»Man fürchtet, eine Angriffsfläche zu bieten«

Kaum etwas ist mit so viel Scham behaftet wie das Weinen. Der Psychologe Jens Tiedemann erklärt, warum es gut ist, wenn man seine Gefühle nicht jederzeit im Griff hat – und warum das unser Miteinander stärken kann.

SZ-Magazin: Herr Tiedemann, warum schämen sich viele Menschen ihrer Tränen, selbst wenn sie aus Euphorie oder Rührung weinen?
Jens Tiedemann: Weil wir damit für alle sichtbar preisgeben, wie es uns geht, uns bloßgestellt fühlen. Selbst bei Freudentränen schämen wir uns, weil wir strenggenommen auch da die Kontrolle über uns und unsere Gefühle verloren haben.

Gilt es denn noch immer als schwach, wenn man seine Gefühle zeigt?
Das hat viel mit der Selbstwahrnehmung zu tun. Wenn ich als Kind erlebt habe, dass sich ein Elternteil über meine Tränen lustig macht, kann diese Erfahrung dazu führen, dass ich als Erwachsener denke, ich sei schwach. Dann fühlt man sich unterlegen, man fürchtet, eine Angriffsfläche zu bieten oder kritisiert zu werden. Fallen dann Sätze wie: »Man kann dich nicht ernst nehmen, du bist ja emotional«, findet man seine Einschätzung bestätigt.