Theresa Olkus: Ich habe noch nie mit so einem Blick ein Glas Wein getrunken. Auf wie viel Metern Höhe sind wir jetzt gerade?
Sven Hannawald: Wie hoch wir genau sind, weiß ich gar nicht. Ich weiß nur, dass ich hier auch noch nie Wein getrunken habe. Vor allen natürlich nicht zu meiner aktiven Zeit.
Ist es für dich ein Stück Zuhause hier?
An Skispringen kommt halt einfach nichts ran, auch wenn ich nach dieser Zeit auch schon viele andere tolle Sachen ausprobieren durfte: Motorsport zum Beispiel. Ich freue mich immer wieder an einen der Orte zu kommen, an denen ich gesprungen bin. Hier ist das passiert, was ich als Kind immer erreichen wollte.
Wenn man hier oben sitzt, fragt man sich: Wie kann man sich hier oben abstoßen und die Schanze herunterstürzen?
Für mich ist das ja auch so. Wenn mich jetzt ein ehemaliger Trainer überraschen würde mit meiner Ausrüstung und sagen würde „Komm Hanni, wir probieren das noch mal“, würde ich das nicht machen. Skispringen ist ein Gewohnheitssport, der absolut nur mit Vertrauen funktioniert. Und das erarbeiten wir uns von ganz klein auf bis zu den ganz großen Schanzen. Ich hatte Zeiten, in denen ich fast gemeint habe, ich könne mit geschlossenen Augen springen.
Also kein Sport, den man einfach so am Wochenende machen könnte...
Nein, das nicht mehr. Aber auch im Skisprung gibt es Senioren-Meisterschaften. Für mich war es gut, dass es einen harten Cut gab. So überlegt man nicht, ob man nicht noch einmal anfangen sollte. Ich freue mich lieber mit denen mit, die den Sport heute machen. Letztlich bin ich schon so gepolt: Wenn ich was mache, möchte ich es richtig machen.
Was fasziniert die Leute so am Fliegen?
Ich kann es ja gut nachvollziehen. Es ist einfach das schönste Gefühl, das man erleben kann. Die Schwierigkeit ist natürlich, sich in eine Welt zu begeben, für die der Mensch eigentlich nicht geschaffen ist. Ähnlich wie im Wasser. Klar, gibt es Möglichkeiten, mit dem U-Boot in Tiefen zu tauchen, die fasziniert sind – aber eben auch gefährlich. Es ist der Reiz, das erleben zu können. Wir kommen dem Fliegen ja sehr nahe. Da sind ja nur noch der Helm und ein dünner Anzug. Beim Skisprung mit einer Flugzeit von fast neun Sekunden spürt man jeden thermischen Unterschied, jedes Luftloch. Das fasziniert einen.
Betrachtet man sich von außen in diesen neun Sekunden? Was denkt man dabei?
20 Prozent sind vielleicht Genuss. Der Rest konzentriert sich darauf, mit beiden Beinen zu landen und sicher rausfahren zu können. Träumen wäre fatal. Man muss beim Wesentlichen bleiben und sich konzentrieren.
Hat man das Vertrauen in den Wind, in die Schanze, in sich selbst?
Wir haben ja alles ausprobiert. Zu verschiedenen Wetter- und Windverhältnissen. Wir haben so viele Erfahrungen abgespeichert: Wie ist die Schanze? Wie sind die Kräfte? Ich erinnere mich, dass während einer Tournee mal ein neues Auto präsentiert wurde und die Skispringer dennoch eine schnellere Beschleunigung hatten. Damals waren das von null auf hundert in unter fünf Sekunden. So kann man sich vorstellen, welche Kräfte dort herrschen.
Lass uns auf die spektakuläre Aussicht anstoßen. Trinkst du ab und zu Wein?
Ab und zu. Ich bin jetzt nicht derjenige, der auf eine bestimmte Rebsorte schwört. Wenn ich aber Lust auf ein schönes Glas Wein habe, dann mache ich das auch. Nach dem Sport ist es aber eher ein erfrischendes Radler.
Viele kommen hierher in die Berge wegen der Luft, des Panoramas. In so einem Jahr wie diesem – könntest du dir auch vorstellen, in einer Weinregion Urlaub zu machen?
Ja. Ich glaube, dass wir wieder zurück dahin kommen, dass man wieder mehr Erholung in der Nähe sucht. In Deutschland geht das in Sachen Wein ja wirklich gut. Das ist vielleicht auch etwas, das uns Corona mitgibt: dass es hier so schöne Ecken zum Wohlfühlen gibt.
Die Scheurebe ist zum Beispiel typisch für Rheinhessen. Die Rebsorte ist bekannt für Ihre aromatisch-duftige Art und passt zum Beispiel gut zur asiatischen Küche. In welchen Momenten trinkst du Wein?
Wenn die Kinder im Bett sind, lasse ich gerne den Tag bei einem Glas sacken. Das ist mehr die Symbolik zum Abschalten. Muss man ja nicht mit einem Glas Wein machen – aber für mich ist das einfach Genuss.
Während der aktiven Zeit hast du aber vermutlich nichts getrunken?
Doch, das schon. Wir sind ja auch normale Menschen und trinken mal was. Zwischendurch wurde auch mal gefeiert. Ein Glas Sekt nach der Saison war schon drin. Aber natürlich selten.
2002 warst du der Erste, der die Vierschanzentournee mit vier Siegen gewonnen hat. Was war damals dein erster Gedanke?
Man merkt natürlich erst einmal, wie viel Arbeit das war. Natürlich realisiert man „ich hab’s geschafft“, aber hauptsächlich wird einem bewusst, wie hart der Weg war. Ich weiß noch, dass ich beim vorletzten Sprung oben saß und mir völlig Wurst war, ob ich das schaffe. Ich dachte „Hauptsache, das ganze Theater ist vorbei“. Du hast so einen Druck und merkst, dass der Rucksack immer schwerer wird. Dabei will man eigentlich nur frei sein und Skispringen. Klar bin ich stolz, dass ich der Erste war. Aber der Weg ist natürlich lange und als es vorbei war, war das eine große Erleichterung.
Wann hast du gemerkt, dass der Druck zu groß wurde?
Die Karriere war ja immer mit Höhen und Tiefen gespickt. Der Wille, die Tournee gewinnen zu wollen, hat mich immer getragen und über Wasser gehalten. Danach wurde es schwieriger. Ich hatte mich verletzt und wusste nicht wirklich, was mit mir los war. Beim Gesundheitscheck waren alle Ärzte zufrieden mit meinen Werten. Gefühlt habe ich mich aber, als würde ich einfach nicht mehr vorwärtskommen. Am Ende war es dann das Thema Burnout. Das Wort war mir damals neu. Ab dem Zeitpunkt der Diagnose war für mich greifbar, wie es Leuten mit Burnout geht. Heute akzeptiere ich das, weil ich meine Ziele im Skispringen erreicht habe.
Zur ersten Folge: Auf ein Glas Wein mit Sarah Kuttner
Zur dritten Folge: Auf ein Glas Wein mit Paul Ripke
Zur vierten Folge: Auf ein Glas Wein mit Gregor Gysi
Zur fünften Folge: Auf ein Glas Wein mit Hartmut Engler