Die letzte Nachricht

Varda Pomeranz hat sich in Israel jahrzehntelang um die Hinterbliebenen gefallener Soldaten gekümmert. Nun ist sie es, die Trost braucht.

Gleich fährt Daniel Pomeranz mit sechs anderen Infanteristen im Transportpanzer in den Gazastreifen. Vorher aber muss er noch etwas erledigen. Der Kommandeur hat die Soldaten gebeten, Briefe zu schreiben. Letzte Worte, für den Fall der Fälle.

Daniel zieht sich in eine Ecke zurück, entsperrt sein Smartphone, öffnet die Pinnwand-App. Alle Soldaten besitzen diese App. Fünf Zettel schreibt Daniel, einen an Mutter Varda, einen an Vater Avi, drei an die Brüder Nimrod, Lior und Elad.

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21 Jahre alt ist Daniel, als er in der Nacht zum 20. Juli 2014 den Zettel für seine Mutter schreibt: »Ich bin glücklich, dass ich in dieser Familie aufgewachsen bin. Ihr habt mir Kraft gegeben. Wenn Ihr das hier lest, ist das ein Zeichen dafür, dass ich meine Karriere beendet habe. Es ist wichtig, dass Ihr wisst: Ich bin glücklich.«

Daniel Pomeranz schaltet das Handy aus und gibt es einem Offizier. Soldaten, die in den Gazastreifen ziehen, müssen ihre Handys in Israel lassen.

4.30 Uhr, Sonntag, 20. Juli. Hubschrauber fliegen in der Morgendämmerung über das Haus von Varda und Avi Pomeranz in Kfar Asar, einem Dorf nahe Tel Aviv, 400 Einwohner. Die Hubschrauber sind auf dem Weg zum Krankenhaus Tel Haschomer. Das Geknatter der Rotoren weckt Varda Pomeranz. Sie dreht sich zu ihrem Mann und sagt: »Avi, ich fühle mich unwohl. Das wird kein guter Tag.«

Es ist ungewöhnlich, dass sie solche Gedanken hat. Varda Pomeranz ist 63 Jahre alt, rosa Strähnen im grauen Haar, ihr Lebensmotto ist das halb volle Glas. »Unseren Söhnen sage ich immer: Wenn euch jemand fragt, wie geht’s, sagt immer: Gut. Denn Freunde werden traurig, wenn sie hören, dass es euch nicht gut geht. Und ein Feind freut sich, wenn es dir schlecht geht.« Sie ist überzeugt: »Wenn du lange genug sagst, mir geht’s gut, obwohl du dich schlecht fühlst, dann geht es dir irgendwann auch gut.« Seit dem 20. Juli funktioniert dieses Mantra nicht mehr. Sie sagt: »Wir hatten 21 tolle Jahre mit Daniel.« Dann kommen ihr die Tränen.

Für Varda Pomeranz gibt es kein Alltagsgerüst mehr, es ist ihr entglitten. 25 Jahre lang hat sie die Hinterbliebenen-Abteilung der Armee geleitet. Sie hat sich um Familien gekümmert, deren Söhne getötet, schwer verletzt, entführt oder verkrüppelt worden waren. 25 Jahre lang bestand ihr Alltag aus Trauer, Tränen, Wut, Verzweiflung, Depressionen. In Uniform hat sie an die Türen von Familien geklopft. Wer ihr die Tür öffnete, wusste: Mein Kind ist tot. Schwer verletzt. Entführt. Verkrüppelt. 25 Jahre lang war sie die Botin schlechter Nachrichten. Am 20. Juli hat sie ihre schlechte Nachricht empfangen.

25 Jahre lang war Varda Pomeranz auch die Trösterin der Nation. Hat Familien ins gerichtsmedizinische Institut begleitet, Beerdigungen organisiert, die Schreibweise der Namen der Toten geprüft, Opfern geholfen, Armee-Renten zu beantragen. Und sie hat die Familien an den jüdischen Feiertagen besucht und kein fröhliches Fest gewünscht, sondern ein leichtes. »Für Eltern, die ihren Sohn verloren haben, kann es kein fröhliches Fest mehr geben«, sagt sie.

Ihr Gesicht ist eine Landkarte der Trauer. Wie ausgetrocknet, als hätte sie alle Tränen geweint, die ein Mensch in einem Leben weinen kann. Wenn man sie fragt, ob sie ihren Job weiterempfiehlt, fragt sie zurück: »Einem Freund? Niemals!« Kein Mensch hat Varda Pomeranz je tränenüberströmt in der Öffentlichkeit gesehen. Sie musste das Weinen lernen. »Ich habe nie mit den Familien geheult. Es ist aber vorgekommen, dass ich in meinem Büro stand, mit dem Rücken zur Tür, damit man mich nicht erwischt, wie mir die Tränen in die Augen schießen.«

Es ist 14.01 Uhr am 20. Juli, als es an ihrer Haustür klopft. Drei Soldaten der Hinterbliebenen-Abteilung stehen vor ihrer Haustür, einer beginnt, von einem Zettel in der Hand abzulesen. Varda Pomeranz schüttelt den Kopf und sagt: »Spart euch den Text. Ich weiß Bescheid.« Das ungute Gefühl am Morgen im Bett hat sich bestätigt. Ihr jüngster Sohn Daniel, 21 Jahre alt, Soldat der Golani-Elitetruppe, starb in der Nacht zum 20. Juli zusammen mit sechs anderen Soldaten in einem Nagmasch-Transportpanzer im Gazastreifen. Der Panzer war stecken geblieben, ein leichtes Ziel für die Raketen der Hamas. Daniel hatte keine Chance zu überleben.

Das ist der Trost, den Varda Pomeranz sich spendet: »Dass ich weiß, dass er nicht um Hilfe gerufen hat, dass er nicht geschrien hat vor Schmerzen.« Der Kompanieleiter der Truppe ihres Sohnes stand neben dem Panzer, als die Rakete darauf landete. Er hat Varda Pomeranz gesagt, der Panzer sei sofort explodiert und in Flammen aufgegangen.

Die Fragen all der Mütter und Väter, die Varda Pomeranz 25 Jahre lang beantworten musste, waren immer die gleichen: Hat er gelitten? Wie sehr hat er gelitten? »Ich will mich mit dieser Frage nicht beschäftigen«, sagt Varda Pomeranz. »Ich weiß: Er hat nicht gelitten. Und wenn, nur sehr, sehr kurz.«

Kein Trost ist, dass Daniel Pomeranz und seine sechs Soldatenkumpel in einem vierzig Jahre alten Transportpanzer in den Gazastreifen gefahren sind. Noch während des Krieges gab es eine heftige Debatte in Israel, wie man Soldaten in diesen antiken Transportern in den Gazastreifen schicken konnte. Varda Pomeranz hat sich nicht an dieser Diskussion beteiligt. Sie sagt: »Das bringt mir meinen Sohn nicht zurück.«

Sie zeigt auf ihr Handy. Sie sei »noch ganz im Schock«: Gerade hat sie entdeckt, dass sämtliche Telefongespräche, die sie führt, aufgenommen werden. Sie hat keine Ahnung, warum die Aufnahmen alter Telefongespräche in ihrem Handy gespeichert sind, vielleicht hat einer ihrer Söhne das so eingestellt. Sie setzt sich aufs Sofa, die Kaffeetasse vor sich, und wischt mit dem Zeigefinger über das Telefon, bis sie beim 20. Juli ankommt, beim Gespräch mit ihrem Mann Avi. Seit einer Minute weiß sie da, dass Daniel tot ist. Es ist ein erstaunliches Gespräch.

»Na, wie geht’s?«
»In Ordnung.«
»Wo bist du?«
»Im Büro, wir haben gleich eine Sitzung.«
»Hast du was mit den Tickets für Südamerika erreicht?«
»Nein, ich bin noch nicht dazu gekommen.«
Varda Pomeranz ist in diesem Moment nicht die Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Welche Varda hat da geredet?
»Varda eben. Varda Eisenbeton.«
Sie sagt tatsächlich, auf Deutsch: Eisenbeton.
»Meine Eltern haben mich so genannt.«

Warum sie ihrem Mann nicht am Telefon von Daniels Tod berichtet hat? »Sind Sie wahnsinnig! Das kann man nicht am Telefon sagen. Die Menschen brechen zusammen, können einen Herzinfarkt bekommen. Da muss jemand dabei sein.«
Sie schaut auf das Protokoll ihres Smartphones vom 20. Juli und sagt: »Ich habe an diesem Tag so viele dumme, dumme Telefongespräche geführt.«

Sie spielt noch eines vor. Es ist der zweite Anruf nach der Todesnachricht. Beim Dorf-Supermarkt bestellt sie Einwegbecher, Wasser, Cola, Eiswürfel. Sie weiß, es werden Hunderte Menschen in ihr Haus strömen. Sie möchte nicht, dass ihre Gäste durstig bleiben.

Sie ruft auch ihre Söhne Lior und Elad an. Sie fragt Lior, wann der Arzttermin ist, und Elad, wie lange er heute noch arbeitet. Sie lässt sich nichts anmerken. Lior ist ein bisschen misstrauisch. »Alles in Ordnung?« Sie beruhigt ihn: »Alles in Ordnung.«

Dann ruft sie ihren Bruder an. Sie spielt das Gespräch vor. Es klingelt einmal, noch einmal, dann hebt er ab. Es ist ein herzzerreißendes Gespräch. Varda Pomeranz hält das Smartphone in der Hand und beginnt zu weinen, als sie ihren Bruder am 20. Juli selbst weinen und schluchzen hört. Er weiß bereits, dass Daniel tot ist. Immer wieder sagt er: »At gibora, at gibora, du bist eine Heldin, eine Heldin!« Varda Pomeranz seufzt. Ihre Stimme ist tief, das haben die vier Schachteln Zigaretten angerichtet, die sie bis vor zwei Jahren pro Tag inhaliert hat. Heute knabbert sie auf Zahnstochern herum. Sie wirkt rau, wenn man ihr zum ersten Mal gegenübersteht. Aber das ist eine Fassade. Wie kann ein Mensch 25 Jahre lang anderen Menschen schreckliche Nachrichten überbringen?

Auf Daniels Grab hat Varda Pomeranz Olivenblätter gestreut. »Das ist ein Zeichen für Frieden.« .

Sie knabbert am Zahnstocher. Sie schaut auf den Schreibtisch im Wohnzimmer, auf dem T-Shirts liegen mit Porträtbildern der sieben getöteten Soldaten und ein Berg Zeitungsartikel. »Ich habe mir den Job nicht ausgesucht«, sagt sie. »Der Job hat mich ausgesucht.« Sie habe in all den Jahren gearbeitet, »als gäbe es nichts anderes auf der Welt«. Trösten, beistehen, helfen, »ich war nur für die Hinterbliebenen da. Manchmal habe ich auf dem Boden in meinem Büro im Verteidigungsministerium geschlafen, weil ich keine Zeit hatte, nach Hause zu gehen. Ich habe meine Familie vernachlässigt.« Gekocht hat oft ihre Mutter für die drei Jungs und den Mann zu Hause.

Es ist jetzt gut zwölf Jahre her, dass Varda Pomeranz die Leitung der Hinterbliebenen-Abteilung abgegeben hat. »Genug. Schluss«, sagt sie heute. Sie macht erst einmal: »Nichts.« Dann schreibt sie ein Handbuch, heute Pflichtlektüre für alle, die in der Hinterbliebenen-Abteilung arbeiten. Darin steht: Dass man Hinterbliebene persönlich an der Eingangspforte abholt, wenn sie im Verteidigungsministerium zu Besuch sind, damit sie nicht durch Sicherheitskontrollen müssen. Dass man Hinterbliebenen nicht vorenthält, wie ihr Kind gestorben ist: Ungewissheit ist zermürbend. Und dass es gut ist, wenn Hinterbliebene wieder arbeiten gehen, und Armee-Psychologen deshalb Gespräche nicht mitten in den Tag legen sollen.

Was machen 25 Jahre Trauer und Tod mit einem Menschen? »Ich habe gelernt, mich nicht mit unwichtigen Dingen zu beschäftigen. Ich bin Optimistin geblieben. Wenn es bewölkt ist, sehe ich jeden Sonnenstrahl, der durchdringt.« Auf Daniels Grab hat Varda Pomeranz Olivenblätter gestreut. »Das ist ein Zeichen für Frieden.«

Avi Pomeranz ist von der Arbeit nach Hause gekommen. Er geht hinaus in den Garten und gießt den Rasen. Avi Pomeranz arbeitet für eine deutsche Elektrotechnikfirma. Ein sehr ruhiger Mann. Jetzt setzt er sich an den Gartentisch, holt Mückenspray, die Katze schleicht um seine Beine, und er sagt: »Ich war mir sicher, dass uns so etwas nie passieren wird. Gerade weil Varda tagein, tagaus damit zu tun hatte.« Er setzt sich nun manchmal in das Zimmer von Daniel, schließt die Tür und lässt den Raum auf sich wirken. Betrachtet Daniels Bücher, Fotos, Kleidung. Es ist ein Abschiednehmen.

Abends geht es mit der Erinnerung, sagt Avi Pomeranz, »die Müdigkeit übermannt mich dann. Aber morgens ist es besonders schlimm. Mein erster Gedanke ist: Ich werde Daniel nie wieder sehen.«

Wie es werden soll mit Israel und den Palästinensern? Er hält inne. Schaut auf den nassen Rasen. Er weiß es nicht. »Ich hoffe, dass sie einsehen, dass es mit Raketen nicht weitergehen kann.« Er hat viel über den Tod nachgedacht. »Was uns unterscheidet von der Hamas: Die feiern den Tod. Uns Juden ist nichts wichtiger als das Leben.« Aber eigentlich, sagt Avi Pomeranz, möchte er jetzt nicht über Politik reden. »Ist noch viel zu früh für mich.«

20. Juli, 11 Uhr. Im Radio und im Fernsehen tauchen erste Meldungen auf, dass es im Gazastreifen zu einem schweren Unglück gekommen ist, bei dem viele Golani-Soldaten verletzt wurden. Varda Pomeranz ruft eine Freundin an und sagt: »Komm bitte, das wird ein Scheißtag für unsere Familie.« In all den Jahren bei der Armee hatte Varda Pomeranz immer einen Gedanken, es ist ein fürchterlicher Gedanke für eine Mutter: »Ich wusste, dass einem unserer Söhne etwas zustoßen wird. Es kann einfach nicht sein, dass ich 25 Jahre mit Trauer und Tod verbringe, aber Trauer und Tod an uns vorbeiziehen.«

Ihr Sohn Nimrod ist zu Hause. Varda Pomeranz bittet ihn herauszufinden, wer verletzt wurde. Nimrod recherchiert. Ruft an in der Abteilung für Hinterbliebene, aber dort sagen sie ihm, sie hätten noch keine Informationen. Varda Pomeranz kennt diese Sprachregelung. Noch keine Informationen heißt: Erst müssen die Hinterbliebenen informiert werden.

Nimrod prüft seine WhatsApp-Nachrichten. Bei Unglücken in Israel ist das die Quelle für Gerüchte. Dort tauchen zuerst Namen auf. Es geht auf zwölf Uhr zu, als Nimrod den Namen seines Bruders unter den Toten entdeckt. Varda Pomeranz beginnt, Toiletten zu putzen und zu kochen. »Ich putze nie Toiletten und kochen tue ich auch nie. Aber ich wusste, es werden viele Menschen kommen.« Ihrem Nachfolger in der Hinterbliebenen-Abteilung schickt sie eine SMS: »Ich hoffe, du fällst nicht vom Stuhl, wenn du siehst, dass das hier eine Nachricht von mir ist.« Ihr Nachfolger reagiert nicht. »Da wusste ich: Daniel ist tot.«

Varda Pomeranz steht auf, rührt einen Nescafé an und stellt Kekse auf den Wohnzimmertisch. Sie kann von dem Tag im Juli erzählen, als wäre nicht sie die Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Kühl, gefasst. Sie funk- tioniert. Noch Monate nach Daniels Tod klingelt alle paar Minuten eines von drei Telefonen. Sie ist nicht allein, auch weil sie 25 Jahre lang funktioniert und niemanden allein gelassen hat. In den sieben Tagen, in denen Juden nach einer Beerdigung Schiva sitzen, besuchen Hunderte Freunde und Bekannte Varda und Avi Pomeranz. »Es war ein Irrenhaus«, sagt sie. Es war vor allem auch eine Verneigung vor ihr.

Morgens um acht erschienen in jenen Tagen die ersten Gäste, um Mitternacht verließen die letzten das Haus. Es kamen auch Menschen, die Varda Pomeranz längst vergessen hatte. Einmal, Varda Pomeranz sitzt umringt von Freunden auf dem Sofa, kommt Raya Harnik auf sie zu, eine alte Frau mit Gehstock und erloschenem Gesicht. Als sie die Frau sieht, weint und klagt Varda Pomeranz: »Nein! Nein! Das macht keinen Sinn, dass du zu mir kommst!« Die Umarmung der beiden Frauen will kein Ende nehmen. Es ist die Mutter von Guni Harnik, der im Libanonkrieg 1982 in der Beaufort-Schlacht gefallen war. In Israel gilt er als Held. Avi Pomeranz hat den ergreifenden Moment gefilmt.

Das letzte Mal, als Varda Pomeranz mit ihrem Sohn spricht, hat er die fünf Abschiedszettel an die Familie bereits geschrieben. Er meldet sich noch einmal, bevor er sein Handy abgibt. Varda Pomeranz hebt sofort ab, als sie seine Nummer sieht. Und sie stellt ein Tonbandgerät an. Aus dem Gefühl heraus, dass ihm etwas zustoßen wird.

»Daniel?«
»Ja, ja.«
»Halt durch.«
»Abgemacht. Was wollte ich dir noch sagen? Man hat uns gesagt, wir sollen etwas schreiben an die Familie, für den Fall, dass. Also, ich habe nicht auf Papier geschrieben. Ich habe was in mein Handy geschrieben.«
»Aber wie finden die denn dein Handy?«
»Mein Handy bleibt hier, und die wissen, welches zu wem gehört.«
»Verstehe.«
»Ich sag dir jetzt einfach: Was ich geschrieben habe, befindet sich im Ordner, der ›Zettel‹ heißt.«
»Willst du mir nicht jetzt sagen, was du geschrieben hast?« »Nein, nein, nein. Das ist nur für den Fall, dass.«
»Pass auf dich auf. Es wird nichts passieren.«
»Amen. Amen.«

Am 21. Juli, morgens vor der Beerdigung, das Haus ist voll mit Trauergästen, sitzen Varda, Avi, Nimrod, Lior und Elad Pomeranz beisammen, vor sich Daniels Handy. Niemand weiß, wie sie an den Ordner mit den Zetteln kommen sollen. Das Handy hat einen Code, und niemand kennt ihn. Da hat Varda Pomeranz eine Idee. Sie ruft Daniels beste Freundin an. Die weiß: Der Code ist der Code, mit dem man das Auto der Mutter zum Starten bringt.

Nichts ist unmöglich. Das ist das Prinzip von Varda Pomeranz. Weit hat sie es damit gebracht, sehr weit. Nach ihrem Grundwehrdienst in der Armee wurde sie Chefin sämtlicher Armeereporter, als erste Frau auf diesem Posten. Sie reiste mit Männern an die Front und zu Einsatzgebieten, sie arbeitete mit Premierministern, Verteidigungsministern und Armeechefs zusammen. Bis heute ist sie bis in die Spitzen des Staates vernetzt. »Ich wollte schon immer zeigen, dass ich alles machen kann, was Männer auch können.« Den Willen dazu habe ihre Mutter gesät. »Ich bin in einem Elternhaus aufgewachsen, wo klar war: Einer Frau steht die Welt offen wie Männern. Den Eisenbeton habe ich von meiner Mutter bekommen.«

Die Nachricht von Daniels Tod verbreitet sich schnell. Varda Pomeranz ist keine Minute mehr allein. Zwei Fragen beherrschen jedes Gespräch: Wo ist Daniels Handy? Und: Wo wird Daniel begraben? Für Varda Pomeranz kommt nur ein Ort in Frage: Kfar Asar, hinter dem Synagogenhaus. Doch in Kfar Asar gibt es seit achtzig Jahren keinen Friedhof mehr, und für eine Beerdigung braucht man eine Genehmigung. Varda Pomeranz beginnt zu telefonieren. Ihr jüngster Sohn ist für immer von ihr gegangen, sie will jetzt, dass er für immer in ihrer Nähe ist.

Man sagt ihr: Nein, das geht nicht. Sie können Ihren Sohn nicht in Kfar Asar begraben. Aber Varda Pomeranz sagt den Ämtern: »Ohne mich könnt ihr meinen Sohn nicht begraben. Dann bleibt er eben so lange im Kühlschrank bei euch.«

Sie organisiert Männer, die hinter der Synagoge ein Grab schaufeln und die Wände mit Zement einfassen, sie organisiert Zypressen, die Schatten spenden sollen, Stühle für Trauergäste, die nicht stehen können, und sie organisiert Dutzende Männer, die, als die Nacht längst angebrochen ist, stundenlang im Licht des Mondes um das Grab herumlaufen, um den Ort zu weihen.

Am nächsten Abend kommen Hunderte Menschen zu Daniels Beerdigung. Unter den Gästen erblickt Varda Pomeranz einen jungen Mann im Rollstuhl, die Beine schwer verwundet. Sie geht auf ihn zu, der junge Mann fürchtet die Wut von Varda Pomeranz. Sie aber umarmt ihn, küsst ihn. Es ist Daniels Kommandant, der sein Krankenhausbett verlassen hat. Als der Transportpanzer stecken blieb, stieg er zusammen mit einem anderen Soldaten aus, um zu schauen, wie das Gefährt abgeschleppt werden kann. Das war der Moment, in dem die Rakete den Transportpanzer traf. Jetzt steht Varda Pomeranz vor dem Kommandanten und sagt: »Ich bin stolz auf dich, Daniel hat dich bewundert. Danke, dass du gekommen bist.«

Sie geht immer noch jeden Tag an Daniels Grab, auch an diesem Sonntagnachmittag. Sie setzt sich einen Hut auf gegen die Sonne, läuft an den palästinensischen Bauarbeitern vorbei, die eine Straße asphaltieren, wünscht ihnen einen guten Tag. Dann steht sie vor Daniels Grab, Zahnstocher im Mundwinkel, wischt Staub weg, entfernt vertrocknete Blüten, zündet eine Kerze an. »Ich muss aufpassen, dass ich nicht zu oft ans Grab komme, sonst gewöhnt sich Daniel noch daran und verlangt womöglich das nächste Mal, dass ich ihm was zu essen mitbringe.«

Sie lacht.
Heute Abend wird sie ins Fußballstadion gehen, zusammen mit ihrem Mann und den drei Söhnen. Fußball interessiert sie nicht, aber es wird eine Schweigeminute dort geben. Hapoel Tel Aviv spielt, Daniel war Fan von Hapoel Tel Aviv. »Ich weiß, dass Daniel gewollt hätte, dass ich da hingehe.«

Auf dem Weg zurück nach Hause ruft sie die Pfadfinder an: Sie sollen das Plakat am Ortseingang abhängen, mit dem sie die vergangenen Wochen an Daniel erinnert haben. Sie braucht das Plakat, sagt sie, »mein ganzes Leben lang brauche ich das Plakat jetzt«. Es soll an jedem 13. September nachts in der Wüste hängen. »Mama«, hat Daniel in seinem Zettel an die Mutter geschrieben, »ich will, dass Ihr jedes Jahr an meinem Geburtstag in der Wüste eine Trance-Party veranstaltet und tanzt. Ihr sollt fröhlich sein und Spaß haben.«

Fotos: Jonas Opperskalski