern auch Botaniker. Die Niederländische Ostindien-Kompanie hatte einen Arzt gesucht, der in Ceylon, heute Sri Lanka, verhindern sollte, dass die Mitarbeiter in der tropischen Hitze krepieren. Und Paul Hermann hatte nach einer Möglichkeit gesucht, die Pflanzenvielfalt unter der tropischen Sonne zu erkunden. Schon der Zwischenstopp am Südende Afrikas überwältigt ihn.
Der Tafelberg, bewuchert von grotesken Bäumen, erhebt sich aus einem Blütenmeer. Gladiolen, blaue Lobelien, die schlohweiße Zimmercalla. Bis das Schiff ablegt, hat Paul Hermann 800 bis dahin unbekannte Gewächse gefunden. In den zehn Tagen am Kap sammelt Hermann, was wir bis heute in Gärten und auf Balkonen pflanzen.
Sie ist etwas Besonderes inmitten des Besonderen. Bis zu zwei Meter hoch, ihre Blüten lassen die Hänge, durch die Paul Hermann schreitet, purpurn leuchten. Es gibt bis zu 280 Pelargonienarten, allein fünfzig davon um Kapstadt. Die Königin wird später Pelargonium cucullatum genannt, sie hat nicht viel gemein mit jenen Pflanzen, die wir heute Pelargonien nennen. Wir nennen sie ja nicht mal Pelargonien, wir nennen sie: Geranien. Geranien, das sind kurz geratene Hybride der Pelargonium peltatum, hängend, oder der Pelargonium zonale, aufrecht wachsend. Geranien, das sind: bayerische Balkone. Rot und weiß.
Kännchenkaffee. Alte Bundesrepublik. Älter noch. Schon 1852, als die Menschen wegen Pionieren wie Paul Hermann und der Kap-Pflanzen, die er nach Europa gebracht hatte, nicht mehr nur Gemüse in ihren Gärten anbauten, war die Geranie laut der Zeitschrift Gartenflora eine »Modepflanze«.
Bis heute kaufen die Deutschen keine Blume lieber, bis zu 140 Millionen Geranien im Jahr, das sind 25 Prozent des B&B-Gesamtmarkts, Beet und Balkon. Sie leuchtet längst nicht mehr nur rot und weiß, sondern wieder in fast allen Farben, wie damals am Tafelberg, heute ist sie überall zu haben, 1,70 Euro, 2,49 Euro, Pflanzencenterstandard. Aus dem Mitbringsel eines Abenteurers wurde das Symbol der Spießigkeit.
Paul Hermann schickte einige Gewächse vom Kap mit dem nächsten Schiff in Richtung Niederlande. Er konnte nicht wissen, welche Pflanzen die Reise überleben würden, die selbst gestandenen Männern zu viel war.
Sie war die zäheste.
KAPITEL 1: TOBIAS DÜMMEN
KAPITEL 1
TOBIAS DÜMMEN
Die ist nicht wegzudenken, sagt Tobias Dümmen, der Herr über die Geranien, Chef des Jungpflanzenbetriebs Dümmen. Dümmen zieht Stecklinge heran, die er bewurzelt oder unbewurzelt an Gärtnereien verkauft, bei denen die Pflanzen dann für den Verbraucher heranwachsen. Die Geranien-Hauptsaison bei Dümmen ist im Winter. Wenn die Geranie ab April in der Blüte und in den Läden steht, kümmern sie sich schon wieder um den Weihnachtsstern.
Andere Pflanzen sind lukrativer, Petunien, Calibrachoa. Oder Confetti, das ist besonders angesagt, die Dümmens haben es erfunden: drei verschiedene Gattungen in einem Topf. Aber die Geranie stößt nichts vom Sockel, sagt Tobias Dümmen, die muss man machen, auch wenn die Marge gering ist.
An der Geranie, sagt Dümmen, gibt es nicht mehr viel zu verbessern, jeder neue Standort hat sie stärker gemacht. Die Dümmen-Geranien wachsen seit den Siebzigerjahren nicht mehr im heimischen Rheinberg am Niederrhein, sie kamen erst aus Israel, ab den Achtzigerjahren dann aus Teneriffa, und seit zehn Jahren kommen sie aus Äthiopien. Verbessern kann man nur das Image der Geranie. Sie heißt jetzt »Savannah« oder »Big Easy«, die Namen erdenkt Dümmens Frau Sonja. Sie inszenieren die Geranien in stimmungsvollen Bildern und schreiben »Cottage Dreams« drüber. Pflegeleicht, das heißt heute: »Convenience«.
Die Dümmens betreiben viel Aufwand für diese Pflanze, die einfach zu halten und schwer zu züchten ist. Die Geranie ist ein Hightech-Produkt geworden. In Rheinberg entwickeln sie Kreuzungen, die in Äthiopien herangezogen werden, wo sie schneller wachsen. Die Samen dieser Pflanzen kommen zurück nach Rheinberg. Hier müssen sich die Geranien beweisen, schließlich müssen sie später in Deutschland überleben, nicht im paradiesischen Klima Afrikas. Gerade testen sie die Geranien für die Saison 2017, dunklere Blätter, kräftigere Stängel, auch mal einfachblühend, jede Farbe, außer Blau und Gelb, kombiniert mit jeder Eigenschaft. 90 Geraniensorten vertreibt Dümmen. Die neuen Modelle werden im Rheinberger In-Vitro-Labor gegen Krankheiten resistent gemacht und kommen in das Gewächshaus, das sie Elite nennen oder Nuk-leus. Der Nukleus, das ist Dümmens Schatz. Dort gedeihen die Uroma-Pflanzen, die Vorfahrinnen aller Dümmen-Geranien. Aus ihnen werden in Äthiopien die Stecklinge multipliziert, die Dümmen am Ende verkaufen will.
55 Millionen Stecklinge kommen pro Saison aus Äthiopien nach Rheinberg, in Plas-tikbeutel und gut gekühlte Kisten verpackt. 30 Millionen davon sind für den deutschen Markt bestimmt. Etwa 25 Cent erhält man für einen bewurzelten Geranien-Steckling.
Wenn Tobias Dümmen vom Labortrakt zurück in sein Büro geht, kommt er an der Vergangenheit vorbei. Das Haus seiner El-tern ist ein bescheidenes Haus, die Fassade geklinkert, der Rasen gemäht, so ist Düm-
men aufgewachsen. Die Eltern wohnen hier noch immer, auch wenn sie aus dem Unternehmen ausgeschieden sind, wie man so sagt, aber ihr Haus am Ende des Dammwegs im Rheinberger Stadtteil Eversael ist nach wie vor das Zentrum des Firmengeländes. In derselben Straße stand der Bauernhof, den Großvater Hans-Werner Dümmen, ein Gärtnermeister, übernahm, als er aus dem Krieg zurückkam. Und neben diesem Haus standen die ersten Gewächshäuser, die der alte Dümmen 1962 mit Tobias Dümmens Vater Günter errichtete.
Das Elternhaus ist heute eingezwängt zwischen dem unendlichen Glas und Plastik der Produktionshallen. Wenn man so will, ist das Haus die Wurzel und die Dümmen Group die Pflanze, die daraus gewachsen ist, aber immer häufiger fragte sich Tobias Dümmen, gelernter Gartenbauer, ob die Wurzel überhaupt noch stark genug ist, das alles zu tragen. Ihre Züchtung: zu klein. Die Massen, die sie produzierten: zu groß.
Wir haben immer nur geackert, sagt Dümmen. Wir sind Anpacker. Wir wollten immer unabhängig sein. Eigenes Bewurzelungssystem. Eigenes Packsystem. Wir waren nie im Rotary Club, wir haben keine Netzwerke gepflegt. Wir sind Bauern.
Dümmen lernt Vertreter der niederländischen Agribio-Gruppe kennen. Vor zwei Jahren wird der Zusammenschluss verkündet, die Fusion ist in vollem Gange. Es entsteht ein Unternehmen mit 6000 Mitarbeitern weltweit und einem jährlichen Umsatz von 175 Millionen Euro. Anteilseigner sind die Dümmens, ihr Management sowie die Investmentfirma H2 Equity Partners. Agribio kümmert sich um die Schnittblumen und Topfpflanzen, Dümmen um die Beet- und Balkonpflanzen und die Weihnachtssterne. Sie machen weiter, als wäre nichts geschehen. Wir sind nach wie vor ein Familienbetrieb, sagt Tobias Dümmen. Sie machen das doch für die Leute hier.
Nur: In Rheinberg arbeiten für Dümmen 200 Leute an der Geranie. In Äthiopien sind es fast 2000.
Mit jedem neuen Produktionsstandort wurde die Geranie nicht nur besser, sondern auch billiger, das war es ja, was der Markt sich unter einer guten Pflanze vorstellte. Die Leute wollen immer früher im Jahr ihre Blumen eintopfen, sie wollen sich nicht groß um die Dinger kümmern – und wenn was vergeht, fahren sie eben im Sommer ein zweites Mal ins Gartencenter.
Auf Teneriffa hatte für sechs Euro die Stunde niemand mehr Geranienstecklinge schneiden wollen. Sie mussten polnische Saisonkräfte mit dem Ferienflieger auf die Kanaren bringen. Dann kam Anfang der 2000er-Jahre der Tipp mit Äthiopien, optimale Klimadaten. In Kenia, wo bis dahin die meisten Blumen für Europa wuchsen, war es schwierig geworden, etwas zu finden. In Äthiopien waren sie die Ersten. Man zeigte ihnen eine Farm, gut hundert Kilometer von der Hauptstadt Addis Abeba entfernt, ehemals staatliche Landwirtschaft, 600 Hektar. Aber dann vergingen Jahre. Der Sozialismus sitzt noch tief, sagt Tobias Dümmen.
Irgendwann kam der Anruf aus dem Konsulat in Frankfurt am Main: Der Wirtschaftsminister sei da, schnell. Okay, sagte der Minister, ihr könnt investieren! Die Übergabe fand im Regen statt, die lokale Prominenz aus der Oromia-Region hatte sich herausgeputzt. Dümmen sah aus seinem Jeep die Kinder, die versuchten, mit dem Wagen Schritt zu halten, der über die matschigen Straßen rumpelte, und er dachte: Hoffentlich geht das gut.
Seitdem ist die Firma Dümmen aus Rheinberg am Niederrhein auch ein äthiopisches Unternehmen. Tobias Dümmen sagt, er liebt das Land. Es ist das Gegenteil vom Klinkerhaus. Ihm wird nicht mehr schlecht, wenn er Injera isst, diesen Sauerteigfladen.
Ob man seine Geranien in Äthiopien besuchen kann? Dümmen ringt sehr lange mit sich. Wegen dieser Sache vor zwei Jahren. »Brechmittel im Treibhaus«, stand über dem Spiegel-Artikel. Die »Christliche Initiative Romero« sprach von »menschenunwürdigen« Bedingungen in Dümmens Red-Fox-Betrieb in El Salvador. Die Arbeiterinnern litten unter giftigen Chemikalien und Repressalien und erhielten Hungerlöhne. Dümmen ließ verkünden, er zahle 150 Prozent des Mindestlohns vor Ort und alle Sicherheitsbestimmungen würden eingehalten. Die Meinungen gehen da bis heute auseinander. Mit der Initiative trifft sich Dümmen regelmäßig, in Anwesenheit einer Moderatorin. Die Initiative lobt, es habe sich etwas getan, sei aber noch ein weiter Weg. Dümmen ist noch immer persönlich beleidigt. Sein Vater, in einer evangelischen Freikirche aktiv, fuhr gleich nach dem Bericht zur Initiative und sagte: Wir sind doch auch Christen. Im Firmenleitbild steht, in Verantwortung vor Gott und in gegenseitiger Achtung untereinander. Wir wollen doch nur gute Pflanzen machen!
Aber was sind heute gute Pflanzen? Billige?
Von der Farm bis zum Flughafen Addis Abeba brauchen die Geranien etwa zwei Stunden.
Tobias Dümmen weiß, dass es Themen gibt, bei denen man keine Chance hat, die man nie wieder loswird. Die Chemie. Interessiert niemanden, dass sie immer weniger benutzen. Oder die Klimabilanz. Sie haben das durchgerechnet: Es würde demnach mehr Energie kosten, so viele Geranien im deutschen Winter zu beheizen, als sie um die Welt zu fliegen. Aber wenn die Leute hören, dass die Geranien mit dem Flugzeug kommen, schreiben sie wieder Mails an den Dachverband. Es gibt Themen, über die spricht die Branche nicht, selbst wenn sie etwas zu sagen hat.
Er hat nichts zu verbergen in Äthiopien, sagt Tobias Dümmen. Aber die Leute fragen ja auch gar nicht, woher die Geranien kommen.
KAPITEL 2: BRUCE HAMILTON
KAPITEL 2
BRUCE HAMILTON
Bevor Bruce Hamilton aus Südafrika kam, wie einst die Geranie, fragte er seine Frau: Ganz ehrlich, wie absurd ist es, in Äthiopien Geranien anzubauen? Und die Frau sagte: Ganz ehrlich? Sehr.
Äthiopien ist eines der ärmsten Länder der Welt, gut 35 Prozent der Bevölkerung leben in extremer Armut, immer wieder kommt es zu Hungersnöten. Warum baut ihr kein Gemüse an für die Äthiopier, wenn der Boden so fruchtbar ist?, fragte die Frau, Blumen brauchen die Leute in Äthiopien nicht. Die Frau blieb mit den Töchtern in Südafrika.
Betrachtet man es nüchtern, sagt Bruce Hamilton, und er ist ein nüchterner Mensch, stimmt das nicht ganz. Die Leute brauchen keine Blumen, aber das Geld, das die Blumen bringen, brauchen sie. Im zurückliegenden Jahr wurden aus Äthiopien 20 000 Tonnen Blumen exportiert, im Wert von mehr als achtzig Millionen Euro. Es kommt auch immer mehr Obst und Gemüse aus Äthiopien. Das klingt verrückt, ich weiß, sagt Bruce Hamilton, seit zwei Jahren der Manager von Red Fox Äthiopien, der Statthalter von Tobias Dümmen, aber es kann alles sinnvoll sein.
Sie haben die Highschool mitfinanziert im nahe gelegenen Dorf Koka. Sie haben Brunnen bauen lassen. Sie haben die betriebseigene Krankenstation eingerichtet, und das nicht nur, damit sie die vielen Krankmeldungen prüfen können, die angeblich kommen, wenn mal wieder ein Feiertag ist oder kurzfristig auf einem anderen Feld besser gezahlt wird. Sie spendieren den HIV-infizierten Mitarbeiterinnen, von denen es viele gibt, ein Mittagessen. Und: Sie zahlen gute Löhne. Als er das sagt, stockt Bruce Hamilton, und sein Sonnyboy-Gesicht weicht einem Flehen. Gut für hiesige Verhältnisse, sagt er – bitte, vergessen Sie die europäischen Gehälter, solange Sie hier sind.
Anfang Januar ist die Gegend um Koka trocken. Die Bauern schichten Stroh zu Haufen, die größer sind als ihre Lehmhütten. Wasser ist knapp. Kühe und Ziegen blockieren die einzige asphaltierte Straße. In der Ferne scheuchen die Nomaden ihre Kamele. Diese flache Landschaft wird nur von den gi-
gantischen Gewächshäusern durchbrochen. Auch Dümmens Konkurrenten Syngenta und Florensis sind in der Nachbarschaft. Die Zelte stehen in der Gegend wie Raumschiffe.
Der durchschnittliche Monatslohn in Äthiopien beträgt umgerechnet 33 Euro. Eine normale Arbeiterin verdient bei Red Fox oder Dummen, wie Bruce Hamilton sagt, inklusive Geschwindigkeits- und Anwesenheitszuschlägen 70 Euro im Monat. Eine Gruppenleiterin 150 Euro. Ausgebildete Agronomen mindestens 250 Euro. Bereichsleiter 300 Euro. Wir haben uns mit den Gewerkschaften geeinigt, sagt Bruce Hamilton. Am Anfang, vor seiner Zeit, kam es regelmäßig zu wilden Streiks, und als Tobias Dümmen in der deutschen Botschaft fragte, ob es in Ordnung sei, die Federal Police zu rufen, sagte man ihm: Lieber nicht. Sie kennen doch die Geschichten. Von Folter und Verschwinden.
Wenn Sie hier Geschäfte machen, sagt Bruce Hamilton, müssen Sie sich natürlich ein Stück weit arrangieren mit diesem Staat – es ist kein Rechtsstaat, wie ich ihn mir wünsche, es ist an vielen Stellen ein korrupter und repressiver Staat. Aber was am meisten hilft, davon bin ich überzeugt: daran mitzuarbeiten, dass er sich öffnet!
Zu Hause in Südafrika fragen ihn Freunde: Na, verschmutzt du immer noch das Wasser der armen Äthiopier? Bruce Hamilton weiß, was man sich erzählt. Über die Inder und die Chinesen, über die Rosenplantagen. Auf denen wild gesprüht wird. Die das Wasser verschwenden und kontaminieren, sodass Kinder krank werden und Seen verenden. Über Land, das Bauern genommen und Firmen geschenkt wird. Was soll ich sagen, sagt Bruce Hamilton, es gibt schwarze Schafe. Auch wir verbrauchen viel Wasser, aber wir sind die Einzigen, die eine Wasseraufbereitungsanlage haben, einen geschlossenen Kreislauf. Wir haben alle Zertifikate, MPS, ABC, GAP, SQ.
Hamilton führt ein einsames Leben in Koka. Er bewohnt eine der Villen hinter den Gewächshäusern der Red-Fox-Plantage. Wenn er mit dem Firmenjeep durch den Staub von Koka fährt und den Lastwagen ausweicht, die sie hier »al-Qaida« nennen, weil sie so viele töten, dann freut er sich, wenn man ihm freundlich »Forengi« nachruft, Fremder, auch wenn er so fremd nicht mehr ist. Diese Äthiopier, sagt Bruce Hamilton, sind ein stolzes Volk, mit ihrem eigenen Alphabet und ihrer eigenen Zeitrechnung. Sie lassen sich nichts vorschreiben. Sein Vorgänger, auch aus Südafrika, war erledigt, nachdem er einmal ausgerastet war ob der Langsamkeit der Behörden und der Sturheit der Leute, er hatte was von »Affen« gebrüllt. Wenn Bruce Hamilton in seinem Jeep sitzt und sich wieder einmal fragt, wo Koka eigentlich anfängt und aufhört und wenn er die vom Kat bedröhnten Männer am Straßenrand sitzen sieht, dann wundert er sich, dass inmitten dieses Chaos jeden Tag zwei Millionen Geranien geschnitten werden. Dass auf seiner riesigen Plantage aus dem Gewusel plötzlich Ordnung wird. Dass alle Arbeiterinnen morgens dazu kommen, ihr Werkzeug zu holen, und alle Cool-Boys die zarten Stecklinge mit ihren rollenden Boxen meistens rechtzeitig in die Kühlhalle bringen, bevor sie gelb werden. Dass der Laster fast immer pünktlich die neue Autobahn nach Addis Abeba erreicht, die die Chinesen gebaut haben. Und dass am Ende eine 777 der Ethiopian Airlines oder eine Maschine der Lufthansa mit Stecklingen gefüllt wird.
Er schreibt seiner Frau, dass es gut ist. Er schreibt, dass sie hier zum Kaffee traditionell Popcorn servieren.
Es mag schon sein, sagt Bruce Hamilton, dass das Regime von unseren Investitionen profitiert. Aber die Frage ist, ob es den Leuten ohne uns in diesem Regime besser ginge.
KAPITEL 3: REBEKKA UND EMEBET
KAPITEL 3
REBEKKA UND EMEBET
Manchmal versucht die Arbeiterin, die anonym bleiben will, nennen wir sie Rebekka, sich vorzustellen, welche Reise die Stecklinge, die sie jeden Tag schneidet, 2,75 Zentimeter vom Ansatz des Austriebs bis zur Schnittstelle, 2,4 Beutel pro Stunde, noch vor sich haben. Letztens zeigte ihr eine Freundin, die
im Züchtungshaus arbeitet, wie es aussieht, wenn diese Stecklinge, die sie tagtäglich aus dem horizontlosen Meer aus grünen Geranien fischt, so richtig blühen. Geranienblüten sieht man in den Gewächshallen selten, die Pflegetruppen pflücken sie, wenn welche hervorkommen. Es geht hier nur um die Stecklinge.
Wie sieht es aus in Deutschland, wo die Blumen blühen?, fragt Rebekka.
Acht Stunden am Tag steht Rebekka mit ihrer Pflücktruppe in der Gewächshauswärme, die Ventilatoren rauschen, man hört das Schnippen der Schneider, geredet wird wenig. Rebekka macht das seit zwei Jahren, seit einem Jahr fest angestellt, sie ist zwanzig Jahre alt. Ihre Freundin ist auch in der Truppe dabei, sie ist 18, sagt Rebekka, aber sie sieht jünger aus. Arbeiterinnen unter 18 werden offiziell nicht eingestellt, aber wer hat hier schon Papiere. Die Frauen stehen Schlange, wenn Red Fox neue Kräfte sucht, jeder aus der Gegend will hier arbeiten. Oder: jede. Es sind nur wenige Männer zu sehen in den acht Gewächshäusern, wenn, dann arbeiten sie in der Kühlung oder im Transport. Die Männer, sagt Rebekka, warten lieber auf besser bezahlte Aushilfsjobs auf den Feldern oder als Lkw-Fahrer. Der Vater ihres zweijährigen Sohnes wartet schon sehr lange, sie leben nicht zusammen. Rebekka wohnt bei ihrer HIV-
infizierten Mutter und dem HIV-infizierten Bruder, zwölf Jahre alt, der wohl bei seiner Geburt infiziert wurde. Die Mutter achtet auf Rebekkas Sohn in den zehn Stunden, die sie von 7 Uhr bis 16 Uhr auf der Plantage arbeitet.
Ist es eine gute Arbeit?
Es ist die einzige Arbeit. Es gibt Geld. Es ist schwierig, mit diesem Geld regelmäßig Fleisch zu kaufen oder ausreichend Kleidung für den Sohn. Aber es ist mehr Geld, als davor da war, sagt Rebekka. Es ist besser als nichts.
Rebekka deutet hinüber zur Vorarbeiterin ihrer Truppe, die streng die Beutel kontrolliert, auf denen noch ein Barcode klebt, der die Arbeit jeder einzelnen Pflückerin nachvollziehbar macht. Die Vorarbeiterin trägt eine blaue Schürze, keine rote wie die Arbeiterinnen. Die verdient mehr, sagt Rebekka. Auch die Assistentin der Vorarbeiterin verdient mehr. Das ist mein Ziel, sagt Rebekka.
Emebet Sime hat auch ganz unten angefangen. Sie war die Schnellste in ihrer Truppe, die Pflanzen lagen gut in ihrer Hand, sie hatte ein Auge für die Stecklinge, die gebraucht wurden, sie füllte die Beutel schnell, jeder sah es. Sie kam in das Elite-Haus, für das man sich ganz ausziehen und in einen Overall schlüpfen muss. Und jetzt ist sie, 27 Jahre alt, die Leiterin der Vermehrungsabteilung, immer noch genauso leise wie am ersten Tag bei Red Fox, aber die Kolleginnen sagen, sie lächle jetzt ab und zu.
Emebets Geschichte erzählen sich die Arbeiterinnen. Und die von Genet Ayele, der studierten Agronomin, die heute Bruce Hamiltons oberste Managerin ist. Oder die von Misrak Mekuria, die die Züchtung leitet und die Verantwortung hat für die Geranien der Zukunft und jede Woche mit ihrem niederländischen Vorgesetzten skypt. Oder die Geschichte von Mosisa Teferi, der in der Verwaltung arbeitet. Es arbeiten, und darauf ist Bruce Hamilton stolz, in der 16-köpfigen Führungsebene nur noch vier Nicht-Äthiopier. »Das motiviert jede Arbeiterin«, sagt Hamilton, »dass sie theoretisch rasch mehr verdienen können.« Theoretisch. Es träumen natürlich mehr Arbeiterinnen von einem Aufstieg, als es Aufstiegschancen gibt, das Barcode-System ist gnadenlos: So schnell wie Emebet ist selten eine.
Am orthodoxen Weihnachtsfeiertag sitzt Emebet Sime mit ihrem fünf Jahre alten Sohn und ihrem Mann im schattigen Wohnzimmer ihres Häuschens in der Stadt Nazret. Den Hof und die Küche und die Toilette teilen sie sich mit drei anderen Familien. Neben dem Fernseher, auf dem CNN läuft, steht ein Tannenbaum aus Plastik.
Vielleicht, scherzt der Mann, kommen eure deutschen Weihnachtsbäume auch bald aus Äthiopien!
Emebet sieht ihn streng an. Die würden hier nicht wachsen, sagt sie. Wir machen keine Tannenbäume. Sie sagt oft »wir«, wenn sie von der Arbeit spricht. Emebets Mann arbeitet für einen Rosenbetrieb in Addis Abeba. Er sagt, ihm sind Rosen egal. Emebet sagt, man muss die Geranie mögen, damit sie wächst. Manchmal denkt sie, sie müsste der Geranie dankbar sein. Das alles, sagt sie und zeigt auf den Fernseher und das Bild an der Wand, auf dem sie einen Doktorhut trägt, das alles kommt von der Geranie. Im vergangenen Jahr hat sie ihren Business-Abschluss gemacht an der Abend-Universität, die Firma hat sie unterstützt. Sie weiß selbst nicht, wann sie das alles geschafft hat, der Mann ist ja unter der Woche bei den Rosen in Addis.
Am folgenden Tag kommt es auf der Straße von Koka zu einem Gespräch zwischen Emebets Kollegen Mosisa Teferi und dem Englischlehrer der Highschool, die Dümmen finanziert hat. Der Lehrer erzählt, dass er weniger verdient als eine Vorarbeiterin bei Red Fox.
Natürlich, sagt Mosisa, du musst aus dem Staatsdienst raus. Ich habe vom Gehalt im Landwirtschaftsministerium auch nicht leben können. Bewirb dich bei Red Fox.
Ich weiß nicht, sagt der Lehrer. Es ist gut, dass die da sind, die Frauen hier waren früher arbeitslos, nahmen Drogen, verkauften sich. Aber wenn Red Fox das Beste ist, das ich erreichen kann, steht es schlimm um uns alle.
Warum?, fragt Mosisa. Ich besitze zwei Häuser, meine Kinder besuchen eine Privatschule. Es könnte mir nicht besser gehen.
Schön für dich, sagt der Lehrer. Aber uns anderen geht es schlecht. Ich kann mir von meinem Lehrergehalt keine Wohnung mehr leisten. Wir können doch nicht alle Blumenexperten werden. Braucht es denn keine Lehrer mehr? Sollen wir ein Land der Blumenzüchter werden? So viele blöde Blumen braucht die Welt nicht.
KAPITEL 4:MAGDALENA MORAWIN
KAPITEL 4
MAGDALENA MORAWIN
Es gibt mehr Leute, die Geranien stecken wollen, als es Geranien gibt, sagt Magdalena Morawin. Jeden Tag bekommt sie Hunderte Anrufe. Immer ist die Frage: Braucht ihr noch jemanden für die Blumen? In den Bussen, die aus Polen an den Niederrhein und weiter in die Niederlande fahren, spricht sich herum, dass man bei Dümmen gut arbeiten kann, sagt Morawin. Alle festen und saisonalen Stellen sind jedoch vergeben, auch für nächstes Jahr. In der Halle, in der die frischen Stecklinge aus Äthiopien ankommen, arbeiten mittlerweile fast ausschließlich polnische Hilfskräfte. Auf der Rückseite der Halle stehen die Container, in denen sie wohnen in den Monaten hier, es sind schmucklose, aber neue Wohnzellen für je zwei Personen.
Magdalena Morawin arbeitete im Arbeitsamt von Breslau, als ein Inserat auf ihrem Schreibtisch landete. Eine Firma Dümmen aus Rheinberg in Deutschland suchte Saisonarbeiter in der Steckhalle. Da sagte Magdalena Morawin ihrem Chef, dass sie ein paar Monate nicht kommen wird, und fuhr nach Deutschland. Vielleicht könnte sie sich mit den Blumen das Geld für ein Auto verdienen, dachte sie. Das war vor 15 Jahren.
Magdalena Morawin ist in Rheinberg geblieben. Sie arbeitete sich schnell zur Steckleiterin hoch, heute ist sie in der Produktionsleitung für die Saisonkräfte zuständig. Ihren Mann, auch aus Polen, hat sie in der Steckhalle kennengelernt. Sie haben nicht nur ein Auto, auch eine Wohnung. Morawin ist nie wieder ins Arbeitsamt von Breslau zurückgekehrt, aber eigentlich ist sie ein Eine-Frau-Arbeitsamt geworden, manchmal denkt sie, halb Polen hat ihre Telefonnummer, aus jeder Stadt, aus jedem Milieu. Sie hatten sogar schon mal einen Professor aus Warschau hier am Band.
Am Ende werden die bewurzelten Geranienstummel auf Platten gestellt und von einer Maschine in Kisten gepresst, dann verlassen sie auf Lastwagen Rheinberg, diesmal für immer. Die Vorarbeiterin beim Plattenpacken heißt Bernadetta Jakubitz, 31 Jahre alt, auch sie hat studiert, Pädagogik. In Polen fand sie nie eine Anstellung, sie kam vor zehn Jahren zu Dümmen, die Mutter nahm sie einfach mit. Hier hat sie auch ihren Mann kennengelernt. Sie sind mittlerweile aus dem Container ausgezogen.
Das Blöde ist, sagt Jakubitz, dass ich zu Hause nie mehr verdienen werde als hier. Ich komme nicht mehr weg von diesen Blumen.
Als an diesem Tag neue Stecklinge aus Äthiopien in Rheinberg ankommen und die Polinnen an ihren Plätzen sind, läuft Emine Karakus umher, eine kleine Frau mit einem großen Kopftuch, und wenn sie etwas sieht, was ihr nicht gefällt, dann ruft sie »Nie!« zu den fahlen Frauen am Band. Nein. So besser? »Tak!«, ruft Karakus. Ja. Karakus weiß auch, was Geranie auf Polnisch heißt, das ist einfach: Geranium, Gärahnium. »Früher Türkisch, heute Polnisch, kein Problem«, sagt Emine Karakus, und es klingt sehr Rheinisch. Früher waren es nur Türkinnen, sagt Karakus, die hier die Geranien ausgepackt und reingesteckt haben, sie war von Anfang an dabei. Die Männer waren im Bergbau. Der Bergbau ist weg, und die Kinder der Einwanderer, sagt Karakus, haben keine Lust mehr auf die Geranien-Arbeit, die nie gut bezahlt war, aber es gab früher auch nichts, wofür sie Geld ausgeben wollten, außer für das Häuschen in der Heimat, der anderen Heimat.
»Die Kinder sind wie Deutsche«, sagt Karakus, »die wollen nicht arbeiten für den Mindestlohn! Alle Deutschen wollen Geranien, aber kein Deutscher will Geranien stecken!«
Als Emine Karakus Tobias Dümmen sieht, schaut sie so entzückt, als würde sie ihren kleinen Enkel entdecken. »Da ist ein Deutscher!«, ruft sie. Sie kennt ihn von klein auf. Dümmen errötet.
Später sagt er: Das meine ich. Ich fühle mich für die verantwortlich. Genauso für die Mitarbeiter in Äthiopien. Der Genet, unserer Managerin dort, der wirklich niemand auf der Welt das Wasser reichen kann, wenn es um Pflanzenbau geht, habe ich Geld für ihr Haus geliehen. Die ist wichtig für uns. Die könnte auch in Rheinberg arbeiten. Für anderes Geld, versteht sich.
Wenn Dümmen manche Jungpflanzenkollegen hört, wie sie davon sprechen, dass die Blumenproduktion eines Tages wieder nach Europa zurückkommt, dank Bioreaktoren und anderem Schnickschnack, dann denkt er: Und dann? Wer geht nach Koka und erklärt es den Leuten?
Im Februar wird bekannt, dass die Dümmen Group in Kürze als erster Hersteller von Jungpflanzen weltweit mit dem Fairtrade-Siegel zertifiziert wird. Dümmen sagt: Da sehen Sie mal. Das kostet mich auch Geld. Er hat die Schnauze voll von der Gerechtigkeitsdiskussion.
Es ist nicht ganz klar, ob er dieses Siegel will, damit sichergestellt ist, dass in Äthiopien alles sauber läuft, oder damit er seine Ruhe hat. Die Leute sollen sehen, dass wir keine Unmenschen sind, sagt Dümmen.
Wenn ich nichts falsch machen will, sagt Dümmen noch, dann müsste ich mich selbst einbuddeln und keine Blumen.
Tobias Dümmen meint, die Welt ändert sich mit oder ohne ihn. Sicher ist nur, dass die Geranie dabei sein wird.
Fotos: Daniel Delang