»Es geht niemandem in der Ukraine besser, wenn wir alle niedergeschlagen sind«

Darf ich angesichts des Leids der Menschen in Ukraine überhaupt glücklich sein? Diese Frage bewegt gerade viele – oft begleitet von dem schlechten Gewissen, sich nicht genug für die Betroffenen zu engagieren. Die Psychotherapeutin Maren Lammers erklärt, woher dieses zutiefst menschliche Gefühl kommt und woran man erkennt, ob man seiner Verantwortung gerecht wird.

Maren Lammers ist Psychologische Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Hamburg. Sie hat mehrere Bücher über die Themen Scham und Schuld veröffentlicht, zuletzt: »Scham und Schuld – Behandlungsmodule für den Therapiealltag« (2020)

Foto: Katrin Schöning

SZ-Magazin: Frau Lammers, wir wollen über ein Gefühl sprechen, das viele Menschen gerade zu spüren scheinen: ein diffus schlechtes Gewissen gegenüber den Menschen, die den Krieg in der Ukraine erleben oder die davor geflohen sind, während es einem selbst recht gut geht. Dabei können wir ja nichts für diesen Krieg. Woher kommt also dieses Gefühl?
Maren Lammers: Es entspringt einer zutiefst menschlichen und sozialen Regung. In der Psychologie bezeichnet man sie auch als Überlebenden- oder Überlebensschuld. Obwohl der Begriff der Schuld darin steckt, handelt es sich um ein inneres Erleben, das prosoziales Verhalten aktiviert. Das ist sehr förderlich für Beziehungen, weil man sich in Verbindung zu anderen Menschen bringt. Das Phänomen wurde erstmals im Rahmen des Vietnamkriegs beschrieben.