Bretter, die die Welt bedeuten

Das gleiche Regal, verschiedene Aussichten: Wenn Menschen bei Straftaten psychisch krank waren, kommen sie nicht ins Gefängnis, sondern in den Maßregelvollzug. So lang, bis sie als »nicht mehr gefährlich« gelten. Wie richtet sich jemand ein, der nicht weiß, wann er wieder rausdarf?

Herr B.
Delikt Mord
Diagnose Paranoide Schizophrenie, Cannabis-Abhängigkeit
Unterbringungsdauer seit Juni 2005
Lockerungsstufe 3 (darf allein auf das Gelände, aber nur zu vorher festgelegten Zwecken)

»Ich mag Frauen. Vor allem, wenn sie schön geschminkt sind. Ich habe mich mit der Bibel beschäftigt. Eva hatte eben Lust und Verlangen nach etwas anderem. So sind Frauen. Die wollen ausgeführt werden und was zum Anziehen haben. Die mögen es, wenn man sich um sie kümmert. Ich mag es, dass man sich mit Frauen gut präsentieren kann.«

50 mal 80 Zentimeter, das ist der Platz von Frau B. und Herrn T., der kleine Raum, auf dem sie zeigen können, was sie besitzen, was ihnen wichtig ist, woran sie sich festhalten. 50 mal 80 Zentimeter messen die Regalbretter über den Betten in der Klinik Nette-Gut für Forensische Psychiatrie in der Nähe von Koblenz. 380 Menschen leben hier - 20 Frauen und 360 Männer - Sexualstraftäter, Mörder, Pädophile, Gewaltverbrecher, Dealer; Menschen, vor denen die Gesellschaft Angst hat; Menschen, die manche gern für immer wegsperren würden.

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Jeweils zwei von ihnen teilen sich in der Regel ein Zimmer: ein Bett für jeden, ein Schrank für jeden, ein Regal für jeden. Sie alle haben unter dem Einfluss einer psychischen oder einer Suchterkrankung Straftaten begangen und wurden von einem Gericht meist für schuldunfähig oder vermindert schuldfähig erklärt. Deswegen sind sie nicht im Gefängnis, sondern im Maßregelvollzug, »zur Besserung und Sicherung«, wie es offiziell heißt. Wer krank ist, ist nicht schuld. Und wer nicht schuld ist, kann seine Strafe nicht nach einer festgelegten Zeit verbüßen. Er wird freigelassen, wenn er keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit darstellt.

Wie schwierig es aber ist, eine endgültige Wahrheit zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit zu finden, zeigt sich gerade im Prozess gegen den norwegischen Attentäter Anders Behring Breivik und die unterschiedlichen Bewertungen seiner psychischen Zurechungs- und damit Schuldfähigkeit. Denn wann ist ein Mensch psychisch gestört? Wann ist er allgemeingefährlich und wann geheilt? Das wurde auch vor dem Prozess in Oslo in letzter Zeit immer wieder diskutiert, seitdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Praktiken der Sicherungsverwahrung in Deutschland kritisierte, bei der Menschen nach der Haftstrafe weiter auf unbestimmte Zeit eingesperrt werden können.

Seitdem das Bundesverfassungsgericht die nachträglich verhängte Sicherungsverwahrung als verfassungswidrig erklärt  hat, wird vor Gericht, vor allem aber in Zeitungen und Talkshows weiter diskutiert: Es geht um Sicherheit und Würde, um gesetzliche und gefühlte Gerechtigkeit; es geht um Hafturlaub, der Tätern den Kontakt zum sozialen Außen ermöglichen soll. Und es geht um Schmerzensgeld, das denen zugestanden werden soll, die andere verletzt haben und die selbst verletzt wurden, weil sie rechtswidrig in Sicherungsverwahrung gehalten wurden. Lässt man Täter zu früh frei, ist die allgemeine Sicherheit bedroht. Hält man sie zu lange fest, verletzt man ihr Menschenrecht auf Freiheit. Das ist das Dilemma. Frei kommt, wer nicht mehr gefährlich ist. Das gilt auch im Maßregelvollzug: Doch bis zu dieser Einschätzung kann es Jahre dauern.

Die Klinik Nette-Gut liegt abgeschieden inmitten weiter Felder, in der Nähe verläuft eine Schnellstraße. Ein doppelter Zaun mit Stacheldraht umgibt das Gelände. Besucher müssen durch eine Schleuse wie am Flughafen und ihre Handys abgeben. Manche Patienten sind seit 25 Jahren in der Klinik, andere sind erst vor ein paar Monaten hierher gekommen. Manche sind psychisch schwer krank, einigen merkt man die Krankheit kaum noch an. Verschiedene Lockerungsstufen legen fest, wie frei sich die Patienten auf dem Gelände bewegen dürfen. Insgesamt gibt es neun Stufen: Stufe 1 bedeutet, man darf das Gelände nur mit Personal betreten; Stufe 4, man darf das Gelände mit Personal verlassen; Stufe 9 heißt, der Patient ist beurlaubt und kann versuchen, ein weitgehend normales Leben in Freiheit - allerdings unter Betreuung der Klinik - zu beginnen.

Den Patienten war es wichtig, anonym zu bleiben. Sie haben eine Ahnung davon, wie viel Ablehnung ihnen außerhalb der Klinik entgegenschlägt. Sie wollen nicht, dass ihr Leben in Freiheit noch schwerer wird, vorausgesetzt, sie können die Klinik überhaupt irgendwann verlassen. Dafür durften wir ihre Regalbretter fotografieren und fragen, was ihnen der kleine Fleck Atmosphäre bedeutet. »Es ist schon so, sagt ein Betreuer, dass man vom Zustand des Patienten schließen kann.« Ein Satz, der wahrscheinlich nicht nur für Patienten gilt.


Herr P.

Herr P.
Delikt
Sexueller Missbrauch von Kindern
Diagnose Pädophilie
Unterbringungsdauer seit August 2005
Lockerungsstufe 6 (Einzelausgang)

»Ich bin Filmliebhaber. Actionfilme mag ich besonders. Ich habe alle James-Bond-Filme. Wichtig ist mir in Filmen vor allem ein Happy-End. Ich glaube, dass ich selbst auf einem guten Weg in meinem Leben bin. Die Therapie läuft gut. Ich kann frei über mich und mein Delikt reden, ich bin präsent. Ich habe Lockerungsstufe 6, dieses Jahr kommt die 7 und dann die 8.«


Frau S.

Frau S.
Delikt Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
Diagnose Paranoide Schizophrenie, Verhaltensstörungen durch Opioide, Abhängigkeitssyndrom
Unterbringungsdauer seit September 2010
Lockerungsstufe 1 (darf nur mit Personal auf das Gelände)

»Mir ist Körperpflege sehr wichtig. Ich schminke mich auch. Aber nicht immer. Je nachdem, wie ich Lust habe. Ich habe keine Komplexe. Ich mag mein Aussehen. Vor allem mein Gesicht.«


Frau B.

Frau B.
Delikt
Bedrohung
Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung, Polytoxikomanie, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
Unterbringungsdauer seit April 2002
Lockerungsstufe 4(Ausgang mit Personal)

»Die Postkarten sind von meiner Freundin, die ich früher mal in der Psychiatrie kennengelernt habe. Wir halten über die Jahre Kontakt. Ich würde auch gern verreisen. Am liebsten in die USA, zum Grand Canyon oder nach Los Angeles. Aber das wird schwierig, weil die Amerikaner so strenge Einreisebedingungen haben. Man darf nicht psychisch krank, nicht straffällig und nicht drogenabhängig geworden sein -
alles Sachen, die auf mich zutreffen.«


Frau G.

Frau G.
Delikt
Versuchter Totschlag
Diagnose Histrionische Persönlichkeitsstörung, Transsexualismus, leichte Intelligenzminderung
Unterbringungsdauer seit März 1998
Lockerungsstufe 5 (Ausgang mit anderen Patienten oder Besuchern)

»Es gibt viele, die einfach in den Raum kommen, meine Sachen berühren, auf den Boden werfen, kaputt machen oder wegnehmen. Ich bin sehr misstrauisch und schließe alles in einen Schrank, um Ärger zu vermeiden. Zum Beispiel meine DVDs und CDs. Ich gucke alle möglichen Filme - von Western bis zu Heimatfilmen. Musik mag ich auch, bis auf Heavy Metal und Klassik. Ich sammle auch Bücher über Reisen, Psychologie und Musik. Und ich habe dreizehn Stofftiere im Schrank, aber die bedeuten mir nicht wirklich viel.«


Herr N.

Herr N.
Delikt Vergewaltigung
Diagnose Mittelgradige Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung, Alkoholmissbrauch
Unterbringungsdauer seit November 2002
Lockerungsstufe 4 (Ausgang mit Personal)

»Ich bin Bayern-München-Fan, weil ich die Mannschaft gut leiden kann. Sie ist meine Traummannschaft. Ich bin Mitglied im Fanclub. Die schreiben mir auch, zum Beispiel zum Geburtstag. Wenn Bayern spielt, schaue ich mir das im Fernsehen an. Und wenn ich hier rauskomme, möchte ich nach Bayern ziehen. Die Marienstatue habe ich selbst in der Beschäftigungstherapie gemacht. Das hat mir richtig Spaß gemacht. Ich bin gläubig und gehe oft in die Kirche. Für mich ist Religion auch ein Hobby.«

Herr M.

Herr M.
Delikt Gefährliche Körperverletzung
Diagnose Paranoide Schizophrenie, Verhaltensstörungen durch Cannabis-Missbrauch
Unterbringungsdauer seit August 2003
Lockerungsstufe 1 (darf nur mit Personal auf das Gelände)

»Am Anfang war ich aggressiv, nach einiger Zeit bin ich in die Gänge gekommen. Ich habe irgendwann einen Sinn in der Therapie gesehen und darüber nachgedacht, was schiefgelaufen ist. Da hat mir meine Mutter die ›Nike Shox‹ zur Belohnung geschenkt. Ich habe die Schuhe getragen, bis die Sohle abgelaufen war, aber wegwerfen konnte ich sie nicht. Das Bushido-Poster habe ich, weil er aus meiner Seele spricht. Der singt über das Ghetto. Und das ist nicht ein Ort. Das Ghetto ist in mir. Von klein auf.«


Herr M.

Herr M.
Delikt Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz
Diagnose Polytoxikomanie, narzisstische Persönlichkeitsstörung
Unterbringungsdauer seit März 2009
Lockerungsstufe 6 (Einzelausgang)

»Die Karte mit dem Spruch von Gandhi - Sei Du selbst die Veränderung, die Du dir wünschst für diese Welt - hat mir meine Oma geschickt. In diesem Spruch finde ich mich wieder. Ich halte mich an ihm fest. Das Kreuz, das am Regal hängt, habe ich im Gefängnis bekommen. Im Gefängnis habe ich zum Glauben gefunden. Ich spreche Gedanken und Hilferufe an Gott aus. Die meisten Hilferufe wende ich aber an meine Eltern. Sie unterstützen mich sehr, obwohl es sie viel Überwindung und eine lange Fahrtzeit kostet, hierher zu kommen.«


Herr T.

Herr T.
Delikt Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz
Diagnose Polytoxikomanie, spezifische Persönlichkeitsstörungen
Unterbringungsdauer seit April 2009
Lockerungsstufe 6 (Einzelausgang)

»Ich verbinde das Segeln mit Freiheit. Es stellt meine Sehnsucht nach Freiheit dar. Der Trimaran symbolisiert mich auf der Suche nach einem Ort, wo ich mich ausruhen kann. Der Leuchtturm ist der Platz zum Ausruhen. Ich hoffe, dass ich diesen Ort mal finden werde. Außerdem möchte ich gerne irgendwann segeln gehen, aber das werde ich mir nicht leisten können. Die Wurzel habe ich in der Gärtnerei gefunden. Ihre gewundene Form hat  mich fasziniert. Sie erinnert mich an menschliche Gedanken.«

Fotos: Christa Pfafferott